Insel Møn: Alle Achtung, ein Haifischzahn
Møns Klint, die Steilküste der dänischen Insel, lockt Schatzsucher. Dort gibt es Fossilien in Hülle und Fülle. Irgendetwas findet sich immer, sagt ein Experte.
Hat da jemand seine Kontaktlinsen verloren? Wurde Gold gefunden? Oder unternimmt die philosophische Fakultät der Uni Kopenhagen ihren Betriebsausflug auf der dänischen Insel Møn? Den Kopf nach unten, die Augen zu Boden gerichtet, wandern Grüppchen von Menschen auf dem schmalen, kiesigen Streifen zwischen Meer und Steilküste entlang. Manchmal geht einer in die Knie, wühlt im Geröll, hebt etwas auf, betrachtet es – und wirft es wieder weg. Dann aber ist es so weit. „Hej“, schreit einer, und zeigt seinen Fund dem Mann, der neben ihm an der Wasserlinie geht. „Galerites vulgaris“, sagt der nach einem kurzen Blick. „Ein versteinerter Seeigel, recht gut erhalten und schön gezeichnet. Ist aber nichts Außergewöhnliches. Wenn du einen mit vier oder sechs Segmenten findest, sag’ wieder Bescheid.“ Unter 200 000 Exemplaren kommt der nämlich nur einmal vor.
Der Mann muss es wissen. Hans Henrik Meyer ist einer der 50 Führer des Geocenter Møns Klint und wirkt mit seinen 56 Jahren verblüffend jugendlich. Bereits als Sechsjähriger hat er seine erste versteinerte Muschel aufgelesen. Seitdem ist seine Fossiliensammlung stetig gewachsen. Bis auf zusammengerechnet unglaubliche 22 Tonnen ist sie bis heute gewachsen. Und er selbst hat sich längst einen Namen als Spezialist für versteinertes Holz und Haifischzähne gemacht.
Møns Klint, der spektakulärste Teil der Ostküste der dänischen Insel Møn, ist sechs Kilometer lang und bis zu 128 Meter hoch. Knapp 500 Stufen führen an mehreren Stellen hinunter zum Meer – nicht uninteressant, dass der Lokalmatador unter den Treppenläufern sie in knapp dreieinhalb Minuten emporsprintet. Der Strand am Fuß der blendend weißen Kreidefelsen gilt als der Ort, an dem jeder, aber auch wirklich jeder fündig wird, der einmal Fossilien entdecken will. „Irgendetwas findet man immer“, behauptet der Führer. Überreste von Korallen liegen im Geröll, Teilstückchen von Seelilien und Schwämmen und vor allem Donnerkeile. Letztere erinnern an bernsteinfarbene Gewehrpatronen aus Glas oder Ton und befanden sich einst im hinteren Teil von Tintenfischen. In den Röhren aus Kalzit verliefen die Nervenbahnen des Fisches.
Welche Wunderdinge sonst noch auf Møn entdeckt wurden und werden und wie es dazu kam, erfährt der Besucher eindrucksvoll im 2006 eröffneten, multimedialen Erlebniscenter. Schritt für Schritt geht es hinunter in den Keller und 70 Millionen Jahre zurück in die Vergangenheit.
3-D-Kino mit „Meeresmonstern“
Zu jener Zeit erstreckte sich hier weithin das Kreidemeer – und schon steht der Besucher am Grunde genau jener See. Und mittendrin im Kampf ums Dasein: Ein gigantischer Krake gleitet über die Wand, von wer-weiß-woher schießt plötzlich ein mächtiger Meeressaurier heran, schnappt sich mit nadelspitzen Zähnen den Tintenfisch – und umwabert von einer schwarzen Wolke taumeln ein paar abgebissene Fangarme zu Boden. Der schnelle Räuber, Mesosaurus hoffmannii, hängt zudem als zehn Meter langes Modell über den Besuchern und zeigt – schön erschreckend – im roten Licht die Reihen seiner scharfen Beißwerkzeuge.
An der anderen Seite der Wand rieseln ununterbrochen winzige weiße Plättchen nieder. Es sind die Überreste der Coccolithen, mikroskopisch kleines (maximal 0,01 Millimeter großes) scheibenförmiges Plankton aus Kalk. Starben die algenartigen Gebilde ab, sanken sie zu Boden, und nach 10 000 Jahren war der eine Handbreit gewachsen. Bis zu einer Dicke von mehr als zwei Kilometern türmte sich diese Kreideschicht im Lauf von 80 Millionen Jahren auf.
In einer Vitrine liegen neben Seeigeln, Donnerkeilen und Seelilien auch Überreste von Seesternen, Moostierchen, Korallen und Amoniten, die alle auf Møn gefunden wurden. An einem Modell erfährt der Besucher, wie vor 12 000 Jahren Eis aus dem Norden den kreidigen Meeresboden zusammenschob, faltete und an die Oberfläche drückte – wo er heute noch in seiner ganzen weißen Pracht zu bewundern ist.
Es gibt auch ein 3-D-Kino mit „Meeresmonstern“, einen Gang durch einen Gletscher und eine Kletterhöhle. Und seit Juni vergangenen Jahres zeigt eine Sonderausstellung Fotos, Filme und Funde von einer Expedition des Geocenters nach Grönland. Neben Teilen verschiedener Skelette watscheln, planschen und flattern die dazugehörigen Saurier über den Bildschirm. Und im obersten Stockwerk, wo sich das komplette Gerüst eines Plateosaurus erhebt, flüchtet sich zu Urzeitblitz und Tropendonner der pflanzenfressende Tolpatsch vor ein paar Angreifern ins flache Wasser – und wird dort von einem riesigen Krokodil gerissen.
