Verkehr in Italiens Hauptstadt: Zwei Räder für Rom
In Italiens Hauptstadt kommen auf 100 Einwohner 76 Autos. Es gibt immerzu und überall Stau – und nur einen einzigen längeren Radweg. Doch nun treibt die Krise die Römer aufs Fahrrad. Tutto bene? Ein Selbstversuch.
Dass das italienische Volk sich ein Parlament gewählt hat, das ohne Mehrheit reglos feststeckt, ist seit vier Wochen Thema der Nachrichten. Dass auch außerhalb des Parlaments, auf Italiens Straßen, mehr stillsteht als sich bewegt, ist schon lange keine Nachricht mehr; das ist nämlich seit Jahrzehnten Alltag. Das automobilste Land in Europa ist zugleich das wohl immobilste.
Doch nun tut sich etwas. Alberto Fiorillo merkt es jeden Tag auf seinem Weg zur Arbeit. Für den nimmt er das Fahrrad. Es ist sein Transportmittel. Damit ist er eine Rarität in Italien. Jedenfalls bisher gewesen. Noch vor kurzem galt: Wenn seine Landsleute Rad fahren, dann zu Ausflügen, querfeldein, oder im knallbunten Lycrazwirn als Rennradler, aber auf keinen Fall einfach so, um von hier nach da zu gelangen. „Überall sind Räder. Nur nicht in der Stadt“, sagt Fiorillo. Dort radeln nur die Leute aus jener Mini-Minderheit, zu der er selbst seit langem zählt.
„Früher“, sagt Fiorillo, „habe ich alle Radler gegrüßt, denen ich begegnete.“ Weil er sie alle kannte. Inzwischen aber kämen ihm Leute entgegen, auf dem Rad mitten in der Stadt, die er noch nie im Leben gesehen habe.
Der jungenhafte Endvierziger ist Sprecher des italienischen Umweltverbands Legambiente und außerdem eine Art politischer Kampfbiker. Über das Radfahren in einem autoverrückten Land hat er 2012 ein spöttisches kleines Buch geschrieben, „No bici“ (Räder verboten), das mit einer Verkehrspolitik abrechnet, die nur von Benzin angetrieben wird – in Rom sind pro 100 Einwohner 76 Autos zugelassen (in Los Angeles 57, in Berlin etwa 32) – und das dennoch gute Rad-Nachrichten hat: 2001 hätten nur 2,9 Prozent der erwachsenen Italiener ihr Rad als Transportmittel im Alltag genutzt. Im vergangenen Jahr waren es schon neun Prozent. Die Tageszeitung „La Repubblica“ meldete im Herbst auf der Titelseite einen historischen Rekord: Erstmals seit Kriegsende wurden in Italien mehr Räder gekauft als Autos neu zugelassen. Gekauft von Menschen, denen das Benzin zu teuer geworden ist, um doch nur quälend langsam vom Fleck kommen. Von Menschen, denen die Stadt voller Abgase stinkt, von Menschen mit Lust auf Bewegung.
Ich bin zum ersten Mal dabei. Seit ich vor 20 Jahren in eine römische Familie einheiratete, habe ich mich in Rom nie aufs Rad gewagt. Zu gefährlich, zu anstrengend, die vielen Hügel – alle warnten, und ich, die ich in Berlin für jeden Weg das Rad nehme, habe ihnen geglaubt. Schluss damit jetzt. Ich wage den Selbstversuch.
Die Strecke, die ich mir aussuche, ist rund zwei Kilometer lang, ein Klacks. Vom Petersplatz zum Platz Largo Argentina auf der anderen Seite des Tibers. Ich starte auf der Via della Conciliazione, dem breiten Boulevard vor Sankt Peter. Doch schon nach etwa zweihundert Metern ist Schluss, ich muss absteigen. Zwischen mir und dem Tiber steht der übliche Stau all’italiana, ein Knäuel von Autos und Mopeds, auf den Fahrspuren, zwischen den Fahrspuren.
