Autor Gaël Faye: „Paris ist nur ein Postkartenmotiv“
Wer es in der frankophonen Welt schaffen will, geht nach Frankreich. Hier lernt der Autor Gaël Faye den Rhythmus seiner Muttersprache ganz neu. Das Interview in voller Länge.
Monsieur Faye, Sie haben mit Ihrem Debütroman „Kleines Land“ einen Bestseller in Frankreich gelandet. Er spielt vor dem Hintergrund des Völkermords an den Tutsi in Ruanda 1994 …
… und der Erfolg hat mich überrascht. Ich dachte, für das Thema interessieren sich höchstens Leute, die nach Afrika fahren.
Mit dem Schreiben haben Sie unmittelbar nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“ begonnen. Hat das Attentat etwas in Ihnen ausgelöst?
Eher die Reaktion meiner Pariser Freunde, die immer dachten, Gewalt existiere bloß irgendwo anders, weit weg. Plötzlich waren die ganz aufgelöst, als wären sie aus einem Traum erwacht. Da entstand die Idee für meine Geschichte: Gabriel, der Junge, der an seiner schönen Kindheit festhalten will, während sich um ihn herum die Welt auflöst.
Wie Sie hat Gabriel einen französischen Vater und eine ruandische Mutter, und wie Sie wächst er zunächst sorglos in Ruandas Nachbarland Burundi auf. Wurde jemand in Ihrer Familie Opfer des Genozids?
Einige Verwandte, die in Ruanda geblieben waren. Der größte Teil meiner Familie mütterlicherseits ist schon in den 60er Jahren nach Burundi geflohen. Ich selbst habe erst spät verstanden, was sich in Ruanda abgespielt hat. Mit 18 sah ich in Frankreich ein Theaterstück über den Völkermord.
In Ihrer Familie war das kein Thema?
Meine Mutter sagte vielleicht mal: Diese Tante ist tot. In ruandischen Familien redet man nicht, man hat viel Leid durchgemacht. Es geht um Scham – und um Stolz: Die Vergangenheit lassen wir hinter uns und blicken nach vorne. Dass viele Menschen mittlerweile öffentlich über das Grauen gesprochen haben, ist auch armenischen und jüdischen Organisationen zu verdanken, die mit ihren Erfahrungen geholfen haben.
In Burundi begann schon 1993 ein Bürgerkrieg, bei dem der Konflikt zwischen Hutu und Tutsi ebenfalls eine Rolle spielte.
Lange Zeit habe ich gedacht, in Ruanda wäre das Gleiche passiert wie bei uns, kein Genozid. Meine Eltern hatten sich getrennt, meine Mutter lebte in Frankreich, ich noch bei meinem Vater in Afrika. In Burundi galt ich als Weißer – und Weiße hat man anfangs in Ruhe gelassen. Wir wussten, es gibt Massaker, wir haben Menschen sterben sehen, aber für uns Ausländer ging das Leben weiter. Ich bin ins Schwimmbad und in die Schule gegangen. Erst 1995 haben wir das Land verlassen müssen, und ich bin in die Nähe von Paris gezogen.
Da waren Sie 13, ein schwieriges Alter.
Ja, und es war ein Schock. Nicht so sehr wegen des Lichts und des Klimas. Ich wusste das meiste über Frankreich, aber meine Mitschüler und Lehrer hatten nur Klischees über Afrika im Kopf. Dass es Giraffen und Elefanten gibt und wir in Hütten am Fluss wohnen. Zugesetzt hat mir die totale Abwesenheit von Neugier. Nach dem Motto: Solange du nicht wie wir wirst, interessieren wir uns nicht für dich.
Und obwohl Französisch meine Muttersprache ist, hatte ich Probleme, die Leute zu verstehen.
Inwiefern?
Die Umgangssprache und der Slang, in den auch arabische Wörter eingeflossen sind, waren neu für mich. „Verlan“ …
… ein Spiel mit Wörtern, bei dem man Buchstaben verdreht: „Femme“, Frau, wird etwa zu „meuf“ …
… existiert überhaupt nicht in Burundi. Dort spricht man auch nicht so schnell wie in Frankreich. Sondern l-a-n-g-s-a-m, weil einen viele Leute nicht gut verstehen, obwohl Französisch eine der Amtssprachen ist. Außerdem gehörte das Land in der Kolonialzeit zu Belgien, deshalb gibt es Ausdrücke von dort. Und natürlich reichlich Wörter aus afrikanischen Sprachen. Sandalen haben wir immer nur „Kamambili“ genannt, wie sie auf Suaheli heißen.
Sie haben mal gesagt, dass Sie das Französisch in Frankreich erst durch das Hören von Rap gelernt haben. Später wurden Sie selbst Teil dieser Szene.
Ich habe schon in Burundi begonnen, Gedichte zu schreiben. Mir hat das geholfen, mit der Welt klarzukommen. Manchmal hatte ich Angst, zu sterben.
Im Buch wird Gabriel Zeuge, wie Jugendliche vor einem Postamt einen Mann steinigen.
