Lesbische und schwule Eltern: Der Traum vom eigenen Kind
Christine Wagner ist lesbisch, Gianni Bettucci schwul. Zusammen haben sie ein Kind. Co-Parenting verändert unsere Vorstellung von Familie - das könnte auch ein Modell für Heterosexuelle sein.
Den ersten Versuch starteten Christine Wagner und Gianni Bettucci in Moskau. Der Eisprung nach der Entscheidung für ein gemeinsames Kind fiel ausgerechnet in die Woche, als er mit seiner Theatergruppe in Russland war, und sie buchte kurzerhand einen Flug, um ihn zu begleiten. „Tagsüber lief ich bei Minus 20 Grad über den Roten Platz, verstand kein Wort und fragte mich: Was mache ich hier eigentlich?“, erinnert sich Christine Wagner an den eiskalten November 2012 und schüttelt lachend den Kopf.
Ein Dreivierteljahr später sitzen die beiden in Christine Wagners Wohnzimmer in Wedding, das von der Augustsonne gewärmt wird. Ihr T-Shirt wölbt sich über den Schwangerschaftsbauch. Er hat an der Tür seine Turnschuhe ausgezogen, weil ihr das wichtig ist. Gemeinsam beugen sie sich über eine Broschüre für ein Tragetuch und überlegen, ob nicht ein Kinderwagen praktischer wäre. Das Bild eines glücklichen Paares in freudiger Erwartung.
Sie wusste lange, dass sie Kinder haben will
Doch Christine Wagner und Gianni Bettucci sind kein Liebespaar, nie eines gewesen. Sie ist lesbisch, er schwul, und ihre Tochter haben sie per Bechermethode gezeugt. Das heißt, immer dann, wenn Christine ihre fruchtbaren Tage hatte, haben die beiden sich zur Übergabe des Bechers mit seiner Samenprobe getroffen. In Moskau hat es nicht geklappt, aber nach ein paar Versuchen zu Hause in Berlin.
Christine Wagner ist klein, auch mit rundem Bauch zierlich und energiegeladen. Bis zur Schwangerschaft stand sie als Chirurgin im OP-Saal, inzwischen macht sie ihre Facharztausbildung zur Allgemeinmedizinerin. Schichtdienste im Klinik-Betrieb sind nur schwer mit Familie vereinbar. Die 32-jährige Norddeutsche ist kein Mensch, der unüberlegt sein Leben umkrempelt. Sie habe schon lange gewusst, dass sie eines Tages Kinder haben wolle, sagt sie und klingt wie ein Mensch, der seine Pläne auch umsetzt.
Regenbogenfamilien haben es vorgemacht
Co-Parenting heißt das Modell, wenn zwei Menschen Eltern werden, ohne ein Paar zu sein. Regenbogenfamilien haben es vorgemacht: Lesbische Paare suchen einen Vater für ihr Wunschkind, schwule Paare suchen nach Frauen, mit denen sie eine Familie gründen können. Aber auch heterosexuelle Singles begeben sich auf die Suche nach einer Co-Mutter oder einem Co-Vater. um ganz ohne Romantik eine Familie zu gründen.
Irgendwann mit Ende 20, erinnert sich Christine Wagner, war bei ihr das Gefühl da: So, jetzt kann es losgehen. Zu dem Zeitpunkt hatte sie noch eine Beziehung, mit ihrer Freundin schaute sie sich Internetportale für Frauen mit Kinderwunsch an. Wie Spermaspender oder Samenspender4you. In Wedding sitzt die Schwangere auf der Couch und zieht die Augenbrauen hoch. „Wir suchten aber keinen Spermaspender, sondern einen Vater!" Sie will auf jeden Fall, dass ihr zukünftiges Kind die Chance auf einen Vater hat, der im Alltag präsent ist.
Sie gründen "Familyship"
Schließlich gründeten die beiden Frauen eine Plattform namens „Familyship“. Sie richtet sich – wie Christine Wagner es nennt – an „Menschen, die auf freundschaftlicher Basis eine Familie gründen wollen“. Dort posteten sie eine Suchanfrage: Lesbisches Paar sucht Mann, der Vater werden und diese Rolle auch im Alltag aktiv leben will. Zwei Fotos dazugestellt, fertig.
Gianni Bettucci war einer der ersten, der sich meldete. Das Kennenlernen im Café startete chaotisch, denn er hatte sich aus Versehen zwei Mal verabredet. Er saß mit Christine Wagner plus Freundin am Tisch und redete am Telefon mit seiner zweiten Verabredung. „Kann ja mal passieren“, dachte Christine Wagner. Er fand gut, dass sie sein doppeltes Date mit Humor nahm.