An der Blechbüchsenarmee vorbei ist kein Durchkommen. In geschlossenen Reihen schiebt sie sich zentimeterweise voran und verbaut mir jeden Weg. Hinter, vor und neben mir quetschen sich noch weitere Autos und Motorroller in den kriechenden Verkehr, aber mich lässt niemand rein. Es ist, als sei ich gar nicht da. Als die Ampel auf Rot springt, beschließe ich, zu den Fußgängern zu wechseln. Schiebe mein Rad durch die Lücken zwischen den Stoßstangen hindurch und erreiche die Brücke. Wir bleiben erst einmal Fußgänger, mein Rad und ich. Bis wir den Largo Argentina erreichen, muss ich noch einige Male absteigen.
Platz für Fahrräder? Nicht hier. Es gibt praktisch kein Radwegenetz und nur unten am Tiberfluss einen erwähnenswerten längeren Radweg. Vor den „ciclisti“, den Radfahrern, erklärt Alberto Fiorillo, habe in der Politik niemand Angst. „Unsere Bürgermeister teilen die Bürger lieber in abgegrenzte Interessengruppen ein, statt über so etwas wie das Gemeinwohl nachzudenken. Sie haben zum Beispiel Angst, Tempo 30 einzuführen, weil sie fürchten, die große Gruppe der Autofahrer zu verprellen.“ Als ob Autofahrer nur Autofahrer wären und nicht auch Menschen, die gern bessere Luft atmen wollen, oder Eltern und Großeltern, die sich für die eigenen Kinder sicherere Straßen wünschen.
Ärger mit dem Carabiniere
Im römischen Dauerstau sind 30 Stundenkilometer sowieso ein frommer Wunsch. Den ironisch „Giro tartaruga“ (Schildkrötenrennen) getauften Wettbewerb der Legambiente, ein Rennen Auto gegen Rad, das jährlich ausgetragen wird, gewinnen regelmäßig die Radler. Aber damit, sagt Fiorillo, seien die Leute leider kaum zu überzeugen. Er sage ihnen: „Mag ja sein, dass dein Auto schnell ist, aber du bist es nicht. Nicht im Stadtverkehr.“
Im Sattel ist das anders. Schon mein nächster Ausflug wird das reine Vergnügen. Ich rolle, und während die Entfernungen schrumpfen, wird der Blick auf die Stadt weiter. So viele Jahre habe ich mir auf diesem Kopfsteinpflaster und dem löchrigem Asphalt die Füße müde getreten, wenn ich nicht selbst Teil der Autokarawane war oder nicht auf einen der Busse warten wollte, deren Taktzeiten meist Theorie sind. Rom ist nun einmal für jede Art der Fortbewegung ein hartes Pflaster. Die Metro ist flott und zuverlässig, doch sie hat es seit Jahrzehnten auf nicht mehr als zwei Linien gebracht.
Ich dagegen habe gerade das Gefühl, fliegen zu lernen. Den Kapitolshügel runter und rauf auf die majestätische Piazza Venezia, aus der das Jahrhundert Henry Fords einen großen Autokreisel gemacht hat. Mir kann’s, jetzt zumindest, egal sein; ich halte mich am rechten Rand des Hexenkessels und biege Richtung Kaiserforen ab. Die Via dei Fori Imperiali, Mussolinis Prachtstraße, für die er ein ganzes Altstadtviertel abreißen ließ, ist so breit, dass ich einen ganzen Boulevard lang keine Angst vor der Konkurrenz auf vier Rädern haben muss. Vorbei an schnaufenden Touristen – zu Fuß, die Ärmsten! – und mit breiter Brust dem Colosseum entgegen. Nach links in die Via Cavour. Sie führt den Esquilin-Hügel hinauf, ich muss ein bisschen strampeln, aber ich bin schließlich richtig in Schwung. Und auf halber Höhe will ich sowieso einkaufen gehen.
