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Biker in Ledermontur: Oliver Sacks in jungen Jahren
© aus Sacks' Biografie/Rowohlt Verlag

Oliver Sacks über sein Leben: Ein eigener Fall

Schwuler Biker und Gewichtheber, schreibender Neurologe, Bestsellerautor: Oliver Sacks erzählt in "On The Move" aus seinem bewegten Leben.

Die Medizin und das Schreiben miteinander zu verbinden, muss für Oliver Sacks ein ganz plötzlicher Akt gewesen sein. Ein Jahr lang arbeitete er schon in einer Kopfschmerzklinik in der Bronx, nach diversen anderen Stationen in Kliniken und Forschungslaboren, als er die Sommerferien 1967 über nach England fuhr, um hier innerhalb von zwei Wochen ein Buch über die Migräne zu schreiben. „Ohne bewusste Planung“ sei es aus ihm förmlich „herausgebrochen“, so schreibt es der 1933 in London geborene Sacks nun in seiner Autobiografie „On The Move“.

Es dauerte dann zwar noch ein paar Jahre, bis sein Debüt in England veröffentlicht wurde, doch seine Bestimmung hatte Sacks gefunden. Ihn überkam erstmals das Empfinden, „etwas Wirkliches und Wertvolles gemacht zu haben“. Sacks war zum Schriftsteller geworden, zum Mediziner, der die Neurologie später mit seinen Fallgeschichten auf die Sachbuchbestsellerlisten bringen sollte, mit Büchern wie „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ oder „Der Tag, an dem mein Bein fortlief“. Aber auch Hollywood interessierte sich für ihn und verfilmte 1990 sein zweites Buch „Awakenings“ mit Robert De Niro und Robin Williams; ein Buch, in dem Sacks einst vor sich hin vegetierende Postenzephalitispatienten porträtiert, die durch die Gabe von L-Dopa zu einem neuen, anderen Leben erwachten.

"On The Move" ist ein veritabler Bildungsroman

Man glaubt also, Oliver Sacks gut zu kennen. Er ist Bestsellerautor und ein Medienprominenter. Erst im Februar dieses Jahres hat er in einem Artikel für die „New York Times“ bekannt, wegen einer durch und durch metastasierten Leber nur noch wenige Monate Lebenszeit zu haben. Trotz seines hohen Bekanntheitsgrades schafft Sachs es nun noch einmal, mit der Schilderung seines Lebens zu verblüffen, insbesondere mit der seiner jungen, sich bis in die Dreißiger ziehenden Jahre. „On The Move“ ist gewissermaßen seine eigene Fallgeschichte; ein veritabler Bildungsroman, der an seine 2001 veröffentlichten Kindheits- und Jugenderinnerungen „Onkel Wolfram“ anknüpft.

So braucht Sacks sich nicht lange mit seinem familiären Hintergrund aufzuhalten – er stammt aus einer Arztfamilie, Vater, Mutter und zwei seiner Brüder waren Ärzte –, sondern praktisch ansatzlos erst einmal von seiner Leidenschaft und Faszination für das Motorradfahren erzählen. Davon, wie er nach seiner Übersiedlung von England nach San Francisco mit seinem BMW Kalifornien geradezu obsessiv erkundet und als Biker auch freundschaftliche Kontakte zu einer Gruppe Hell’s Angels hat. (Ja, und wie gut der Mann aussah in seiner schwarzen Lederkluft!) Und Sacks erzählt von seinen sportlichen Aktivitäten, vor allem dem Gewichtheben, was er am Muscle Beach und am Venice Beach eine Zeit lang ähnlich intensiv betreibt wie das Motorradfahren, und nicht zuletzt von seiner fünf Jahre währenden Drogenabhängigkeit, nachdem er durch einen mit Amphetamin versetzten Joint auf den Geschmack gekommen war.

