Fracking und Ölboom in den USA: Wo die wilden Kerle wohnen
Fracking ist der neue Goldrausch: Zehntausende wollen im Norden der USA ihr Glück machen. Auf den Frackingfeldern schuften sie 16 Stunden am Tag. Viele halten das nur mit Drogen aus. Und die Gewalt steigt rasant.
Highway 1804 führt schnurgerade durch die karge Landschaft Nord Dakotas, brach liegende Felder rechts und links der zweispurigen Landstraße. Der braune Boden ist hart gefroren. Bohrtürme und mächtige Pumpen fragmentieren die Landschaft, sie sind weithin sichtbar. Auf und ab bewegen sich die Metallkolben, die Szenerie wirkt wie eine Kulisse aus dem Film „Giganten“, in dem James Dean als Jett Rink in Texas dem Ölrausch verfällt.
Über die Straße donnern Tankwagen und wuchtige Pick-up-Trucks. Dort, wo der Highway anfängt, sich durch die Hügel nördlich des Missouri zu winden, liegen schmale Felstäler. Hier, 13 Meilen außerhalb des Städtchens Williston, machten Polizisten im Winter eine brutale Entdeckung. Wie Sperrmüll hatte jemand eine Matratze abgeladen, darunter, nur notdürftig versteckt, eine Leiche. Das Gesicht des Mannes war entstellt durch einen Schuss aus einer 9-Millimeter-Pistole. Es war der 29. Januar.
Zehn oder elf Tage zuvor waren in einem Trailerpark in Williston zwei Männer aufeinandergetroffen, und vieles spricht dafür, dass es an diesem Tag in Williston zuging wie einst im Wilden Westen. Irgendwann war einer der beiden tot: der Landschaftsbauer Juan Palacios, 51, aus Neu Mexiko. Er träumte von Geld und Reichtum und einem neuen Leben nach ein paar Monaten harter Arbeit. Er war seit einem Jahr in Nord Dakota. Sein Mörder stammt aus Mexiko, vor einem halben Jahr landete er im Frackingland.
Ende des 19. Jahrhunderts zogen Männer auf der Suche nach Gold in Richtung Klondike oder in die Black Hills. Heute ziehen Zehntausende aus allen US-Bundesstaaten und selbst aus Europa auf die Ölfelder. Unter der Erde an der Grenze zwischen Nord Dakota und Montana ruhen gigantische Mengen an Schieferöl. Hydraulische Anlagen pressen hier das Wunder der amerikanischen Energieunabhängigkeit aus dem Boden. Im „Bakken“, wie die Landschaft genannt wird, finden 75 Prozent der amerikanischen Förderung statt. Wer hier sein Glück macht, verdient mehr, als ein Einzelner vor Ort ausgeben könnte.
Raubeinige Bohrarbeiter
Das Städtchen Williston, das einst von der Landwirtschaft lebte, ist mittlerweile bekannt für seine raubeinigen Bohrarbeiter. Knapp 30 000 Einwohner leben inzwischen hier, im Zentrum des amerikanischen Frackingbooms. Im gesamten Öldreieck, das aus Williston, dem Ort Sidney im Südwesten und Watford City im Südosten besteht, lebten vor dem Boom zusammengenommen kaum 15 000 Menschen. Nun haben Männer in groben Arbeitsstiefeln, mit Wollmützen und Vollbart die Kleinstädte übernommen. Und das Ölfieber lockt auch zweifelhafte Glücksritter an.
Der „Matratzenmord“, wie sie Palacios Hinrichtung hier nennen, ist eine der spektakulärsten, aber nicht die einzige Gewalttat, die der Ölboom mit sich gebracht hat. Die Sheriffs der Gegend kommen längst nicht mehr hinterher. Sie betteln um mehr Leute und um bessere Ausstattung. In jüngster Zeit hat sich die Situation noch zugespitzt. Die Westernstädtchen werden mit Drogen überschwemmt. FBI-Leute, die Ende vergangenen Jahres die Lage in der Gegend untersucht haben, vergleichen die Situation mit der Kriminalität der Straßengangs in Washington DC und Los Angeles Anfang der 90er Jahre.
