Offen queer leben in Berlin: „Endlich schwul und stolz“
Mit 19 Jahren flüchtete unser Autor aus dem ländlichen Münster nach Berlin. Als er sich mit seinen eigenen Vorurteilen konfrontierte, fand er zu sich selbst.
Am Anfang der Flucht steht die Furcht. So war es zumindest in meinem Fall. Ich bin als homosexueller Mann im Münsterland, in einer Kleinstadt namens Drensteinfurt, aufgewachsen. Schon früh war klar, dass ich anders war als die anderen Jungs. Ich trug manchmal Kleider, spielte auch mit Barbies, hatte kein Problem damit, mit dem Hintern zu wackeln. Fußball interessiert mich bis heute nicht.
Was für die anderen Kinder schnell klar war, gestand ich mir erst mit 14 oder 15 ein: Ich bin schwul. Das Coming-out mir selbst gegenüber war schwer, weil ich in der Kleinstadt gelernt hatte, dass es nicht okay sei, homosexuell zu sein: Ich wurde jahrelang bedrängt und als „Schwuchtel“ beleidigt. Auf den Gängen der Schule, in der Pause, auf dem Heimweg – überall warteten sie auf mich, mit ihren Beleidigungen und ihrer Gewalt. Ich ließ all das über mich ergehen.
Berlin ist ein wichtiger Lebensort für queere Menschen
Mit 19 Jahren, nach dem Fachabitur, blieb mir nur ein Ausweg: die Flucht. Vom ländlichen Münster zog ich in das urbane Berlin.
Berlin ist als Lebensort wichtig für queere Menschen, denn hier findet man seinesgleichen. Es ist auf einmal okay, homosexuell zu sein, während man in den Cafés der Motzstraße abhängt, abends in Bars wie dem Silver Future und anschließend in Clubs wie dem Schwuz feiert. Vermeintlich sichere Orte, an denen ich im Rausch der Nacht zwei, drei Jahre mein Leben und die Freiheit, die ich empfand, genoss.
Obwohl ich mich immer nach einem Ort gesehnt hatte, an dem ich meine Homosexualität ausleben konnte, fühlte ich mich irgendwann gefangen. Zu viel Alkohol, zu viel Exzess – die Freiheit wurde zum Gefängnis und Berlin zu einer ewigen Partynacht.
„Ich befand mich im Dauerrausch“
Mehrere Beziehungsversuche scheiterten, ich befand mich im Dauerrausch. Ich merkte, dass ich Hilfe brauchte.
Im Alter von 22 Jahren begann ich eine Psychoanalyse am Berliner Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie in der Pariser Straße, lag dreimal die Woche auf einer schwarzen Ledercouch. Ich versuchte, mit einem Psychoanalytiker an meine Gefühle zu gelangen und zu ergründen, was mich bedrückte und wieso ich mich betäuben wollte.
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Es dauerte noch weitere anderthalb Jahre, bis ich Selbsthilfegruppen für queere Menschen entdeckte. Damit gelangte ich zum „village.berlin“ in der Kurfürstenstraße. Ein Ort, der Kurse und Sportgruppen für schwule, bi- und transsexuelle Männer anbietet.
Als ich das erste Mal in dem großen Raum mit den aufgebrochenen Wänden und dem hellen Boden stand, waren mir die anderen Männer erst einmal suspekt. Ein Bild dafür, was in meinem Leben schief ging: Ich hatte die Stimmen der Jugend, die „Schwuchtel!“-Rufe, verinnerlicht. Ich war immer noch auf der Flucht, aber vor mir selbst. Ich lernte über „internalisierte Homofeindlichkeit“. Schwule Männer waren mir zuwider, weil ich eben dies in meiner Heimat gelernt hatte und ich mir selbst dadurch auch zuwider war.
„Ich kam nach jahrelanger Arbeit wieder mit mir selbst in Kontakt“
In der Therapie, in den Selbsthilfegruppen und beim Sport (Boxen für queere Männer) kam ich nach jahrelanger Arbeit wieder mit mir selbst in Kontakt. Ich lernte: Was ich all die Jahre gesucht hatte, war meine Identität, die ich nie ganz entwickeln konnte, weil es mir schlichtweg verboten wurde. In Berlin war das nun möglich.
