zum Hauptinhalt
John Grant nahm 2010 sein Solodebüt auf. Damit wurde er zum Liebling der Kritik. Auf den beiden Nachfolgern kombinierte er klassisches Songwriting mit elektronischen Instrumenten. Zu seinen Fans zählen Elton John und Sinead O’Connor.
© Michael Berman/Promo

Sänger John Grant über seine Krisen: "Ich war ein selbstsüchtiger Arsch"

Panikattacken, Koks und Syphilis: Mit Mitte 30 dachte der US-Sänger John Grant, er würde sterben. Doch dann zog er sich aus dem Schlamassel. Hier erzählt er, wie ihm das gelang. Ein Protokoll.

Es war im Mai vor elf Jahren, als ich beschloss, ein neues Medikament auszuprobieren. Ich wollte Tabletten haben, von denen mir schlecht wurde, sobald ich Alkohol trank. Weil ich nicht wusste, wie ich sonst meinen Alkoholkonsum in den Griff bekommen könnte. Also ging ich in ein Krankenhaus in Denver. In der Lobby boten Krankenschwestern anderen Patienten Gratistests auf Geschlechtskrankheiten an. Ich saß auf einem Stuhl, eine Schwester sah meinen Hautausschlag am Arm und fragte: Sind Sie auf Syphilis getestet?

Der Tod machte mir Angst

War ich nicht. Sie untersuchte mich – ich hatte die Krankheit. An jenem Tag habe ich entschieden: Das geht nicht weiter so! Ich war in den Monaten zuvor bereits drei Mal mit Verdacht auf Herzanfall in der Notaufnahme gelandet. Panikattacken suchten mich heim, der Tod machte mir Angst, obwohl ich erst Mitte 30 war. Ich würde sterben, wenn ich so weiter mache mit dem Alkohol, den Drogen, dem anonymen Sex mit anderen Männern.

Vieles hatte sich zu jenem Zeitpunkt aufgestaut. Es begann wohl damit, dass ich mit neun oder zehn Jahren gemerkt habe, dass ich mich von Männern angezogen fühlte. Ich bekam eine unheimliche Furcht davor, schwul zu werden. Wir waren eine sehr religiöse Familie, meine drei Geschwister und ich sind mit der Vorstellung aufgewachsen, dass Homosexuelle in der Hölle landen würden.

Ich betete jedes Mal, heterosexuell zu werden

Jeden Sonntag gingen wir in die Kirche, am Dienstag traf sich die Jugendgruppe dort, mittwochs gab es ein Gemeindeessen mit anschließendem Gottesdienst. Ich habe jedes Mal gebetet, Gott solle mich heterosexuell machen. Wurde wütend, als das nicht geschah. Hatte Angst, wie er mich bestrafen würde. Fragte mich, was ich falsch gemacht hatte. Ich fühlte mich minderwertig.

In der Schule lief es nicht viel besser. Die anderen Jugendlichen machten sich über meinen Gang lustig, meine Körperhaltung, wie ich aß oder lachte. Das fanden sie schwul. Manche Jungs wollten mich verprügeln, was nie passiert ist, weil ich stark genug war.

Es war für mich qualvoll mitanzusehen, wie sich andere Jungs zu Männern entwickelten und Freundinnen hatten. Ich habe versucht, mich in Mädchen zu verlieben. Hat nicht geklappt. Ich habe mich regelmäßig in Jungs verliebt, die nicht schwul waren. Als ich 17 war, habe ich meinem besten Freund in der High School gebeichtet, dass ich in ihn verknallt war. Ich war zittrig vor Angst, weil ich wusste, er mochte mich, konnte aber meine Gefühle nicht erwidern.

Weil er mir zeigte, wie ich bin, hasste ich ihn

Der nächste, in den ich mich verguckte, nutzte mich aus. Wenn wir in die Disco gingen, rief er mich an, ob ich ihn abholen könnte. Für ihn war ich eine willkommene Mitfahrgelegenheit. Meine Vorstellung von einer Beziehung war durch solche Erfahrungen völlig gestört: Ich ging davon aus, dass ich keine normale Beziehung haben darf, weil es zwischen Männern nicht klappen kann.

Und dann gab es diesen einen Freund aus der Kirchgruppe. Er hat sich in mich verliebt. Als wir eines Abends zusammen ins Kino gegangen sind, haben wir danach miteinander geschlafen. Ich war 18 Jahre, und es war das erste Mal für mich. Am nächsten Tag war ich wie gelähmt. Ich hatte so eine Angst vor dem, was wir getan hatten. Wenn das jemand herausbekam, dachte ich, würde ich alles verlieren. Ich habe diesen Freund gehasst, weil er mir gezeigt hat, wer ich bin. Und ich brach den Kontakt zu ihm ab.