Solche Szenen habe ich erlebt. Man ging auf den Markt und sah, wie jemand gelyncht wurde. Die Polizei tat nichts. Die Gewalt war banal geworden. In Frankreich wurde das Schreiben immer wichtiger für mich, weil ich nicht wirklich mit meiner Familie und meinen Freunden reden konnte. Ich war einsam, und der Hip-Hop sprach von den Dingen, die mich beschäftigten, zum Beispiel vom Rassismus in der französischen Gesellschaft. Das Schreiben war etwas sehr Ernstes für mich. Inzwischen versuche ich, es nicht mehr so zu sakralisieren.
In Deutschland assoziiert man mit dem Französischen Verfeinerung oder Romantik. Bei Rap denkt man eher ans Englische.
Englisch ist ganz klar die Sprache des Grooves. Weil es weniger Konsonanten wie R, P und T gibt, die den Fluss blockieren würden. Rein musikalisch funktioniert das viel besser. Auf der anderen Seite kann Französisch eine poetische Kraft entfalten, die ich kaum in englischen Liedern finde. Heute ist Hip-Hop längst keine Underground-Bewegung mehr, sondern demokratisiert und kommerzialisiert. Deshalb spielen die Texte eine weniger große Rolle. Es geht um den Flow. Die Rapper in den 90er Jahren benutzten zwar die Sprache der Straße, aber sie hatten Respekt fürs Französische.
Auch in Ihren Songtexten tauchen Begriffe auf, die in keinem Wörterbuch stehen. Was heißt „Panam“?
Das ist Slang für Paris. Paris, das ist ein Postkartenmotiv, Panam dagegen die Stadt, in der man lebt und wo sich das echte Leben abspielt.
Für Sie war klar, Sie rappen in Ihrer Muttersprache?
Ja. Sie reflektiert die eigenen Empfindungen am stärksten. In Frankreich findet man heute auch viel englischsprachigen Pop. Das ist einfacher. Wenn ein Franzose auf Französisch singt, macht er sich angreifbar. Dann könnte ja ein Kritiker kommen und sagen: Wie naiv!
Lernen Sie von klassischen Chansons?
Ich bewundere Interpreten wie Georges Brassens oder Léo Ferré. Ein Chanson von ihnen genügt, um zu verstehen, welchen Reichtum die französische Sprache bietet. Oder nehmen Sie „Les Vieux“ von Jacques Brel, „Die Alten“. Jeder, der seine Großeltern mal besucht hat, wird sich darin wiederfinden. Es ist universell.
Französisch wird in Dutzenden von Ländern gesprochen. Wie eng ist die Verbindung zwischen den Musikern in der frankophonen Welt?
Wer wirklich etwas werden will, muss es in Paris schaffen. Egal, ob er aus der Elfenbeinküste oder Belgien kommt. Das gilt natürlich auch innerhalb Frankreichs. Als Rapper aus Marseille oder Bordeaux hast du selbstverständlich in die Hauptstadt zu gehen. Das Land ist eben zentralistisch.
Fühlen Sie eine besondere Nähe zu anderen Französischsprachigen?
Es zählt die Begegnung mit einem Menschen, nicht die Sprache, die er spricht. Weil Französisch so international ist, vermischt es sich mit der jeweiligen Umgebung und wird dadurch geprägt. Wenn Sie Bücher aus Haiti lesen, stoßen Sie auf Französisch ganz anderer Art: farbenfroh und beinahe barock, wo ein Pariser kurz und direkt formulieren würde. Die karibischen Autoren waren meine erste Liebe, als ich in der Pubertät die Literatur entdeckte. In ihren Romanen fand ich eine sinnliche Sprache, die vom Körper erzählt, der Sonne, den Elementen – und auch von der „mixité“, den Abstufungen der Hautfarbe. Damit konnte ich damals mehr anfangen als mit den französischen Klassikern, weil es in diesen Büchern nur Weiße gibt.
Ihr erstes Solo-Album heißt „Pili Pili sur un croissant au beurre“. Chili und Croissant, das sind Sie?
Ja, es geht um meine doppelte Herkunft: Frankreich und Afrika, Schwarz und Weiß …
… das Drama aller Kinder mit gemischtem Hintergrund, haben Sie in einem Interview gesagt, sei die Erklärung: „Du bist Hälfte / Hälfte.“
Der Vater empfindet sich als hundertprozentige Person, die Mutter auch – wieso sollte das beim Kind anders sein? Es ist genauso komplett, ein Ganzes. Hinzu kommt: Sehr oft gewinnt bei gemischten Paaren leider eine Kultur die Hoheit über die andere. Ich habe das in Burundi erlebt, da war es immer die westliche, die französische oder belgische Kultur, die stärker war als die afrikanische. Als Kind übernimmt man diese Perspektive.
Barack Obama wird als Schwarzer bezeichnet, obwohl er eine weiße Mutter hat.
Pah, bizarr! In der kreolischen Kultur würde man ihn selbstverständlich als gemischt betrachten. Für Menschen wie uns gibt es keine Realität, weder in den USA noch in Europa oder Afrika.
Mit Ihrer Frau, franko-ruandisch wie Sie, und Ihren zwei Kindern leben Sie jetzt in Kigali, der Hauptstadt Ruandas. Eine Suche nach Ihren Wurzeln?
