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Die Sängerin Anohni (ehemals Antony Hegarty).
© Rough Trade Records/dpa

Das neue Album "Hopelessness": Anohnis apokalyptischer Pop

Wir sind das Virus der Erde: Antony Hegarty heißt jetzt Anohni und singt auf ihrem neuen Album „Hopelessness“ düstere Protestlieder.

Ist Barack Obama nicht der coolste Präsident, den die Vereinigten Staaten von Amerika jemals hatten? Hat überhaupt je zuvor ein Staatsoberhaupt so viel Charme und ein so feines komödiantisches Gespür an den Tag gelegt wie Obama in der Spätphase seiner zweiten Amtszeit? Gerade erst beim Korrespondenten-Dinner des Weißen Hauses, wo er die Journalisten zu stehenden Ovationen hinriss.

Man kann davon ausgehen, dass Anohni nicht zu den Claqueuren gezählt hätte, wäre sie eingeladen gewesen. Denn die Künstlerin, die unter ihrem Geburtsnamen Antony Hegarty eine der erstaunlichsten Popkarrieren der nuller Jahre durchlaufen hat, widmet dem mächtigsten Mann der Welt auf ihrer neuen Platte einen zentralen Song. Und „Obama“ ist keine Freundschaftsbezeugung, sondern das Eingeständnis der bitteren Enttäuschung vielleicht naiver Heilserwartungen. Zunächst hört man nur unheilvolle Beats wie elektronische Peitschenschläge und ein Geräusch, das wie der verzerrte Jubel einer Menschenmasse klingt. Dann setzt Anohnis ausnahmsweise grabestiefer Gesang ein: eine sich schmerzvoll verzehrende Litanei, während sich der Sound zu einer monumentalen Drohkulisse mit schaurigem Antikenchor und synthetischen Posaunenheeren steigert.

Statt als der ersehnte Botschafter der Wahrheit („truth telling envoy“), hat sich auch der 44. Präsident der USA als Machtpolitiker entpuppt, hat Menschen ohne Gerichtsverfahren exekutieren lassen („executing without trial“), hat alles und jeden überwachen und „Geheimnisverräter“ verfolgen lassen. Und auch wenn das Stück mit melancholischen Pianoakkorden eine versöhnliche Coda offeriert, ist an der Botschaft nichts zu rütteln: „All the hope drained from your face / Like children we believed“.

Hoffnung ist in den elf Stücken nicht mal als Spurenelement zu finden

Der Hoffnung, die Obama auf seinen zu Ikonen der Popkultur gewordenen Wahlkampfplakaten von 2008 schürte, setzt Anohni nun ihr programmatisches Album „Hopelessness“ entgegen. Hoffnung ist in den elf Stücken nicht mal als Spurenelement zu finden. Es geht bei Anohni um das große Ganze. Um die verheerenden Auswirkungen einer sich um Einzelschicksale nicht kümmernden (amerikanischen) Politik, die von ferngesteuerten Drohnen hingemetzelte Familien ungerührt als Kollateralschäden verbucht („Drone Bomb Me“), um den kaum zu durchbrechenden Teufelskreis der Gewalt, der – so Anohnis Logik – aus Angehörigen von Drohnenopfern oder Guantanamo-Gefolterten kopfabschneidende IS-Mörder macht („Crisis“) oder um die Hinrichtungspraxis, die die USA näher an Länder wie China, Saudi-Arabien und Nordkorea heranrückt als an demokratische Nationen („Execution“).

Doch den politischen Aspekt des „american way of life“ anzuprangern, ist fast noch der geringere Teil von Anohnis Agenda. Vorbote des Albums war im November 2015 die punktgenau zur UN-Klimakonferenz in Paris veröffentlichte Single „4 Degrees“. Zu einem von synthetischen Fanfaren und energischen Rhythmushieben vorangetriebenem Electropop mit der Wucht eines Hans-Zimmer Soundtracks tremoliert Anohni in ihrer zwischen Mezzosopran und Tenor oszillierenden Stimmlage vom Untergang der Welt, von der Zerstörung der Biosphäre durch den Menschen. Bei vier Grad Erderwärmung („Let’s go! Let’s go! / It’s only 4 degrees“) schwimmen die Fische mit dem Bauch nach oben, sterben die letzten großen Tiere qualvolle Tode.

Anohni meint den Radikalpessimismus ernst

Anohni meint diesen Radikalpessimismus ernst, das hat sie in Interviews betont. Und sie glaubt nicht an das fatalistische Credo, dass die Natur sich schon irgendwann von den Auswirkungen des Anthropozäns erholen werde: Sie hält den Menschen für erfinderisch und überlebensfähig genug, um tatsächlich irgendwann auf der aller Ressourcen beraubten Erde das Licht auszumachen.