Nach der High School habe ich unter anderem Deutsch studiert und bin 1988 für zwei Auslandssemester nach Heidelberg gegangen. Fern der Heimat habe ich ein paar Erfahrungen mit Männern gesammelt, aber ich musste mich betrinken, damit ich locker genug dafür war. Zu meinem Mitbewohner, einem deutschen Jura-Studenten, fühlte ich mich hingezogen. Eines Nachts ist etwas zwischen uns geschehen – was für mich überraschend kam. Er wollte bloß ein bisschen experimentieren, ich habe sofort an eine Beziehung mit ihm gedacht. Manchmal kam ich betrunken nach Hause, wollte mit ihm Sex haben, und wenn er keine Lust hatte, fühlte ich mich abgelehnt. Das war eine schreckliche Zeit.

Panikattacken - die Direktheit der Deutschen half wenig

Allerdings tauchte plötzlich ein anderes Problem auf: Ich bekam Panikattacken. Auf Vorlesungen oder in Restaurants lief ich rot an, ohne es zu merken, mir stockte der Atem, und als ich bemerkte, wie sich mein Gesicht verfärbt hatte, schämte ich mich dermaßen, dass ich nicht aufstehen und die Aufmerksamkeit auf mich lenken wollte.

Die Direktheit der Deutschen half in solchen Situationen wenig: „Hast du einen roten Kopf! Was ist denn mit dir los, wie sieht denn du aus?“ Das hat mich wahnsinnig gemacht. Ich habe schließlich Einladungen abgelehnt, weil ich Angst hatte, ich würde mich vor anderen Leuten blamieren.

John Grant über seine HIV-Infektion

Als ich nach Denver zurückkehrte, folgte mir die Krankheit nach Hause. Ich verstand, dass es etwas in mir war. Mein Zuhause war nicht mehr sicher für mich. Seitdem nehme ich Medikamente, um damit klarzukommen. Jeden Tag, seit 20 Jahren nunmehr, schlucke ich Paroxetin, ein Antidepressivum – und es hilft mir.

Eigentlich soll man diese Tabletten nicht mit Alkohol mischen. Daran habe ich mich selten gehalten. In Heidelberg habe ich angefangen, viel Bier zu trinken. Jeder in Deutschland trank literweise Pils. 1994 habe ich mit Freunden die Indie-Band The Czars gegründet, da haben wir richtig gesoffen. Das hat dazu geführt, dass ich auf Konzerten kaum singen konnte. Ich war zu betrunken, ich hatte Angst, mich dem Publikum zuzuwenden. Auf der Bühne starrte ich am liebsten auf den Boden, guckte keinen an, redete nicht zwischen den Songs und suchte keinen Kontakt zu den Zuschauern.

In der Band soff jeder. Niemand dachte, ich habe ein Problem

Normalerweise liefen die Tage so ab: Ich stand mittags oder um drei Uhr auf, wartete, bis es Abend wurde und begann zu trinken. Nicht am Nachmittag, dann wäre ich ja ein Alkoholiker gewesen, am Abend war es in Ordnung. Ich habe schnell fünf Bier auf Ex getrunken, dann fühlte ich mich wohl genug, um in die Welt hinauszugehen. Im Laufe der Nacht kamen noch mal zehn Bier dazu, bis ich am frühen Morgen ins Bett gefallen bin.

In der Band hat jeder gesoffen, niemand hätte gedacht, dass ich ein Problem hätte. Unseren Bierkonsum fanden wir normal, wir waren schließlich eine Rockband, das gehörte dazu. Ich wurde Menschen gegenüber aggressiver, habe darauf bestanden, dass etwas genauso gemacht wird, wie ich mir das vorstelle, und bekam Wutanfälle, wenn das nicht passierte.

Ich war ein selbstsüchtiger Arsch. Das hat meine siebenjährige Beziehung mit einem Mann kaputt gemacht. Auch das Kokain war schuld. Zu der Zeit dealte einer meiner Mitbewohner in Denver mit Koks, es gab immer Stoff zu Hause. Als er mir ihn einmal anbot, habe ich zugesagt. Mir gefiel dieses Kitzeln im Körper. Kokain hat mich geil gemacht.