Vom südlichen Ende der Second Avenue West, dort, wo der Bahnhof und auch die Stadtgrenze liegen, ragt der historische Kornverladeaufzug in den Himmel. Das hohe graue Gebäude wirkt wie eine Erinnerung an die Zeiten, als Williston noch von der Landwirtschaft lebte. Der Kern der kleinen Stadt sind noch immer die Second Avenue West, die Main Street und die First Avenue East.
Dort, wo die Second Avenue aus Williston herausführt, treffen Tanklastwagen und verdreckte Pick-up-Trucks aus dem Norden auf Tankwagen und schmutzige Pick-ups aus dem Westen. Am Steuer der wuchtigen Fahrzeuge sitzen ausschließlich Männer. Die wenigen Frauen erkennt man meist daran, dass ihre Autos zwei Klassen kleiner sind.
Eine Statistik wie eine Gruselgeschichte
In Richtung Norden führt die Straße vorbei an mittelklassigen, überteuerten Motels, Autohändlern, Schnellrestaurants und Man-Camps, den Schlafcontainer-Siedlungen der Arbeiter, ins Nichts zu den Ölfeldern. Auch in Richtung Westen säumen die Container die Straße, zusammen mit Geschäften von Ölbau-Zulieferern oder Autohändlern. Wer weiter in Richtung Südwesten fährt, überquert die Grenze zum Staat Montana und erreicht nach knapp 70 Meilen den Ort Sidney.
Eine Statistik, die der örtliche Polizeichef von Sidney, Frank DiFonzo, zusammengestellt hat, liest sich wie eine Gruselgeschichte: Die häusliche Gewalt hat hier in den vergangenen fünf Jahren um 148 Prozent zugenommen. Die Zahl der Überfälle stieg um 825 Prozent; Fälle von Drogenmissbrauch um 785 Prozent.
In Orten wie Williston oder Sidney bedeuten diese Daten nur je dreistellige Zahlen. Aber auch ein Spezialreport des Justizministeriums von Montana zur Kriminalität im gesamten Bakken listet 227 Prozent mehr Straftaten auf als vor fünf Jahren – vor dem Boom. Inzwischen gebe es auch hier, sagt DiFonzo, Menschenhandel, Prostitution, Leute, die hierher zum Arbeitern verschleppt würden. Und fast immer spielen Drogen dabei eine Rolle.
Am Ortsrand von Sidney fährt Police-Officer Thomas Tighe langsam mit seinem Streifenwagen durch die Dunkelheit. Tighe ist ein unauffälliger Mann mit dunklen kurzen Haaren und einer Brille. Am Gürtel seiner schwarzen Uniform hängen Handschellen, Taschenlampe, Schlagstock und ein Funkgerät. In seinem Wagen ist zwischen den beiden Vordersitzen ein Gewehr gesichert. Links der Straße kann man kleine Einfamilienhäuser erkennen, rechts ist nur noch freies Feld. Viele einzelne Flammen in der Nacht zeigen an, wo in der Ferne die Ölpumpen stehen. Tag und Nacht wird dort aufsteigendes Gas verbrannt.
"Früher war hier nichts Besonderes"
Ruhig spricht Tighe während der Fahrt über die Veränderungen in der Gegend. „Früher war hier nichts Besonderes“, sagt er. Zuckerrüben haben sie verarbeitet. Das war aber auch schon das Aufregendste, was man seit der Schlacht am Little Bighorn im Juni 1876 sagen konnte, als die Indianer unter ihren Häuptlingen Sitting Bull und Crazy Horse das 7. US-Kavallerieregiment von General Custer schlugen. Bis vor zwei Jahren. Da fand Tighe den Joggingschuh.
Er lag einfach da, im Dreck. „Dort drüben.“ Officer Tighe verringert das Tempo seines Wagens und deutet in die Dunkelheit. Der Pfad am Feldrand neben der Holly Street East war die übliche Laufstrecke von Sherry Arnold. Die Lehrerin lief sie auch am 7. Januar 2012 noch vor Sonnenaufgang entlang. Nur zurück kam sie nicht.
