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Aus Verbundenheit mit den Opfern des Massakers in Orlando, Florida, erstrahlte am Samstagabend (18.06.2016) das Brandenburger Tor in Regenbogenfarben.
© epd
Update

Gedenken an die Opfer von Orlando: Berlin vereint in Regenbogenfarben

Gerechnet hatten die Organisatoren mit 250 Menschen, am Ende waren es 5000, die vor dem Brandenburger Tor der Opfer des Anschlags in Orlando gedachten. Ein Abend in Würde.

Die Stimme wird brüchig, Tränen laufen über ihre Wangen. Sie ziehen sich in sanften Kurven bis zur Nase, gelbe, rote, grüne, blaue Kurven, Regenbogenfarben. Die Kurven sind aufgemalt, die Tränen aber, die Ryan Stecken in die Augen schießen, die sind echt.
Sie liest jetzt die Namen vor. Die 49 Namen. Die Opfer des Massenmords im „Pulse“-Club, Orlando, Florida. 49 arglose Gäste, die in dem Homosexuellen-Club nur tanzen wollten. Bis Omar Mateen auftauchte, im Kopf wilden Hass auf queere Menschen, in der Hand ein Sturmgewehr. 49 Biografien, Ryan Stecken stellt sie vor, kurze Ausschnitte aus dem Leben von Leuten zwischen 18 und 49, Baseballfans, hilfsbereite Leute, Familienväter, Hobbymusiker.

Jeder Name hat auch ein Gesicht. Vor der Bühne am Brandenburger Tor, vor dem Mikrofon, in das Ryan Stecken spricht, stehen 49 Menschen im Halbkreis. Jeder hält ein Plakat in der Hand, auf jedem Plakat sieht man neben dem Namen das Bild des Opfers. Eine stumme Botschaft an die 5000 Menschen, die sich am Samstagabend auf dem Pariser Platz versammelt haben. Sie kommen, um zu trauern. Sie kommen, um den Angehörigen der Opfer ihr Beileid auszusprechen.

Zusammenrücken und eine starke Gemeinschaft bilden

Sie kommen aber auch, um emotional zusammenzurücken. Sie bilden eine Gemeinschaft, stark genug, latenter Homophobie standzuhalten. Manche sind bunt geschminkt, es gibt einen Mann mit Hochzeitskleid und weißem Schleier, es gibt einen Mann mit Ziegenbart und weinroten Kleid, es gibt alle Formen des queeren Lebens, und die Optik ist auch eine Botschaft: Wir lassen uns nicht kleinkriegen, wir stehen zu unserem Leben, wir leben Toleranz, wir fordern sie aber auch ein.

Als die Drag Queens Ryan Stecken und Margot Schlönzke die Mahnwache für Orlando angemeldet haben, da schätzten sie, es würden rund 250 Teilnehmer kommen. Aber am Samstagabend stehen 5000 vor der Bühne. Als der Höhepunkt des Abends angekündigt wird, brandet Jubel auf: „Jetzt wird das Brandenburger Tor angestrahlt.“ Es ist gegen 22 Uhr, es ist dunkel genug, damit das Wahrzeichen von Berlin schön in den Regenbogen effektvoll ausgeleuchtet werden kann. Mit langsamen Schritten ziehen dann die 49 Menschen mit den Bildern der Opfer von der Bühne zum Tor, eine Trauerzeremonie zum Abschluss, die jene Würde ausstrahlt, die diese Mahnwache zum bewegenden Erlebnis macht.

Zwei Musikerinnen spielen einen Song, der "Pulse" heißt

Sie beginnt 45 Minuten früher, diese Mahnwache. Ryan Stecken betritt die Bühne, die türkisen Haare zu einem kleinen Berg gestylt, den schmächtigen Körper umhüllt eine Lederhose und ein fast knielanger Ledermantel, die Füße stecken in nietenbeschlagenen Stiefeln mit Plateausohlen. Und über den Wangen laufen die bunten Kurven der Tränen. Die Drag Queen aus Hamburg und ihre Kollegin Margot Schlönzke haben die Mahnwache als Privatpersonen veranstaltet, Gruppen wie der Lesben- und Schwulenverband (LSVD) haben dafür nur Werbung gemacht. „Aber die Organisation liegt allein bei ihnen“, sagt Jörg Steinert, der Geschäftsführer des LSVD Berlin. Er steht neben der Bühne, er beobachtet von hier aus das Geschehen. „Aber natürlich finden wir es toll, dass diese Mahnwache stattfindet“, sagt er auch.