Übertreibe nicht, warnte mich mein Freund

Ab sofort wollte ich nach jedem Schluck Bier eine Linie ziehen, um mich großartig zu fühlen. Ich spürte mehr Energie, konnte mehr trinken und stundenlang reden. Die Gespräche wurden immer krankhafter. Es ging um existenzielle Sachen wie die Beziehung zu meinem Vater. Er hatte Schwierigkeiten, meine Homosexualität zu verstehen, und fragte, ob ich nicht eine Therapie machen möchte, weil er Schwulsein für eine heilbare Krankheit hielt. Wer will darüber quatschen, wenn er total high ist?

Mein damaliger Freund war der einzige, der mir mal gesagt hat, ich solle aufpassen, dass ich nicht übertreibe. Kümmere dich um deine Angelegenheiten, habe ich ihm gesagt. Wir hatten eine offene Beziehung. Im Grunde waren wir eng befreundet und haben Sex gehabt, nebenher konnten wir auch mit anderen Männern schlafen.

In einer Beziehung war ich anders mit meinem Drogenkonsum: Ich konnte das Zeug nicht in der Öffentlichkeit nehmen, in einer Bar oder einem Club, ich wollte Kokain nur zu Hause ziehen. Tanzen danach? Die Musik und die Lichter hätten mich paranoid gemacht. Am schlimmsten war der Tag danach. Wenn die Sonne aufging, wurde ich depressiv, dachte über Suizid nach.

Die Beziehung zu meinem Freund zerbrach 2003, die Band löste sich auf, und mir ging es schlecht. Ich hatte keinen Job, kellnerte in Denver, war pleite und bekam Zoff mit meinen Geschwistern, wenn ich Geld von ihnen borgen wollte. Um dem ein Ende zu bereiten, ging ich vor elf Jahren ins Krankenhaus – mit dem Plan, mir Tabletten zu besorgen, und bekam die Diagnose: Syphilis.

Die ersten Wochen der Abstinenz waren schlimm

Die ersten Wochen der Abstinenz waren schlimm. Ich konnte kaum gehen, mir war laufend schwindlig, ich litt unter Entzugserscheinungen und fühlte mich im Kopf wie vernebelt. Ich hatte keine Energie, keine Lust, war völlig antriebslos. Normalerweise blieb ich zu Hause, nur für die Arbeit ging ich ins Restaurant. Was auch schwierig war: Mit einigen meiner Kollegen hatte ich vorher gefeiert und getrunken.

Aber ich hab es geschafft, nein zu sagen. Ich bin jeden zweiten Morgen zu einem Treffen der Anonymen Alkoholiker gegangen, habe mich mit Leuten unterhalten, die dasselbe durchgemacht haben. Einen Rückfall hatte ich nach zwei Monaten. An jenem Abend habe ich gekokst. Ein paar Tage zuvor feierte ich Geburtstag, und ich wünschte mir eine Nacht mit einem Escort. Das Geld sammelten meine Freunde, und ich habe mich dann mit einem jungen Russen getroffen. Er hatte Drogen dabei. Ich dachte, na ja, ist ja kein Alkohol. Am nächsten Tag bin ich mit der Gewissheit aufgewacht, mich selbst betrogen zu haben.

Seitdem mache ich mir keine Sorgen mehr, dass ich jemals wieder trinken werde. Langsam begann ich, erneut Lieder zu schreiben. 2010 veröffentlichte ich mein Debüt als Solokünstler. Es störte mich nicht, wenn ich auftrat, und Zuschauer Bierflaschen in der Hand hielten. Mittlerweile kann ich auf der Bühne stehen und den Leuten in die Augen gucken. Ich fühle mich wohl dabei.

2012 machte ich öffentlich, dass ich HIV-positiv bin

2012 habe ich bei einem Auftritt öffentlich bekannt gemacht, dass ich auch HIV-positiv bin. Inzwischen lebe ich auf Island, ich habe zwei weitere Platten aufgenommen und einen neuen Mann kennengelernt. Mein Vater hat seine Meinung zur Homosexualität geändert. Meine ältere Schwester hat sich ihm gegenüber vor ein paar Jahren geoutet. Er weiß nicht, was er darüber denken soll. Er sagt, er liebt mich jetzt wie ich bin.

- Aufgezeichnet von Ulf Lippitz. Am 26. November stellt John Grant live sein aktuelles Album „Grey Tickles, Black Pressure“ im Berliner Postbahnhof vor.

Mehr LGBTI-Themen finden Sie auf dem Queerspiegel, dem queeren Blog des Tagesspiegels. Themenanregungen und Kritik gern im Kommentarbereich etwas weiter unten auf dieser Seite oder per Email an:queer@tagesspiegel.de. Twittern Sie mit unter dem Hashtag #Queerspiegel – zum Twitterfeed zum Queerspiegel geht es hier.

Zur Startseite