Chilenische Bergleute: Wir sind Helden
Nein, arbeiten will er nicht mehr, sagt Edison Peña. Er habe jetzt Urlaub verdient. Lebenslang. Die 33 chilenischen Bergleute, die am 13. Oktober aus der Mine San José gerettet wurden, tun sich schwer, ins Leben zurückzufinden.
Edison Peña wartet darauf, erkannt zu werden. Unruhig sitzt der 34-Jährige in einem Café am zentralen Platz von Santiago de Chile, der Plaza de las Armas. Sein Blick springt von einem Passanten zum anderen, er trommelt mit dem rechten Fuß auf das Pflaster. Da bleibt ein Mann vor ihm stehen – Anzug, Krawatte, Mitte 50 –, lässt seinen Aktenkoffer fallen, ruft schrill „Edison Peña!“, holt sein Handy heraus und drückt es einem vorübergehenden jungen Mann in Jeans und T-Shirt in die Hand, mit den Worten: „Das ist Wahnsinn! Das ist er! Machen Sie ein Foto!“
Peña, der Bergarbeiter, der am 13. Oktober aus der Mine San José gerettet wurde, ist jetzt ganz ruhig. Er steht langsam auf, legt einen Arm um den Mann im Anzug, lächelt breit, sieht in die Kamera. Dann drückt der Jeansträger dem Geschäftsmann hektisch sein Telefon in die Hand, ruft: „Ich auch“ und stellt sich neben Edison Peña. Immer mehr Menschen bleiben stehen, ein paar wollen auch Autogramme. Peña unterschreibt, posiert, umarmt, lächelt.
„Die meisten der 33 Minenarbeiter waren im Bergwerk emotional stabiler, als sie es jetzt sind“, sagt Alberto Iturra. Der Psychologe hat die Männer betreut, während sie in der Mine eingeschlossen waren. „Wir haben ihnen ständig Aufgaben gegeben, uns ging es darum, dass sie sich nützlich fühlten. Für das emotionale Gleichgewicht ist das sehr wichtig.“ Jetzt hingegen fühlten sich viele nicht mehr nützlich, und deshalb kämen sie auf dumme Gedanken. Iturra sagt, sie seien vor allem damit beschäftigt, berühmt zu sein und reich, arbeiten wollen sie am liebsten gar nicht mehr. Edison Peña zum Beispiel findet, er habe jetzt ein Recht auf Erholung, am besten lebenslang. „Sie laufen Gefahr, ihr seelisches Gleichgewicht zu verlieren“, sagt Iturra. „Damit es ihnen gut geht, sollten sie sich um ein normales Leben bemühen.“
Doch das normale Leben ist weit weg. Als die Bergarbeiter am 13. Oktober aus der Mine kamen, warteten mehr als 2000 Reporter auf sie. Tagelang verfolgten die Journalisten, Fotografen und Kameraleute die Männer, als wären sie Popstars. Die ganze Welt wollte alles über sie wissen, Bilder sehen, immer wieder. Die 33 sind Stammgäste bei Empfängen im chilenischen Regierungspalast in Santiago und bei Benefizveranstaltungen; öffentlichkeitswirksam werden ihnen Geschenke überreicht, der Chef eines chilenischen TV-Senders hat jedem einen Scheck über 10 000 Dollar gegeben, Firmen haben ihnen Motorräder, Uhren, Reisen geschenkt. Brad Pitt will ihre Geschichte verfilmen. Fernsehsender aus der ganzen Welt zahlen vierstellige Beträge für Exklusiv-Interviews. Edison Peña saß beim ZDF-Jahresrückblick samt Ehefrau bei Thomas Gottschalk auf der Couch.
Drei Tage nachdem Peña die Mine verlassen hatte, war ihm klar, dass sein altes Leben vorbei war. Aus dem Krankenhaus, in dem er sich ein paar Tage erholen sollte, floh er nach wenigen Stunden. Allein mit seiner Frau und deren Tochter wollte er ans Meer fahren, so, wie sie es oft getan hatten, bevor das Unglück passierte. Doch kaum hatte er die Klinik verlassen, waren da hunderte Reporter. Sie verfolgten die drei, auch am Strand waren sie nicht allein.
„Am Anfang war das unangenehm“, sagt Edison Peña, bevor er an der Plaza de las Armas in Santiago das Zentrum der Aufmerksamkeit ist. „Doch irgendwie war der ganze Trubel auch lustig.“ Sein Fuß trommelt jetzt noch schneller auf das Pflaster.
Als viele Reporter nach der ersten Woche wieder nach Hause fuhren, kamen die Fans. Sie warteten vor seinem Haus mit Geschenken, teilweise stundenlang. Ein Israeli saß zwei Tage vor seiner Haustür, und als Edison Peña endlich kam, schenkte er ihm Victory-Zigarren und sagte: „Du bist ein Held“.
Als die Bergleute noch in der Mine waren, versuchte der Psychologe Alberto Iturra, sie auf das Leben draußen vorzubereiten. Er organisierte ein Interviewtraining, damit sie den Umgang mit Journalisten übten, er warnte sie davor, dass die Rückkehr ins Leben nicht einfach sein werde, und hielt sie an, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. „Wir dachten, wir hätten sie gut ausgerüstet“, sagt Iturra.