Keiner geht leer aus
Draußen, im Heute, herrscht so etwas wie Dänemark-Idylle. Die Landschaft mit ihren sanft rollenden Hügeln, den Rübenäckern, Wiesen und Waldstreifen ist geradezu untypisch abwechslungsreich. Stockrosen blühen vor ockerfarbenen Häusern, auf der tintenblauen See dümpeln weiße Boote. Schloss Lieselund liegt nur ein paar hundert Meter vom Kliff entfernt. Eine Schlucht, ein Wasserfall und kleine Seen ahmen ungezähmte, ursprüngliche Natur nach – und wurden doch exakt so am Ende des 18. Jahrhunderts als englischer Park angelegt.
Auch architektonisch haben die Erbauer, Antoine und Lisa Calmette, sich einiges gegönnt: Im chinesischen Pavillon stehen Möbel aus nachgemachtem Bambus, mächtige Fichten bewachen die düstere norwegische Blockhütte, selbst die Toiletten sind aus Naturstein gemauert und tragen runde dänische Strohdächer. Das Schlösschen selbst, ebenfalls mit Reetdach, Gauben und kleinem Turm versehen, wirkt bescheiden und sympathisch unaufgeregt.
120 Hünengräber sind über die 231 Quadratkilometer große Insel verteilt. Es gibt zahlreiche Galerien mit dänischen Glasmobiles, dänischen Keramikbechern und dänischen Kerzen. Ein Sammlermuseum vereinigt alles, was jahrzehntelang auf Dachböden vor sich hin dämmerte, im Bauernmuseum dengeln Freizeitbauern Sensen und laden Stroh mit der Gabel auf. In der Bonbonwerkstatt im Hauptort Stege zieht und dreht und zwirbelt ein junger Mann in dänisch weiß-rotem Outfit seidige weiß-rote Zuckerstränge. Und am Ende purzeln „Bolcher“ auf die Bleche, Bonbons in rotem Mantel – deren Inneres, versteht sich, die weiß-rote Flagge zeigt.
Trotzdem bleibt für die meisten Besucher die reale Welt am Fuße des Kliffs spannender als die virtuelle unter Dach. So gleißend weiß, dass sie bei Sonnenschein in den Augen schmerzen, ragen die Kreidewände hoch. Wellenförmig zeichnen sich einzelne Schichten darin ab, und in Abständen sind wie schwarze Perlen einer Kette die Einsprengsel von Feuerstein eingelassen. „Sie entstanden aus Kieselschwämmen“, erklärt Hans Henrik Meyer. „Aber wie es genau vor sich ging, weiß noch niemand.“ Wahrscheinlich starben die Schwämme ab, verfaulten und verflüssigten sich. Dann füllten sie die Hohlräume im Kreidegrund darunter und erstarrten. Ein Seeigel-Fossil ist somit der Ausguss eines Seeigel-Gehäuses. „Und wenn ein Feuerstein einer Zuckerrübe oder einem Transistorradio ähnelt, lagen da weder Rübe noch Radio, sondern die Hohlräume hatten zufällig diese Form“, weiß Meyer.
Diese Sammlung wird nie fertig
So sind denn auch die Haken aus schwarzem Stein, auf die man allenthalben stößt, keine versteinerten Hörner oder Klauen von Seeungeheuern, sondern die Ausgüsse von Abdrücken, die Krebse bei ihren Spaziergängen im schlickigen Grund hinterlassen haben.
Allzu viele Versteinerungen finden sich an diesem sonnigen Nachmittag nicht – dafür sind zu viele Touristen unterwegs. Aber die See sorgt immer wieder für Nachschub und spült aus der Tiefe neues Material heran.
Auch das Kliff gibt ab und zu seine Schätze frei. 2007 etwa brach ein 500 Meter hoher, 300 Meter breiter Kreidebrocken von 500 000 Tonnen Gewicht ab und fiel ins Meer. „Kurz danach war ich mit meiner Frau dort unterwegs“, erzählt Hans Henrik. „In einer knappen Stunde haben wir dann 4000 Donnerkeile gesammelt.“
Und was reizt einen Mann von Mitte 50, der bereits jetzt nicht mehr weiß, wohin er zu Hause seine 22 Tonnen Steine packen soll, immer noch wie ein leicht hypnotisiertes Kind am Strand entlangzuschlendern und einen Korridor von 60 Zentimeter Breite gewissenhaft nach bestimmten Formen abzuscannen? „Das Spannende ist, dass diese Sammlung nie fertig wird“, sagt der Däne mit dem trockenen Humor und lacht.
„Wenn du Briefmarken sammelst und genügend Geld hast, hast du irgendwann dein Gebiet komplett. Bei Fossilien hingegen kann jedoch immer noch etwas Größeres, Selteneres, ja sogar Noch-nie-Gesehenes zum Vorschein kommen.“
Und die Scharen von Amateuren, die jetzt wieder tagtäglich unterwegs sind, was treibt sie wohl an? „Wir waren alle Jäger und Sammler“, sagt Hans Henrik. „Mit dem Jagen ist es für die meisten von uns vorbei. Aber das Sammler-Gen – das können wir glücklicherweise noch ausleben.“ Und irgendetwas findet sich ja immer.
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