Auf der Bühne kündigt Ryan Stecken jetzt zwei Frauen an, sie werden ein Lied singen und spielen, das kurzfristig geschrieben worden ist. Es heißt „Pulse“, wie der Club, in dem das Massaker stattgefunden hat. Eine Art Ballade, eine der Frauen singt, die andere begleitet auf einer gelben Gitarre. Im Hintergrund steht Margot Schlönzke, mit blauem Kleid, blonder Perücke, schwarzen Schuhen mit hohen Absätzen. Am Kleid sitzt eine Brosche.

Es ist noch ziemlich hell, vereinzelt brennen Kerzen. Neben der Bühne steht ein bulliger Mann mit schwarzen Sweatshirt, Glatze und trägt ein Pappschild vor der Brust. „Aktiver Tierschutz Berlin gegen Mord, Homophobie und Gewalt“, hat er drauf geschrieben. Auf der Bühne singt die Frau: „Hands up, it’s your life“, die Hände gehen hoch, tausendfaches Klatschen durchzieht den Pariser Platz, das Gefühl ist spürbar: Hier empfinden sich alle als große Familie.

Nächster Programmpunkt: „Miss CSD 2016“. Miss Christopher Street Day 2016 trägt lange Haare in Regenbogenfarben, hat wild tätowierte Arme und „möchte erstmal allen Opfern mein Mitgefühl aussprechen“. Aber auch jenen Opfern, „die seelisch verwundet wurden“. Dann klettert Miss CSD auf einen Stuhl, klemmt eine Akustik-Gitarre auf die Oberschenkel und gibt eine Vorwarnung raus. Denn „jetzt kommt ein Kriegslied“. Es kommt deshalb, „weil wir uns Homosexuelle immer noch im Krieg befinden und uns wehren müssen und dieses Lied deshalb wohl noch lange nötig sein wird“.

Genau genommen ist es ein Anti-Kriegslied, Der US-Songwriter Pete Seeger hat es 1955 in Anlehnung an ein russisches Volkslied geschrieben. Im Original heißt es: „Where have all the flowers gone“, in der deutschen Version: „Sag mir, wo die Blumen sind“. Jetzt treffen Worte und Melodie dieses Lieds, das zu einer der Hymnen gegen die Vietnam-Krieg wurde, direkt in die Herzen der Zuhörer. Die Trauer bekommt einen Klang.

Und die Trauer wird auch personifiziert durch einen Mann, der als „Seine Exzellenz angekündigt wird, den man „doch bitte begrüßen soll“. Wahrscheinlich gibt es keinen symbolhafteren Moment, um die Würde dieser Mahnwache zu demonstrieren, als diese vollendete förmliche Höflichkeit. Denn Sekunden später betritt der US-Botschafter in Deutschland die Bühne, John B. Emerson. Ein US-Politiker seiner Güteklasse dürfte eigentlich für viele im Publikum eine Provokation darstellen. Unter anderen Umständen, zu einer anderen Zeit. Aber nicht in diesem Moment, in denen sie alle gekommen sind, um 49 US-Bürgern zu gedenken. Und Emerson trifft die Herzen der Zuhörer wie das Pete Seegers Akkorde geschafft haben. Fünf Minuten redet er, voller Empathie, und am Ende sagt er: „Liebe und Hoffnung werden immer Hass und Angst besiegen.“ John B. Emerson hat sich eingereiht in die Community, er verschmilzt geistig mit den Menschen, die vor ihm stehen.

Langsam ist es so dunkel, dass die flackernden Kerzen zum eindrucksvollen Statement werden. Und wer keine Kerze hat, der bekommt eine von Helfern, die extra dafür genügend besorgt haben. Und auf der Bühne taucht wieder Ryan Stecken auf. In der Hand eine lange Liste mit 49 Namen und Biografien. Und als sie liest, wird ihre Stimme brüchig, und die Augen füllen sich mit Tränen. Und dann legt sie die Liste weg, umfasst vorsichtig, fast sanft das Mikrofon und singt. Ryan Stecken singt „Imagine“ von John Lennon, ihre Stimme weht über den Pariser Platz, sie landet in den Herzen der Zuhörer, wieder hat die Trauer eine bewegenden Klang.

Minuten später verwandelt sich das Brandenburger Tor in ein Denkmal in Regenbogenfarben. Eine Stimme verkündet kurz darauf: „Die Mahnwache ist nun offiziell beendet." Aber das ist nur ein formaljuristischer Hinweis. Die Trauer geht weiter. Vor der Bühne liegt eine Fahne in Regenbogenfarben. Eine Mann kniet nieder und stellt eine Kerze neben ihr ab. Es ist eine von ganz vielen Kerzen, die hier flackern.

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