Viele Berliner Lehrkräfte unsicher bei LGBTI-Themen: Sexuelle Vielfalt - im Unterricht eher ignoriert
"Schwuchtel" ist ein gängiges Schimpfwort unter Jugendlichen. Doch im Unterricht wird das Thema sexuelle Vielfalt noch immer kaum behandelt, zeigt eine Studie.
„Die gibt es hier nicht.“ So oder so ähnlich reagieren Lehrkräfte an Berliner Schulen noch immer allzu häufig, wenn sie auf die Situation von queeren Jugendlichen an ihrer Einrichtung angesprochen werden – also auf lesbische, schwule, bisexuelle und trans Teenager.
Dass „Schwuchtel“ oder „Transe“ auf Schulhöfen zu den am häufigsten verwendeten Schimpfwörtern gehören, mag den meisten Lehrkräften zwar bewusst sein. Doch dass von solchen Ausgrenzungen tatsächlich Schülerinnen und Schüler der eigenen Klasse persönlich betroffen sein könnten, kommt ihnen offenbar weniger in den Sinn.
Nur 38 Prozent wissen von offen queeren Jugendlichen an der eigenen Schule
Das ergibt eine Studie der Humboldt-Universität und der Sigmund-Freud-Universität zu der Frage, wie Lehrkräfte an Berliner Schulen die Lage von queeren Jugendlichen wahrnehmen und wie sie und ihre Schule mit dem Thema umgehen.
In der Studie wird zum Beispiel eine Fachkraft aus einem Aufklärungsprojekt zitiert: Deren Angebot, Jugendliche über sexuelle Vielfalt zu informieren, sei mehrfach genau mit diesen Worten „nee, die haben wir hier nicht“ abgelehnt worden.
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Befragt wurden für die Studie im Jahr 2017 insgesamt 566 Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte, die zufällig aus allen Bezirken und Schularten ausgewählt wurden. Auftraggeber war die Senatsschulverwaltung, die damals durch einen Beschluss des Abgeordnetenhauses dazu aufgefordert wurde. Die Ergebnisse liegen dem Tagesspiegel exklusiv vor.
Nur 38 Prozent sagen demnach, dass sie von offen lesbisch, schwulen oder bisexuellen Jugendlichen an ihrer Schule wissen. Bei trans und inter Teenagern liegen die Werte nochmals deutlich darunter (24 beziehungsweise fünf Prozent).
Sexuelle Vielfalt wird an den Schulen nicht immer ernst genommen
Für Studienleiter Ulrich Klocke, Psychologe an der HU, ist das ein überraschend niedriger Anteil: „Ich hätte gedacht, dass es an allen Schulen offen queere Jugendliche gibt.“ Der Wert sei ein Zeichen dafür, dass es eben doch nur sehr wenige Jugendliche wagen würden, sich an der Schule zu outen.
Auch sonst weisen die Befunde darauf hin, dass das Diversitätsmerkmal sexuelle und geschlechtliche Identität in den Schulen weniger ernst genommen werden als andere, etwa Behinderungen und Beeinträchtigungen oder ethnische Herkunft.
Die Lehrkräfte bräuchten hier vor allem „konkretes Handlungswissen“, sagt Klocke: „Sie engagieren sich mehr, wenn sie wissen, wie sie konkret gegen Diskriminierung vorgehen können, wo sie geeignete Materialien finden.“
Hier die wichtigsten Ergebnisse der Studie im Überblick (hier die ganze Studie im Überblick).
Wie queere Jugendliche Schule erleben
Ein bitteres Ergebnis: Homosexualität und Transgeschlechtlichkeit begegnen Schülerinnen und Schülern noch immer vor allem, wenn Begriffe wie „schwul“, „Lesbe“ oder „Transe“ als Schimpfwort fallen. Diese Rückschlüsse lassen sich aus den Antworten der Lehrkräfte über die Situation an ihrer Schule ziehen.