Am prägendsten und lebensbeschwerend dürften jedoch das homosexuelle Coming-out und die entsetzte Reaktion seiner Mutter darauf gewesen sein: „Du bist ein Gräuel. Ich wünschte, Du wärest nie geboren worden“, sagt sie zu ihm. Diese Worte verfolgen ihn „den größten Teils seines Lebens“, wie Sacks nun in seiner Autobiografie bekennt, „und waren wesentlich dafür verantwortlich, dass der freie und freudige Ausdruck meiner Sexualität immer von Hemmungen und Schuldgefühlen beeinträchtigt wurde.“

Nach seiner letzten Liebesbeziehung in den siebziger Jahren hatte Sacks 35 Jahre lang keinen Sex

Es ist diese Offenheit, die verblüfft und die Sacks Autobiografie so lesenswert macht, einhergehend mit seiner Analysefähigkeit und einer höchst glaubhaften Neugier auf den jungen Mann, der er einmal war, mit all dessen Fehlbarkeiten, den von ihm eingeschlagenen Irrwegen, gerade auch beruflich. Mehr als einmal muss er erkennen, dass die Labor- und Forschungsarbeit nichts für ihn ist und seine viel größeren Stärken der direkte Kontakt zu den Patienten und seine Einfühlungs- und Beobachtungsgabe sind. Das hilft ihm natürlich beim Schreiben, wenngleich ihm viele Bücher offene Ablehnung oder distanziertes Schweigen in der akademischen Welt eingebracht haben, bis hin zu dem Vorwurf, er missbrauche Patientenschicksale für seine literarische Karriere. Und was für ein guter Geschichtenerzähler Oliver Sacks ist, beweist er auch hier.

Zuweilen liest sich „On The Move“ mehr wie eine Ansammlung von Anekdoten und Geschichten als wie eine stringent chronologische Lebenserzählung, was gerade in der ersten Hälfte großen Charme hat: von dem Bullen, der ihn in Norwegen jagt und ihn letztendlich zu dem Buch „Der Tag, an dem mein Bein fortlief“ verhilft, über Erlebnisse auf einem Truckerrastplatz oder beim Gewichthebertraining mit explodierenden Fitnessgetränken bis hin zu so mancher skurriler Liebesgeschichte. Die letzte davon veranlasst ihm zu dem seltsam anrührenden Geständnis, danach 35 Jahre lang keinen Sex mehr gehabt zu haben.

In der zweiten, bekannteren, dann auch Buch für Buch abschreitenden Hälfte wirkt diese anekdotisch-mäandernde Form der Lebenserzählung allerdings mitunter störend. Man bekommt da den Eindruck, dass Oliver Sacks sich einigen prominenten Freunden und Bekannten oder Mitgliedern seiner weitverzweigten Familie verpflichtet fühlt – oder glaubt, was nicht ganz uneitel ist, diese unbedingt in seinem Lebensbuch unterbringen zu müssen. Den Dichter W. H. Auden zum Beispiel, den einen der beiden Entdecker der DNA-Doppelhelix, Francis Crick, oder auch Abba Eban, den israelischen Diplomaten, Minister und Knessetabgeordneten, der einst als „Stimme Israels“ galt.

Natürlich diskutiert Oliver Sacks in diesen Kurzporträts so manches neurologische Problem; auch auf die eigenen Gebrechen kommt er zu sprechen, insbesondere auf die Krebserkrankung in seinem rechten Auge, die im Dezember 2005 auftrat. Dieses Melanom kostete ihn die Hälfte seiner Sehkraft, ist nun nach knapp zehn Jahren metastasiert, war bei aller Tragik aber ein weiteres „fruchtbares Forschungsfeld“ für den leidenschaftlichen Neurologen. Als Sacks am Ende noch einmal davon spricht, wie viel Glück ihm das Schreiben weiterhin bereite, wie „beseligend“ das Geschichtenerzählen sei, weiß man: Der Beruf des Schriftstellers ist in seinem Fall stets vor dem des Mediziners gekommen.

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