Proteste der "Demo für alle": Moral-Panik gegen Sexualkunde
Die „Demo für Alle“ will die Reform der schulischen Sexualerziehung verhindern. Sie kämpft gegen Lehrpläne, die die Akzeptanz von Vielfalt fördern wollen - jetzt auch in Hessen.
Es klingt apokalyptisch: „Die staatlich-obligatorische Sexualisierung unserer Kinder zerstört für immer die Scham, ruiniert die Menschen und somit unser Volk“, heißt es auf einem selbst gebastelten Plakat, das ein älterer Herr auf seinem Rücken trägt. Ein paar Meter weiter steht Hedwig von Beverfoerde auf der Ladefläche eines Lastwagens, dahinter prangt das Logo ihres Aktionsbündnisses: Die Umrisse sollen offenbar eine Familie darstellen, mit Vater, Mutter, Sohn und Tochter. Das Mädchen und die Frau tragen lange Haare und Röcke, der Junge und der Mann kurze Haare und Hosen. Es ist der Prototyp einer Familie, wie Beverfoerde und ihre Anhänger ihn sich vorstellen. Eine Familienkonzeption, die tausende Menschen offenbar bedroht sehen.
Beverfoerde gilt als Hauptinitiatorin der „Demo für Alle“. Das Aktionsbündnis ist Teil einer Bewegung, die seit mehreren Jahren gegen eine angebliche „Frühsexualisierung von Kindern“, den Feminismus und die „Homo-Lobby“ mobil macht. Das Thema eint konservative CDU-Anhänger, christliche Fundamentalisten, Rechtspopulisten von der AfD und handfeste Neonazis. Ihr gemeinsamer Hauptfeind ist der „Gender-Wahnsinn“. Mit dem englischen Begriff „gender“ werden in der sozialwissenschaftlichen Forschung in Abgrenzung zum biologischen Geschlecht die gesellschaftlich geformten Geschlechtseigenschaften beschrieben – also zum Beispiel Vorstellungen darüber, was typisch männlich oder weiblich sei. In der Dekonstruktion dieser angeblich natürlichen Geschlechtlichkeit sehen die Gegner der Gender-Forschung eine „Indoktrination“ und einen „Angriff auf Ehe und Familie“.
Proteste auch in Hamburg, Sachsen und Baden-Württemberg
In mehreren Bundesländern gab es bereits Aktionen der Gruppierungen. Hintergrund waren meist die Bestrebungen der jeweiligen Landesregierungen, die zum Teil veralteten Lehrpläne für den Sexualkundeunterricht an die gesellschaftlichen Realitäten anzupassen. Auf diese Weise sollte unter den Schülerinnen und Schülern die Akzeptanz für verschiedene sexuelle Orientierungen und geschlechtliche Identitäten gestärkt werden. Proteste wie aktuell in Hessen waren zuvor in Hamburg, Sachsen, Nordrhein-Westfalen und Bayern organisiert worden.
Die heftigsten Auseinandersetzungen hatte es indes in Baden-Württemberg gegeben. Nachdem ein internes Arbeitspapier zur Reform des Bildungsplans Ende 2013 öffentlich geworden war, sah sich die damalige grün-rote Landesregierung einem massiven Gegenwind ausgesetzt. Eine Petition gegen das Vorhaben unterschrieben fast 200 000 Menschen, die „Demo für Alle“ organisierte mehrere Protestkundgebungen mit tausenden Teilnehmern. Schließlich knickte die Landesregierung ein. Sie zog ihren Entwurf zurück und kündigte eine Überarbeitung des Papiers an. Mittlerweile ist der Bildungsplan in einer deutlich abgeschwächten Version in Kraft getreten.
Die katholische Kirche hat sich bei der Abstimmung enthalten
Unlängst ist die „Demo für Alle“ nun auch in Wiesbaden auf die Straße gegangen. In Hessen regiert Schwarz-Grün. Das – wohlgemerkt CDU-geführte – Kultusministerium habe zu Beginn des Schuljahres „still und heimlich“ einen „radikalen Sexualerziehungs-Lehrplan erlassen“ – so jedenfalls steht es im Aufruf der Demo. Ein Ministeriumssprecher kann den Vorwurf der Geheimniskrämerei nicht nachvollziehen. Es sei „völlig üblich“, dass Lehrpläne im Rahmen eines Beteiligungsverfahrens abgestimmt und anschließend erlassen würden, „ohne dass wir deshalb extra eine Pressekonferenz veranstalten“. Außerdem widerspricht er der Behauptung des Bündnisses, dass der Lehrplan „gegen das Votum der katholischen Kirche“ durchgesetzt worden sei. Die katholische Kirche habe sich vielmehr bei der Abstimmung enthalten.