96 Prozent sagen, dass sie diese oder ähnliche Beschimpfungen erlebt hätten, 54 Prozent bekommen das mehrfach im Monat mit, 25 Prozent mehrmals in der Woche. 59 Prozent berichten über feindseliges Verhalten gegenüber Schülerinnen und Schülern, die queer sind oder dafür gehalten werden.
Wenn Schimpfwörter fallen, reagiert allerdings nur ein Drittel der Befragten in jedem Fall. Zwei Drittel schreiten dagegen nach ihren eigenen Angaben immer ein, wenn Schülerinnen und Schüler ausgegrenzt werden, weil sie queer sind oder für queer gehalten werden; noch einmal häufiger bei körperlichen Attacken, bei denen 80 Prozent angeben, in jedem Fall einzuschreiten.
Wann Schimpfwörter als diskriminierend wahrgenommen werden
Wie lässt sich diese Diskrepanz erklären? Klocke denkt, dass viele Lehrkräfte Schimpfwörter erst dann als diskriminierend wahrnehmen, wenn auch tatsächlich ein Opfer – sprich: ein queerer Jugendlicher – im Raum ist.
„Ansonsten gilt die Haltung: Wenn sich niemand verletzt fühlt, ist es auch kein Problem.“ Dass so wenige Lehrkräfte von queeren Jugendlichen an ihrer Schule wissen, habe hier fatale Folgen. Vielen Lehrkräften sei offenbar ebenso nicht bewusst, dass solche Schimpfworte und Verächtlichmachungen das Schulklima verschlechtern – umso mehr, als es bei Ausdrücken wie „Schwuchtel“ wie auch „Kanake“ oder „Spast“ um ganz bestimmte soziale Gruppen geht, die Ablehnung der Zuhörenden gegenüber diesen Gruppen so verstärkt wird.
Was Lehrkräfte (nicht) wissen
Den meisten Menschen, die homo-, bisexuell oder trans sind, wird das bis zum Alter von 15 Jahren und teils auch schon deutlich früher bewusst, man spricht hier von dem „inneren Coming Out“. Viele queere Jugendliche haben wegen des großen sozialen Drucks ein erhöhtes Suizidrisiko.
Doch zwei Drittel der befragten Lehrkräfte wissen all das eben nicht. Dass sie Coming Out-Prozesse eher ins Erwachsenenalter „verlegen“, könnte auch erklären, weshalb sie es sich kaum bewusst macht, dass es auch in ihrer Schule queere Jugendliche gibt.
Auch bei den Themen Transgender und Intersexualität sind die Lücken groß. Die richtigen Definitionen kann nicht einmal die Hälfte identifizieren, wenn fünf verschiedene Erklärungen vorgelegt werden. Insgesamt sagen gleichwohl 48 Prozent, sie wüssten sehr oder ziemlich gut über sexuelle Vielfalt Bescheid. Dagegen erklären nur 27 Prozent, sie könnten bei Diskriminierungen von queeren Jugendlichen angemessen intervenieren.
Wie im Unterricht mit sexueller Vielfalt umgegangen wird
Vielsagend ist eine offene Frage, die den Lehrkräften ganz am Anfang des Fragebogens gestellt wurde, den sie für die Studie ausfüllen mussten. Sie sollten Vielfaltsmerkmale nennen, die für die pädagogische Arbeit relevant sind.
Nur 13 Prozent nannten dabei sexuelle Orientierung, ein Prozent Geschlechts-Nonkonformität (zum Vergleich: „geistige Fähigkeiten oder Einschränkungen“ wurden von 59 Prozent, ethnische Herkunft, Hautfarbe beziehungsweise Nationalität von 54 Prozent erwähnt).
Worauf Lehrkräfte achten
Tatsächlich wird sexuelle Vielfalt eher selten im Unterricht thematisiert. 61 Prozent sagen, sie würden nie Materialien oder Beispiele nutzen, in denen Personen unterschiedlicher sexueller Orientierungen vorkommen.