Diesen schockierenden Befund variiert Anohni in mehreren Songs. Sie entwirft in „Why Did You Separate Me From The Earth?“ plakative Endzeit-Spotlights, formuliert „Violent Men“ als abstraktes Lamento gegen das Schlechte im Mann und noch drastischer das Titelstück „Hopelessness“ als Abgesang auf die Menschheit als Konzept. Die Frau, die Sammlerin und Höhlenwarmhalterin, gebar unfreiwillig den Virus, der den Planeten zerstört, der, so endet das Album mit dem Song „Marrow“, als letzte Konsequenz die ganze Welt amerikanisiert („Africa, Iceland, Europe and Brazil … / We are all american now“) und ihr das Mark (= marrow) aus den Knochen saugt.

Puh. Wer sich die knappe Dreiviertelstunde von „Hopelessness“ konzentriert erschlossen hat, dürfte von der apokalyptischen Wut dieser Platte nicht unbeeindruckt bleiben. Natürlich gibt es in der Popmusik eine lange Tradition der Dystopie. Progrocker wie King Crimson, Funkmusiker wie Parliament, Metal-Bands wie Iron Maiden und der prinzipiell pessimistische Punk haben immer wieder Endzeit-Szenarien entworfen. Doch die Radikalität und Unerbittlichkeit, mit der Anohni ihre keine Verteidigung akzeptierende und sich selbst miteinschließende Universalanklage erhebt, ist unerhört.

Der Kammerpop von Antony & The Johnsons hat ausgedient

Würden diese Texte von einer menetekelnden Befindlichkeitssängerin oder einem antikapitalistischen Songwriter gesungen, würden man sich vor Fremdscham winden. Wenn „Hopelessness“ bei aller plakativen Verkürzung nicht als überspanntes Werk einer Öko-Hysterikerin oder Mutter-Erde-Esoterikerin in Erinnerung bleiben wird, sondern als eines der stärksten Pop-Statements des Jahres 2016, dann liegt es daran, dass sich Anohni als Künstlerin neu erfunden hat.

Der eierschalenzarte Kammerpop, der das Markenzeichen jener sechs Alben war, mit denen sie als Stimme von Antony & The Johnsons zwischen 2000 und 2014 bezauberte, hat zu Recht ausgedient. Mit der Hinwendung zum weiblichen Pseudonym hat sich die Mittvierzigerin auch neue Mitstreiter gesucht. Der Schotte Ross Birchard und der Amerikaner Daniel Lopatin zählen unter ihren Künstlernamen Hudson Mohawke und Oneohtrix Point Never zu den innovativsten Produzenten elektronischer Popmusik. Bei beiden hatte Anohni (noch als Antony) bereits Gastauftritte, nun revanchieren sie sich mit dem wie aus einem Guss klingenden, gleichwohl in düsteren Schattierungen erglimmenden Electropop der Platte.

Eines der stärksten Pop-Statements von 2016

Auf „Hopelessness“ arbeiten Birchard und Lopatin mit Soundsignaturen, die man aus ihrem Solowerk kennt: strahlend schöne oder mutwillig zerbeulte Bläsersätze aus dem Rechner, wie flüssiges Blei tropfende Beats, hochglanzpolierte Synthesizerflächen, knispelnde, schabende Störgeräusche, aus der Ferne herübergewehte Gesänge. Das alles ergibt ein gleichermaßen in die Vergangenheit (Giorgio Moroder, 80er-Soundtracks wie „Blade Runner“) wie in die Pop-Gegenwart verweisendes Konglomerat. Hudson Mohawke hat mehrere Stücke auf Kanye Wests „Yeezus“ produziert. Das Werk von 2013 ist eines der ganz wenigen Popalben der letzten Jahre, die es in ihrem Furor mit „Hopelessness“ aufnehmen können.

Bei aller Anschlussfähigkeit an zeitgenössische Strömungen ist diese Musik dennoch – zumindest noch – kein Mainstream. Auch ist kaum anzunehmen, dass sie die Dancefloors der Welt erobern wird, dazu fehlt ihr das rhythmische Infektionspotenzial, das etwa „Blind“ hatte, jene wunderbare Single der New Yorker Neo-Disco-Band Hercules and Love Affair, der Anohni 2008 ihre Stimme lieh. Doch als Soundtrack für den Untergang entwickelt Anohnis Debütalbum eine ganzkörperliche, nicht nur auf die Tanzmuskulatur einwirkende Wucht.

Ob Barack Obama das Lied, das seinen Namen trägt, mögen würde? Zuzutrauen wäre es dem Charmebolzen, dass er selbst Anohnis Klagegesang mit einem lässigen verbalen Return ins Feld zurückbringt.

„Hopelessness“ erscheint am Freitag, 6.5., bei Beggars.

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Jörg Wunder

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