Eine Beratungsstelle für homosexuelle Eltern
Als Leiterin des Regenbogenfamilien-Zentrums in Schöneberg kennt Constanze Körner die unterschiedlichsten Familienmodelle. Das Zentrum ist deutschlandweit die erste Beratungsstelle für homosexuelle Eltern. Vor allem drei Dinge sind ihrer Erfahrung nach wichtig, wenn sich zwei Menschen für Nachwuchs entscheiden, ohne ein Liebespaar zu sein: Erstens räumliche Nähe, damit das Kind ein stabiles soziales Umfeld hat. Zudem Zeit für gemeinsame Erlebnisse mit Vater und Mutter. Und schließlich sollten sich die Eltern freundschaftlich begegnen. „Wenn die Kinder merken, dass die Eltern sich mögen, auch wenn sie sich nicht ständig knutschend in den Armen liegen“, so Körner, sei schon viel gewonnen. Das bedeutet aber auch, dass die Suche nach einem Elternteil nicht einfacher ist als die nach einem Liebespartner.
Vor der Entscheidung für ein gemeinsames Kind trafen Gianni Bettucci und Christine Wagner sich ein Jahr lang regelmäßig: zu zweit, mit Freunden, im Park, im Theater. Sie fuhren gemeinsam in einen Kurzurlaub. „Die zweite Hälfte unserer Gespräche drehte sich immer mehr um unsere Vorstellung von einer Familie, wie wir das Kind erziehen möchten“, erzählt der angehende Vater.
"Du wirst die Strenge sein, ich der Clown"
Gianni Bettucci kommt ursprünglich aus Florenz, lebt seit über zehn Jahren in Berlin und betreut eine Theatergruppe, die mit ihren Stücken viel im Ausland unterwegs ist. Der 41-Jährige lädt gern Freunde zum Essen ein, kocht für sie die Rezepte seiner italienischen Großmutter nach und hat einen Hang zum kreativen Chaos. „Du wirst in der Erziehung die Strenge sein, ich der Clown“, scherzt er. Wichtig war ihm in der Kennenlernphase, dass sie sich mit seinem großen Freundeskreis gut versteht. „Ich habe die Vorstellung von einer Art Großfamilie aus Freunden und Familie und will das auch für mein Kind“, sagt er. Außerdem sollte die zukünftige Mutter nichts dagegen haben, dass er mit Theatergruppe und Kind regelmäßig auf Reisen gehe. Ihr wiederum war vor allem wichtig, dass sie sich auf Augenhöhe begegnen und bestimmte Werte teilen. „Schwierig wäre es, wenn der eine CDU-Anhänger ist und der andere wählt die Linke“, sagt sie.
Welche Probleme der Alltag mit sich bringt
Auch nachdem sie sich von ihrer Freundin getrennt hatte, traf sich Christine Wagner weiter mit Gianni Bettucci. Im Herbst 2012 fiel schließlich die Entscheidung: Lass es uns versuchen. Vor der ersten Becherübergabe in Moskau flatterten ihnen kurz die Nerven, aber ein Zurück gab es nicht. „Nun fühlt es sich vollkommen richtig an“, sagt Christine Wagner und senkt den Blick auf ihren Bauch.
Die Tochter kommt zwei Monate zu früh
Der Geburtstermin ist kurz vor Weihnachten angesetzt. Im Oktober 2013 kommt ihre gemeinsame Tochter Milla auf die Welt, zwei Monate zu früh. Gianni Bettucci schafft es gerade noch rechtzeitig ins Krankenhaus. Die Wochen danach werden für beide eine Bewährungsprobe: Milla muss in den Brutkasten, Christine Wagner bleibt vorerst im Krankenhaus, und eine Woche lang übernachtet auch Gianni Bettucci dort. Wenn die Krankenschwestern ihre Betten wie bei anderen Eltern zusammenschieben wollen, winken beide ab. Ihre Tochter wächst langsam von Frühchen- auf Babygröße heran.
Eineinhalb Jahre später. Gianni Bettucci betritt im Frühjahr 2015 das Spielzimmer der Kita in Neukölln, Milla jauchzt und läuft mit in die Höhe gereckten Ärmchen auf ihren Vater zu. Die dunkelbraunen Haare hat das Mädchen von ihm. In der Regel holt er es von der Kita ab, weil Christine Wagner noch arbeitet. Gianni Bettucci geht in die Knie, nimmt seine Tochter auf den Arm und spricht mit der Erzieherin: Milla habe heute Mittag länger geschlafen als sonst und sei danach sehr anhänglich gewesen. „Vielleicht wird sie krank“, überlegt er, während seine Tochter sich mit dem Daumen im Mund an seinen Hals schmiegt. Die vergangene Nacht sei sie bereits ziemlich unruhig gewesen. Einmal unter der Woche und einmal am Wochenende übernachtet Milla inzwischen bei ihm.