Drei Viertel achten bei eigenen Äußerungen nie darauf, dass Menschen nicht zwangsläufig heterosexuell sind – indem sie etwa automatisch annehmen, eine Person sei mit einem Menschen des anderen Geschlechts liiert. Nur eine von zehn Lehrkräften hat schon einmal in der Schule ein Poster aufgehängt oder Flyer verteilt, die auf sexuelle Vielfalt aufmerksam machen.
Auffällig ist der Studie zufolge: Vor allem Lehrkräfte aus gesellschaftlich orientierten Fächern wie Ethik, Religion, Politik oder Sozialkunde sowie Biologie fühlen sich dafür zuständig, sexuelle und geschlechtliche Vielfalt im Unterricht zu berücksichtigen – sei es als Schwerpunkt oder nebenbei.
Sie greifen auch häufiger bei Diskriminierungen ein. Hier könnte eine Rolle spielen, dass das Thema in den entsprechenden Lehrplänen eher verankert ist, die Lehrkräfte also dadurch sensibilisiert werden, sagt Klocke.
Was helfen könnte
Die Studie gibt einen eindeutigen Hinweis: Je mehr queere Menschen eine Lehrkraft im eigenen Bekanntenkreis hat, desto häufiger behandelt sie Homo- und Transsexualität sowie Geschlechts-Nonkonformität im Unterricht.
Nun ist das ein Faktor, der sich schlecht steuern lässt. Was Schulverwaltung und Schulleitungen aber machen könnten: Deutlich kommunizieren, dass queere Lehrkräfte explizit unterstützt werden, wenn sie sich im Kollegium outen, sagt Klocke. „Schulleitungen und Verwaltung können beeinflussen, dass Kolleg*innen offener mit ihrer sexuellen Identität umgehen, was ein Klima der Akzeptanz verstärkt.“
Wie es um Fortbildungen und Leitbilder steht
Ansonsten könne man aus dem Befund vor allem folgende Ableitung ziehen: „Die Offenheit jeder queeren Person verbessert die Situation von Jugendlichen – gerade wenn man im eigenen Umfeld Erzieherinnen und Lehrkräfte hat.“
Die Forscherinnen und Forscher empfehlen zudem dringend, Lehrkräfte besser fortzubilden und ihnen mehr Unterrichtsmaterial an die Hand zu geben, das Personen in diversen Konstellationen berücksichtigt. Dass hier eine große Lücke besteht, zeigt die Studie ebenfalls: Nur 23 Prozent der befragten Lehrkräfte sagen, ihnen würden entsprechende Materialien ausreichend zur Verfügung stehen.
Klocke nennt ein Beispiel, wie es selbst in Mathematik gelingen kann, Homosexualität und den gesellschaftlichen Umgang damit zu thematisieren. Wenn es um den berühmten Mathematiker Alan Turing gehe, der den Enigma-Code der Nazis knackte, könnten Lehrkräfte erwähnen, dass Turing wegen seines Schwulseins im Großbritannien der 1950er Jahre verfolgt wurde.
Und was ist mit Leitbildern? Oder Kontaktpersonen für Diversity, die in Berlin an jeder Schule eingeführt wurden? Bei letzteren spricht die Studie von „vorsichtigem Optimismus“: Sie könnten tatsächlich etwas bewirken, auch wenn Fachkräfte berichten, es sei manchmal schwierig Kolleginnen und Kollegen zu finden, die diese Aufgabe übernehmen.
Und auch Leitbilder könnten helfen, sagt Klocke, wenn sie denn bekannt sind und darin viele Vielfaltsdimensionen explizit erwähnt werden. Die Studie macht auf einen kuriosen Effekt aufmerksam: Lehrkräfte sind selbst dann aufmerksamer bei dem Thema sexuelle Vielfalt, wenn sie nur von einem entsprechenden Konzept gegen solche Diskriminierungen ausgehen– in der Realität die Schule aber gar nicht über ein solches Leitbild verfügt.