Um meiner inneren Homonegativität die Stirn zu bieten und mit meiner femininen Seite in Kontakt zu kommen, wurde ich eine Drag Queen: Im August 2019 trat ich in High Heels, einem kurzen Kleid und einer viel zu großen, viel zu blonden Perücke als Dicki Minarsch auf. Ein Befreiungsschlag, der lauter war als die Beleidigungen meiner Jugend. Ich gewann die Oberhand, machte mich frei von dem, was mich so lange beherrschte. Ich war endlich schwul und stolz. Außerdem lernte ich, dass ich mit meinen Erfahrungen nicht alleine war.
Das Resultat einer heterosexuellen, patriarchalischen Welt
Einer meiner engsten Freunde, Tony, 50, aus New York, hatte seinen ersten Freund im Alter von 21 Jahren. Das Coming-out seinen Eltern gegenüber folgte mit 25. Jahre später war er in einer Beziehung mit einer Frau. Verwirrend? „Es ist schwer für schwule Männer zu verstehen, was sie und ich hatten, denn das ist das Resultat einer heterosexuellen, patriarchalischen Welt.“
Heute, sagt er, würde man ihre Beziehung eher verstehen, die Menschen sind offener gegenüber der Offenheit an sich: Wir leben nicht mehr in Rollenverständnissen, die so schwarz und weiß sind. Fluidität ist willkommen. Ein schwuler Mann kann auch mal mit einer Frau schlafen, das macht ihn nicht gleich hetero- oder bisexuell
Tony hat in den letzten Jahren Bücher wie „The Velvet Rage“, „Rückkehr nach Reims“ und „Das Ende von Eddy“ gelesen, die sich mit homosexueller Scham und Identitätsfragen beschäftigen. „Es ist ein Prozess, mich selbst komplett zu akzeptieren.“
Um an diesen Punkt zu kommen, tauscht Tony sich mit anderen queeren Männern aus, gibt Meditations-Klassen im „village.berlin“ und nimmt an den dortigen „healing spaces“ teil. Diese Kurse wollen einen sicheren Ort für Männer bieten, die Männer lieben, die lernen möchten, sich zu akzeptieren.
„Sie unterdrückte ihre sexuelle Identität mit Alkohol und Partys“
Dann ist da meine Freundin Siri, 39, die in Schweden aufgewachsen ist. Als Teenagerin fantasierte sie über Frauen, traf sich bis sie Anfang 30 war jedoch mit Männern. Ihre sexuelle Identität als lesbische Frau unterdrückte sie unter anderem mit Alkohol und Partys. Sie war nie zu 100 Prozent glücklich, bis sie sich eingestand, wer sie ist und wen sie liebt. Die Beziehung, die am wichtigsten ist, die zu ihr selbst, fing sie an zu gestalten, als sie den Alkohol, die Partys und die Männer wegließ. „Ich wurde ehrlich mit mir selbst, wer ich bin und welche Abhängigkeiten in meinem Leben vorherrschten.“
Siri erlaubte sich, aufzublühen. „Ich dachte mir: Warte mal, du stehst doch eigentlich auf Frauen!“ Unterbewusst war ihr immer klar, dass sie Frauen liebte, sagt sie heute. Ihr ganzes Leben lang. Sie fing an auf Dates zu gehen, heiratete später eine Frau, ist heute geschieden, hat nun wieder eine Freundin.
„Als queere Menschen mussten wir uns in einer heterosexuellen Gesellschaft zurechtfinden“
Obwohl wir unterschiedlichen Generationen entspringen, hatten Tony, Siri und ich, heute 26, mit ähnlichen Problemen zu kämpfen: Als queere Menschen mussten wir uns in einer heterosexuellen Gesellschaft zurechtfinden. Denn wenn man anders als die große Masse ist, glaubt man schnell, dass man fehlerhaft sei. Um den Kontakt zu uns selbst herzustellen, brauchten wir sichere Orte und andere queere Menschen, um uns zu identifizieren, geborgen und verstanden zu fühlen. Etwas, das das Dorf mir nicht bieten konnte.
Das „Anderssein“ war nie das Problem, sollte es zumindest nicht sein, aber der Umgang damit. Queere Menschen werden wohl immer eine Minderheit bleiben. Es braucht jedoch Akzeptanz, um ein gutes Miteinander zu schaffen. Letzten Endes sind wir alle Menschen, die nur geliebt werden möchten. Wir haben alle dieselben Bedürfnisse, ungeachtet der sexuellen Identität. Das ist wichtig zu sagen, denn Homofeindlichkeit nimmt zu.In Berlin wurden 2019 261 homophobe Übergriffe gemeldet. Da sind sie wieder, die Stimmen aus dem Dorf.
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