Es gibt Diskussionen um die Kita
Milla kaut im Buggy an einem Brötchen, das Gianni Bettucci auf dem Weg gekauft hat. Immer wieder rückt er die dunkelblaue Wollmütze zurecht, die ihr von den Ohren zu rutschen droht. Ihren ersten wirklichen Streit, so werden er und Christine Wagner später sagen, hatten sie bei der Diskussion um Millas Kita. Obwohl beide inzwischen in Neukölln wohnen, liegt sie vor allem für Gianni ungünstig. Von seiner Wohnung aus braucht er eine halbe Stunde dorthin und noch einmal fast eine Stunde zu seinem Büro in Weißensee. Diesen Zeitaufwand hatten beide bei der Kita-Wahl unterschätzt.
Außerdem kommt Milla ab 16 Uhr in eine andere Gruppe, wo sie allein unter älteren Kindern ist. Deswegen hatte er die Idee, eine Tagesmutter zu holen. Christine Wagner zögerte, nachdem sich Milla gerade in der Kita eingewöhnt hatte.
Aus Freunden sind sie zu Mutter und Vater geworden. Christine Wagner hat aus seiner Sicht einen starken Beschützerinstinkt, er glaubt, dass man Milla mehr zutrauen könne. „Es hat mich überrascht, dass sie bei dieser Frage so wankelmütig war“, erinnert er sich an die Diskussion um die Tagesmutter.
Beide haben ein gemeinsames Sorgerecht
Die beiden haben für Milla das gemeinsame Sorgerecht. Das bedeutet, dass sie die gleiche Verantwortung tragen für alle Entscheidungen im Leben ihrer Tochter. Bei der Diskussion um die Kita sei es laut geworden, irgendwann habe Christine Wagner eingelenkt. Jetzt hofft sie, dass die Eingewöhnung bei der Tagesmutter gut klappt. Er hofft, dass sie ihm keine Vorwürfe macht, falls es am Anfang nicht so einfach wird.
Auf dem Spielplatz klettert Milla Richtung Rutsche. Ihr Vater muss hinterher, weil sie immer höher will. Als Christine Wagner sich per SMS ankündigt, schlendern sie weiter zu ihrer Wohnung, die nur fünf Minuten von seiner entfernt ist. Milla erkennt das Auto ihrer Mutter vom Gehweg aus und quietscht freudig.
Wie wird es mit der Wohnung geregelt?
Eigentlich wollten beide in zwei angrenzende Wohnungen einziehen, die Gianni Bettucci schon vor Millas Geburt gekauft hatte, und sie mit einem Durchbruch verbinden. Doch eine Wohnung ist noch nicht frei, und so ist bisher nur Christine Wagner eingezogen. Morgens bringt sie Milla vor dem Frühstück zu ihm, anschließend brechen Vater und Tochter in die Kita auf, und nach dem Abholen bringt er die Kleine wieder zu ihrer Wohnung – außer an dem einen Werktag, an dem sie bei ihm übernachtet. „Manchmal habe ich das Gefühl, Milla lebt wie ein Scheidungskind, obwohl ich genau das nie wollte“, sagt Christine Wagner.
Bis Gianni nebenan einziehen kann, achten sie darauf, Milla nicht einfach abzugeben, sondern zu dritt gemeinsam Zeit zu verbringen. Er lässt sich müde auf ihr Sofa fallen und berichtet von der durchwachten Nacht mit Milla, während sie in der Küche einen Tee kocht. Milla steht derweil an ihrer Kinderküche und rührt plappernd in einem Spielzeugtopf.
"Vielleicht habt ihr es einfacher als Liebespaare"
Als Christine Wagner schwanger war, haben sie sich mit einem Freund unterhalten, der mit seiner Frau Kinder hat. „Vielleicht“, sagte dieser, „habt ihr es einfacher als Liebespaare. Ihr müsst bei all dem Familienstress nicht auch noch eure Beziehung pflegen und Zeit für euch zu zweit einplanen.“ Die Wahleltern können das schlecht beurteilen, sie haben keinen Vergleich.
Milla fängt an zu quengeln. „Soll ich ihr eine Milch machen?“, fragt die Mutter. „Nein, nein“, entgegnet der Vater. „Sie ist nur müde“. Er nimmt sie auf den Arm. Nach einer Weile geht sie doch in die Küche und macht ein Fläschchen warm, an dem Milla später zufrieden nuckelt – eine ganz normale Familie eben.
Der Text ist im gedruckten Tagesspiegel im "Sonntag" erschienen.
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Ute Zauft
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