„Signora, haben Sie hier länger zu tun?“ Gerade habe ich mein Rad an einer Werbetafel angeschlossen, die einen für römische Verhältnisse geradezu verschwenderisch breiten Bürgersteig zur Fahrbahn hin begrenzt. Nun steht dieser Carabiniere da und will etwas von mir. Ich schaue ihn verblüfft an. Noch nie bin ich in Rom den Straßenverkehrsordnern ins Auge gefallen, weder beim Falschparken noch beim Ampelignorieren.
„Ich will nur in dieses Geschäft hier, wieso?“
„Nun ja, Ihr Rad könnte Fußgänger behindern. Und wenn jemand mit dem Kinderwagen vorbeiwill ...“
„Ist es denn verboten, hier sein Rad anzuschließen?“
„Na, verboten vielleicht nicht.“
Das gutmütige Mondgesicht verzieht sich etwas verlegen. „Aber man muss aufpassen. Inzwischen, ich weiß nicht warum, vielleicht ist es die Krise, fahren sie alle Rad und parken, wo’s ihnen passt.“
Das mit der Krise sieht nicht nur mein Carabiniere so. „Wir stecken mitten in einer Phase der Entmotorisierung“, sagt Massimo Nordio, „und ich sehe nicht, dass sich das ändert, auch wenn die Wirtschaftskrise irgendwann überwunden ist.“ Nordio ist seit dem vergangenen Sommer Italienchef von Volkswagen. Ein heikler Markt. Sicher, auch die laufenden Kosten und der hohe Benzinpreis ließen das Auto immer unattraktiver werden. Aber, so Nordio kürzlich in einem Zeitungsinterview, da sei noch mehr: „Die Beziehung zum Auto ändert sich, nein sie kehrt sich um, besonders in der jüngeren Generation.“ Low-cost-Flüge in alle Welt, per Zug in drei Stunden von Rom nach Mailand, dazu Skype und Facebook, die einem Freunde und Kolleginnen noch schneller nahebrächten als Auto, Bahn und Billigflieger. „Das Auto“, sagt Nordio, der vor seinen Stationen bei Ford, Toyota und VW in der Werbebranche tätig war, „ist nicht mehr konkurrenzfähig. Es ist folglich nicht einmal mehr nötig.“
So schwarz wie der Automanager sieht nicht einmal Alberto Fiorillo die Lage des Autos. Aber eine Krise der Autokultur, die gebe es tatsächlich, auch in Italien. „Etwas, das einen täglich auf der Stadtautobahn einsperrt – kann das wirklich ein Statussymbol sein?“ Das Auto sei zwar nicht grundsätzlich am Ende, „in der Stadt allerdings schon“.
Und natürlich spielt eine Rolle, dass viele es sich in der Krise nicht mehr leisten wollen, mit dem Auto sinnlos im Stau zu stehen – bei aktuellen Benzinpreisen von um die 1,80 Euro pro Liter. Einer von fünf Italienern jedenfalls gibt in Umfragen an, den Wagen seltener zu nutzen.
„Licht, Signora?“ Der Mann an der Theke des Fahrradverleihs ist ein bisschen erstaunt. „Ach so, ja. Paolo, hast du noch ein Rad mit Licht?“ Hat er, der Kollege. Mit Rücklicht. „Das ist doch das Wesentliche, Signora“, sagt Paolo, als er das neue Rad aus dem Lager geholt und vor mir abgestellt hat. „Sie müssen gesehen werden. Was von vorn kommt, sehen Sie ja sowieso.“
Die letzte Probe: der Radweg am Tiber
Ich bin hier, um meinen Vertrag zu verlängern. Nach den hoffnungsvollen ersten Tagen kommt ein Verzicht aufs Rad für den Rest dieser Ferien nicht mehr in Frage. „Bici e baci“, der Fahrradverleih nah am Bahnhof Termini, war ein Tipp von Freunden, nachdem ein Versuch mit dem Bikesharing-Service der Stadtverwaltung von Rom gescheitert war. Nach ein paar vergeblichen Anläufen am zentralen Fahrkartenschalter von Atac, Roms öffentlichem Nahverkehrsunternehmen, an der Spanischen Treppe stand ich schließlich mit zehn Seiten Mietvertrag da. Aus einigen vage formulierten Paragrafen konnte ich nur den Schluss ziehen, dass ich ein Kettenschloss fürs städtische Leihrad schon selbst mitzubringen hätte.