Das komplette Polizeirevier der kleinen Gemeinde schwärmte aus, um sie zu suchen. Hunderte Freiwillige aus dem Ort schlossen sich an. Gefunden haben sie nur diesen einen Schuh. Tighe war derjenige, der mit dem Fund zum Haus der Familie fahren musste. „Da wussten wir alle, dass sich etwas verändert hat“, sagt er. An dem Tag, an dem Arnold verschwand, ist die kleine Welt der Bürger von Sidney zerbrochen.
Dem Mann, der Sherry Arnold ermordete, droht heute selbst die Todesstrafe.
Die Drogenprobleme in der Gegend haben viel mit den Ölfeldern zu tun
Eine Schleuse zwischen zwei stabilen Metalltüren führt in den Haftbereich des Gefängnisses von Sidney. Die kahlen Wände sind in einem beige-weißen Farbton gestrichen, sie wirken kalt. Alles ist ruhig, keine Stimmen sind zu hören. Hinter der Schleuse zweigen verschiedene Trakte ab. In einer Zelle sitzt ein stämmiger blonder Mann in einem orange-weiß-gestreiften Gefangenenanzug an einem kleinen Tisch. Er hat den weißen Gitterstäben den Rücken zugekehrt und starrt auf den Fernseher, der hoch oben an der gegenüberliegenden Wand in seiner Zelle angebracht ist.
Michael Spell war aus Colorado nach Montana gekommen, um auf den Ölfeldern das große Geld zu machen. Den Kopf vollgedröhnt mit Methamphetamin, haben er und ein Kumpel die Lehrerin Sherry Arnold überwältigt und umgebracht. Aus Mordlust im Drogenrausch, so hat Spell es den Ermittlern selbst erzählt.
Das Methamphetamin oder Crystal Meth gibt es hier für 3000 Dollar die Unze, etwa 29 Gramm. Vor drei oder vier Jahren kostete die gleiche Menge des aufputschend wirkenden Pulvers, das als gefährlichste Droge der Welt gilt, noch um 600 Dollar. Aber auf den Ölfeldern ist alles überteuert, auch die Drogen, selbst Abhängige haben hier das Geld, um solche Preise zu zahlen. Die Dealer haben es nicht nötig, das Zeug zu verschneiden. Die Drogen, die die Fahnder untersuchen, kommen in der Regel aus dem Süden. Mexikanische Kartelle haben den Markt übernommen.
Die Drogenprobleme in der Gegend haben viel mit den Ölfeldern zu tun. Sie haben den Markt geschaffen, nicht zuletzt unter den Arbeitern. Die schuften 16 Stunden am Tag, die Wege sind lang, die Nächte kurz. Kaffee reicht da vielen nicht mehr. Das Crystal Meth macht aggressiv, aber es hält die Männer wach. Die Ölfirmen wissen um das Problem. Sie haben strikte Regeln und Drogentests eingeführt.
Zusammen gegen das organisierte Verbrechen
Auch der Staat hat reagiert: Unter Führung der Justizminister von Montana und Nord Dakota arbeiten im „Project Safe Bakken“ seit vergangenem Jahr die Drogenfahnder der DEA, das FBI, das Department of Homeland Security, die Kriminalpolizei der Bundesstaaten, die lokalen Polizeieinheiten, die Highway-Patrol, sogar die nationale Steuerbehörde und der Secret Service zusammen gegen das organisierte Verbrechen.
Um 5 Uhr 59 klingt aus dem Funkgerät von Thomas Tighe eine Frauenstimme. „739“, kontaktiert ihn die Zentrale, „Auffahrunfall auf der Main Street, Höhe 14. Street.“ Zwei Minuten später ist der Polizist am Unfallort. Südlich der Stadtgrenze stehen eine dunkle Limousine und davor ein roter Pick-up-Truck am Straßenrand. Tanklaster brausen vorbei, ein Pick-up nach dem anderen. In der Dunkelheit ist an der Limousine kein Schaden zu erkennen. Tighe sieht sich die Situation genau an. Erst dann steigt er aus und geht zuerst an die Fahrerseite des hinteren Wagens.
Zwei Frauen sitzen darin, er lässt sich die Papiere geben. Hinter dem Steuer des Pick-ups sitzt ein Mann. Auch von ihm nimmt der Polizist Führerscheinkarte und Fahrzeugpapiere. Er geht zurück, setzt sich hinters Steuer seines Streifenwagens und gibt per Funk alle Daten durch. „Keine offenen Haftbefehle“, antwortet die Kollegin in der Zentrale.