Ruanda war ein Land, von dem in meiner Familie immer die Rede war, ohne dass ich es wirklich erlebt hätte. Das wollte ich ändern. Außerdem war für meine Frau und mich klar, dass auch unsere Kinder Ruanda nicht nur gerüchteweise oder durch die Geschichte des Genozids kennenlernen sollten. Ursprünglich war ein Urlaub geplant, aber der reichte nicht aus. Wir leben seit zwei Jahren dort.
Gefällt es Ihnen?
Positiv ist, dass die Menschen an die Zukunft glauben. Daran, dass sie es besser haben werden als ihre Eltern. Wenn man aus Frankreich kommt, wo die jungen Leute der festen Überzeugung sind, dass sie keine Rente mehr bekommen werden und grundsätzlich alles schlechter wird, ist das schon was.
Ruanda gilt als Vorzeigeland Afrikas, mit relativer politischer Stabilität und Wirtschaftswachstum.
Nach dem Genozid haben sich die Leute in die Arbeit gestürzt und das Land wieder aufgebaut. Die Bevölkerung wächst stark. Kann die Wirtschaft, die vor allem bäuerlich geprägt ist und zum Beispiel auf der Produktion von Tee und Kaffee beruht, den vielen jungen Leuten Arbeit geben? Auch mit der politischen Stabilität ist es schwer. In den Nachbarländern, im Kongo, in Burundi, gibt es überall Konflikte. Kigali zu beschreiben, ist fast unmöglich, so schnell verändert es sich derzeit. Fest steht: Es ist sicher die sauberste Metropole Afrikas. Man kann buchstäblich vom Boden essen.
Wie ist das Verhältnis von Hutu und Tutsi heute?
Mittlerweile sind 23 Jahre vergangen, viele Täter haben ihre Haftstrafen abgesessen. Es ist ruhig. Aber es kann passieren, dass ich mit einem Freund im Restaurant sitze, und er sagt zu mir: Siehst du den Typen, der da hereinkommt – der hat all meine Brüder und Schwestern getötet.
Sie sind Teil der französischen Organisation „CPCR“. Deren Ziel ist es, Täter aufzuspüren und sie zur Verantwortung zu ziehen.
Nach dem Genozid haben sich viele Täter in alle Welt abgesetzt, manche von denen wurden in Ruanda verurteilt und werden von Interpol gesucht. Wir wollen die aufspüren, die nach Frankreich geflohen sind. Wenn uns einer anruft und sagt, es gibt da diesen Mann in unserem Dorf, das könnte der und der sein, dann überprüfen wir das und stellen ein Dossier zusammen, das wir an die Untersuchungsrichter in Paris übergeben. In drei Prozessen konnten wir zwei Verurteilungen erreichen. Es ist unerträglich, dass mutmaßliche Mörder unbehelligt in unserem Land leben können.
Ihr zuletzt veröffentlichtes Album heißt „rythme et botanique“. Rhythmus und Botanik, beschreiben diese Worte Ruanda?
Ich arbeite mit ruandischen Musikern zusammen, also, es gibt schon jede Menge Rhythmus, aber insgesamt ist es ein sehr stilles Land. Was die Botanik angeht: Ruanda liegt auf einem Hochplateau und wirkt wie ein großer Garten. Überall wachsen Bougainvillea, Birkenfeigen, Hibiskus. Meine Lieblingsgegend heißt Virunga. Die Landschaft dort ist beinahe fantastisch – eine Vulkankette an der Grenze zum Kongo. Es wird sehr kalt und regnet viel. In der Gegend leben Berggorillas, das Grab der Affenforscherin Dian Fossey ist in der Nähe.
Wollen Sie dauerhaft bleiben?
Das würde ich gerne. Für mein nächstes Album muss ich aber erst mal zurück nach Paris, in Kigali ist das technisch nicht möglich. Vielleicht werden wir in der Zukunft in beiden Ländern leben, allerdings wäre das nicht so gut für die Kinder.
In Ihrem Lied „Métis“, Mischling, rappen Sie: „Ich bin überall bei mir / ohne jemals am richtigen Platz zu sein / Mein einziges Heimatland bin ich selbst.“
Wenn man einmal ins Exil musste, bleibt man für den Rest seines Lebens exiliert. Der Ort, an dem ich mich wirklich zu Hause gefühlt habe, war das Burundi meiner Kindheit. In meinem Roman versuche ich, dieses verlorene Paradies festzuhalten.
In einer Fernsehdokumentation erzählt Ihr Vater, Ihre Mutter habe immer Französin werden wollen – und er selbst Afrikaner. Wo lebt er jetzt?
In Togo. Im Herzen ist er Afrikaner. Und gleichzeitig ist er Franzose geblieben, so wie meine Mutter Ruanderin. Beide hatten gleichermaßen Lust, eine andere Kultur zu umarmen. Man sollte nicht dazu verdammt sein, den eigenen Wurzeln treu zu bleiben. Sich woanders neu zu erfinden, das ist Teil der Schönheit des Lebens.
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