Der neue Lehrplan für Hessen möchte die „Gleichberechtigung von Frauen und Männern in allen Lebensbereichen“ fördern, auf die „sexuelle Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen“ hinweisen und für die „Akzeptanz von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans- und intersexuellen Menschen“ werben. Die Veranstalter der „Demo für Alle“ kritisierten an dem Papier unter anderem, dass bei Grundschülern das Thema „kindliches Sexualverhalten“ auf der Agenda stehe. Was damit gemeint ist, wird im Lehrplan folgendermaßen präzisiert: „ich mag mich, ich mag dich“. Es geht also darum, Themen wie Körper, Emotionen, Freundschaft oder Familienbeziehungen altersgerecht zu vermitteln. Dieser Zusatz fehlt in der Darstellung der Gegner des Lehrplans. Man vertraut offenbar lieber auf die Assoziation der immer wieder wahrheitswidrig postulierten Behauptung, dass Kinder zukünftig in der Grundschule mit Pornografie oder Sexspielzeug konfrontiert würden.
Massive Anfeindung in sozialen Netzwerken
Nicht selten gleiten die Argumentationen ins Verschwörungstheoretische ab: „In den Augen der Strippenzieher an der Gender-Front stören Eltern nur noch bei der Umformung ihrer Kinder zum neuen Menschen“, heißt es etwa bei Birgit Kelle, einer bekannten Autorin des antifeministischen Milieus. Es bedarf schon einiger Fantasie, um in der pädagogischen Vermittlung von Akzeptanz für sexuelle Vielfalt die Schaffung eines „neuen Menschen“ erblicken zu können.
Die Härte, mit der die Debatte geführt wird, bekam auch Elisabeth Tuider zu spüren. Die Kasseler Soziologie-Professorin hatte zusammen mit einigen Kolleginnen und Kollegen ein Buch herausgegeben, das didaktische Anregungen für die Vermittlung sexualpädagogisch relevanter Themen bereithielt. Aus den Reihen der „Gender-Gegner“ wurde sie in den sozialen Netzwerken deshalb massiv angefeindet und bedroht. „Noch vor 30 Jahren hätte man so eine Alte in den Knast gesteckt und sie so lange dort behalten, bis sie verrottet wäre“, schrieb etwa der rechtspopulistische Publizist Akif Pirinçci auf Facebook.
Tuider sagt, die Sexualität fungiere in diesen Kreisen als Chiffre, als diskursives Terrain, auf dem verschiedene Machtkämpfe ausgetragen würden. „Im Kern geht es um bürgerliche Lebensvorstellungen, die in einer Welt mit schwankendem Boden verteidigt werden sollen“, sagt die Soziologin. „Sexualität ist also das Feld, auf das Ängste projiziert werden, um die vermeintlich verloren gegangene Moral wieder herzustellen.“ Der Bereich der Sexualität stünde historisch betrachtet immer wieder „im Zentrum von Moral-Paniken“. Neu sei die Vehemenz, mit der diese Angriffe ausgetragen würden.
Christdemokraten in Hessen verteidigen den Lehrplan
Vonseiten der Kritiker der Lehrpläne ist immer wieder zu hören, dass die Reform der Sexualerziehung gegen das im Grundgesetz verankerte Elternrecht verstoße. Das Bundesverwaltungsgericht entschied allerdings bereits im Jahre 1977 in einem Grundsatzurteil zugunsten der schulischen Sexualaufklärung. Die Wissensvermittlung müsse aber sachlich erfolgen und „ohne dass dabei bestimmte Normen aufgestellt oder Empfehlungen für das sexuelle Verhalten der Kinder gegeben würden“. Streng genommen passiert aber genau das seit Jahrzehnten, wenn man sich anschaut, welche Vorstellungen von Familie in deutschen Schulbüchern tradiert werden: Vater, Mutter, Kind. Diese heterosexuelle Norm zu durchbrechen, deutlich zu machen, dass sexuelle Orientierungen, geschlechtliche Identitäten und Familienkonstellationen im 21. Jahrhundert unterschiedlich aussehen können, genau diese Ziele werden mit der Reform der Lehrpläne verfolgt.
Aus diesem Grund begrüßt auch Mareike Klauenflügel von der „AG LesBiSchwule Lehrer_innen“ der GEW die Überarbeitung. Die Oberstudienrätin weist darauf hin, dass sich viele Jugendliche ihrer sexuellen Orientierung während der Schulzeit bewusst werden. Deshalb sei es wichtig, dass sich die Schülerinnen und Schüler gerade in dieser Zeit im Unterricht angenommen und akzeptiert fühlten.
Die Christdemokraten in Hessen haben unterdessen auf die Kritik der „Demo für Alle“ reagiert und den Lehrplan verteidigt. „Unsere Bildungspolitik orientiert sich am Wohle der Kinder“, sagt Armin Schwarz, bildungspolitischer Sprecher der Fraktion im Landtag. Der Auftrag der schulischen Bildung umfasse eben, „die „Auswirkungen von Sexualität auf die Gesellschaft“ zu vermitteln – und wissenschaftlich fundierte Sexualkunde.
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Jonas Fedders