Noch während Tighe im Streifenwagen sitzt und alle Informationen in Formulare einträgt, fährt ein schwarzer Chevrolet an die Unfallstelle heran. Er stellt sich vor den Pick-up. Ein Mann in einem schwarzen T-Shirt und schwarzer Base-Cap steigt aus, er geht zum Fenster an der Fahrerseite. „Das wird der Sicherheitsmann der Firma sein“, sagt Tighe ohne jede Überraschung. „Sicherheit ist für die Ölfirmen ein richtig großes Ding geworden.“ Der Fahrer sei ein Ölarbeiter. Die müssten sich bei jedem Vorfall sofort melden. Jetzt bringt er ihn zum Alkohol- und Drogentest.
60 Dollar für eine reine Urinprobe
Wann immer einer der Arbeiter in Probleme verwickelt ist, taucht innerhalb weniger Minuten ein Sicherheitsmann auf. Ohne Drogentest kommt auch keiner in die Man-Camps, die Unterkünfte der Arbeiter, die zu Hunderten entlang der Ausfallstraßen in Williston oder Sidney errichtet wurden. Aber die Tests erfassen nicht die Drogen, die ins Camp eingeschmuggelt wurden. Servicefirmen, die den Ölfirmen zuarbeiten, haben ein weit weniger ausgeprägtes Sicherheitssystem. Und die Männer an den Pumpen und Bohrtürmen haben sich längst auf die Kontrollen eingestellt: Für 60 Dollar kann man eine Probemenge reinen Urins kaufen. Damit der Test auch glaubhaft absolviert werden kann, werden auch falsche Penisse gehandelt.
Neben all den sozialen Problemen, der Gewalt und den Drogen hat der Ölboom dem Westen viel Angenehmes gebracht. Vor allem Geld. Während andere Bundesstaaten noch unter den Folgen der wirtschaftlichen Krise leiden, haben Nord Dakota und Montana auf absehbare Zeit einen Budgetüberschuss. 300 Millionen Dollar seien es im vergangenen Jahr gewesen, sagt Montanas Justizminister Tim Fox.
Auch in Williston, zurück in Nord Dakota, sieht man das Positive. Ward Koeser zum Beispiel, der Bürgermeister, kann endlich wieder mit hoch bezahlten Jobs für seine Stadt werben, mit guten Schulen und einer ethnisch gemischten Bevölkerung. Auf dem Couchtisch in seinem Büro steht eine kleine goldene Figur. Es ist ein Miniaturmodell eines Bohrturms. Ward Koeser sagt: „Es ist wieder ,the land of opportunity’.“ Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Zumindest hier im Nordwesten.
Die zierlichen goldenen Bohrtürmchen verkauft in Williston Tom Ritter. In seinem Schaufenster in der Main Street sind auf rotem Stoff fünf aus Gold gefertigte Arbeitsgeräte in Spielzeuggröße ausgestellt. Die fein ziselierten Bohrtürme glänzen neben goldenen Tanks und zierlichen Ölpumpen auf polierten Holzsockeln. Armbanduhren, Wecker und Manschettenknöpfe sind an den Rand der Auslage gerückt. Der Juwelier präsentiert vor allem seine selbst gefertigten Miniaturmodelle von Bohrstellen im Fenster.
Ritter, ein kauziger Mann um die 70, groß und schmal mit grauem Haar, hat sich aus seiner Werkstatt im Hinterzimmer losgemacht und erscheint vorne im Laden. Die graue Lupenbrille sitzt dem Juwelier jetzt auf der Stirn, das graue Jacket schlackert. Von innen öffnet er die Rückwand des Schaufensters. Er nimmt drei der Modelle heraus und platziert sie auf einer der Vitrinen im Laden. Über das, was die Ölindustrie in die Stadt gebracht hat, sagt er mit grimmigen Kopfschütteln nur: „Mord, Vergewaltigung und Totschlag.“ Fast widerwillig gibt er zu: „Das Geschäft läuft.“
Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.