So wurde ich Kundin des staatsfernen Kleinunternehmens in der Via del Viminale. Die Sache mit dem fehlenden Vorderlicht – nun ja. Mit oder ohne, Tag oder Nacht: Uns auf den Rädern hat sowieso keiner der andern Verkehrsteilnehmer in Rom auf der Rechnung. Dafür nehmen die robusten Reifen der Räder von „Bici e baci“ auch die holprigsten Altstadtgassen und auf die Bremsen ist bei jeder Schussfahrt Verlass. Das ist lebenswichtig in dieser Stadt der offiziell sieben, tatsächlich viel mehr Hügel, die man nicht nur rauf-, sondern vor allem wieder hinuntermuss. Was gefährlich ist und ohne gute Bremsen selbstmörderisch. Rechts droht eine Autotür, links hält der fließende Autoverkehr nur Zentimeterabstand. So weit wie zu Hause, nur auch noch abschüssig.
Dafür bleibt man umgekehrt von Beschimpfungen verschont. Fäusteschütteln aus dem Beifahrerfenster, Wutgeschrei beim Ampelstopp? Nicht hier. Dies ist der Lohn der größeren Angst: Radfahrer in der Stadt sind in Rom noch immer eine Art Sehenswürdigkeit. Hier trifft einen eher einmal ein Lächeln, ein Blick voller Einverständnis. „Brava, Signora!“, ruft mir ein Passant zu, als ich an ihm vorbei hügelab sause. „Sie machen’s richtig, Sie verpesten hier nicht die Luft!“
Eine letzte Probe steht an: der Radweg am Tiber. Dafür wuchte ich mein Leihrad zunächst die 68 Travertinstufen zum Fluss hinunter. Und stehe unten angekommen vor schwarzen Müllsäcken. Auch aus den grünen Fluten daneben steigt ein strenger Geruch auf. Dafür ist der Verkehrslärm hier unten nur noch ein fernes Rauschen. In zwei Richtungen erstreckt sich ein breiter autofreier Weg. Die „pista ciclabile“ erweist sich als echter Ausweg aus dem Chaos weiter oben. Sie ist ein kleines Paradies der friedlichen Koexistenz. Durchtrainierte US-Läuferinnen, joggende römische Beaus, kleine Familienausflügler auf quietschrosa Stützrädern und tatsächlich ein paar Zweckradler, die rasch von A nach B wollen. Alle haben hier Platz, weggeklingelt wird niemand.
Die freie Fahrt währt immerhin fast sechs Kilometer. Sankt Peter im Rücken mache ich flott Strecke, vorbei an Tiberinsel, Synagoge, am Szeneviertel Trastevere. Drei Brücken später ist dann allerdings Schluss. Eine Wellblechwand versperrt Weg und Sicht. „Radweg zu Ende“, steht auf einem Schild.
Also umdrehen und zurück. Hinein in einen spektakulären Sonnenuntergang, Postkartenpanorama mit Pinien und am Horizont der „cupolone“, die mächtige Kuppel des Petersdoms. Genau dort, auf vatikanischem Boden, wurde vor zwei Wochen so viel Radreklame gemacht, wie sie sich das bei Legambiente nur wünschen können: Ein französischer Kardinal wurde fotografiert, als er dem Rummel ums Konklave per Rad entkommen wollte. Und dem neu gewählten Papst wird nicht nur eine Schwäche für den öffentlichen Nahverkehr nachgesagt, es heißt, er fahre auch gerne Rad.