Edison Peña geht seit seiner Rettung zwar regelmäßig zum Psychologen, aber nur weil er muss – um die finanzielle staatliche Unterstützung nicht zu verlieren, müssen er und die anderen bei den Terminen erscheinen. Am liebsten würde er nicht mehr hingehen. „Mir geht es gut“, sagt er. „Die Zeit in der Mine habe ich überwunden. Ich denke nur noch daran, wenn ich darüber spreche, und schlecht geht es mir dabei nicht.“ Dann erzählt er, wie es für ihn in der Mine war. Genauer gesagt: Er sagt, was die Zeit in der Mine für ihn geworden ist. „Ich habe den anderen Energie gegeben, sie angehalten, sich zu bewegen. Das war wichtig, damit sie nicht aufgaben.“ Er wippt auf seinem Stuhl, spricht schnell. „Wenn ich nicht gewesen wäre, wären sie die ganze Zeit nur apathisch herumgelegen.“
„Um Edison Peña habe ich mir in der Mine oft Sorgen gemacht“, sagt Alberto Iturra. Er sei immer sehr nervös gewesen und habe als Einziger ständig gesagt, dass er es nicht mehr aushalte. „Er war eine Gefahr da unten. Er hätte die anderen nervös machen können.“ Nach einer Pause sagt der Psychologe: „Aber man muss schon ein sehr ausgeglichener Mensch sein, um bei den Eindrücken, die jetzt auf die Männer einstürmen, nicht abzuheben.“
Der Minenarbeiter Pedro Cortes Contreras, 25, will es versuchen. „Ich will wieder so wie vor dem Unglück leben“, sagt er. „Aber natürlich will ich auch ausnützen, dass wir jetzt so einfach so viel Geld verdienen und so viel reisen können.“
Pflichtbewusst geht er alle zwei Wochen zum Psychologen. „Normalerweise geht es mir gut“, sagt er. Nur manchmal komme nachts das beklemmende Gefühl wieder, das er im Berg hatte. Dann müsse er aufstehen, egal, wie viel Uhr es sei, und vor die Tür gehen. Wenn es nicht weggehe, nehme er eine Beruhigungstablette.
Pedro Cortes lebt in Copiapo bei seiner Mutter, in einem kleinen Haus in einem der heruntergekommensten Viertel der Stadt. Er möchte wieder arbeiten, sagt er. Aber in eine Mine will er nicht zurück. Was er sonst machen könnte? Er zuckt mit den Schultern.
Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, hat er kaum. Wegen der vielen Termine bleibt überhaupt einiges liegen. Seit er die Mine verlassen hat, will er zum Beispiel mit seinem Bruder, mit Cousins und Freunden an den Strand fahren. Schon in der Mine sprach er immer über das Meer, über Partys und gutes Essen, wenn er mit seiner Familie telefonierte. Auch seine Familie fuhr vor dem Unglück fast jedes Wochenende an den Strand. Am nächsten Wochenende, das hat sich Pedro Cortes fest vorgenommen, soll es endlich klappen.
„Wie viel Fleisch und Bier brauchen wir?“, fragt sein Bruder Darwin. Die beiden sitzen am Küchentisch und planen den Strandausflug, Darwin hat einen Zettel vor sich liegen, den Stift in der Hand. Da sagt Pedro Cortes plötzlich: „Wir könnten auch die Journalisten einladen, die noch in Copiapo sind.“ Sein Bruder blickt von dem Zettel auf, erstaunt. „Sie sind doch mittlerweile wie Freunde“, fährt Pedro Cortes fort. Darwin sieht wieder auf den Zettel. Später sagt er, dass er ein Wochenende am Strand verbringen möchte so wie früher, ohne Journalisten. „Was brauchen wir noch?“, fragt er jetzt stattdessen.
Doch Pedro Cortes ist bereits weit weg. „Was soll ich in die USA mitnehmen?“, sagt er, fast zu sich selbst. Der TV-Sender CNN hat ihn und die 32 anderen Minenarbeiter eingeladen, eine Woche lang Urlaub zu machen in Kalifornien. Sie sollen in einer Sendung auftreten, in der laut CNN „normale Menschen geehrt werden, die die Welt verändern“. Demi Moore, Renée Zellweger, Halle Berry werden dabei sein und die 33 Bergarbeiter. Es ist das erste Mal, dass Pedro Cortes sein Land verlässt. „Ist es in den USA heiß?“, fragt er. Seinen Bruder und den Strandausflug scheint er vergessen zu haben.
Dann erzählt er von dem Plan, den die Minenarbeiter gerade schmieden. Den Schweigepakt, den sie beschlossen haben, als sie eingeschlossen waren, wollen sie brechen und alle Geschichten gemeinsam auf einer Pressekonferenz verkünden. Der Sender, der ihnen am meisten Geld bietet, soll den Zuschlag bekommen. „Ich denke, es ist gut, wenn die Menschen wissen, wie es wirklich da unten war“, sagt Pedro Cortes. Wenn man die Videos von ihnen in der Mine sehe, könne man denken, sie hätten da unten ein tolles Leben geführt. Aber in Wirklichkeit sei es die Hölle gewesen. „Teilweise war es echt Psychoterror“, sagt er.
Einen Augenblick hält er inne, sein Blick fällt auf den Zettel, der vor seinem Bruder auf dem Küchentisch liegt. Fleisch steht da und Bier, dahinter hat Darwin Fragezeichen gemalt. Pedro Cortes sieht schnell weg.
Am späten Abend, als er schon wieder zu Hause ist, ruft er seinen Bruder an und sagt den Strandausflug ab. Er habe zu viel zu tun mit der Vorbereitung der Reise nach Kalifornien.
„Am besten wäre es gewesen, die Männer hätten sich zehn, vielleicht 15 Tage lang nach der Bergung aus der Mine erholt und dann sofort wieder zu arbeiten angefangen“, sagt der Psychologe Alberto Iturra. „Jetzt laufen sie Wunschvorstellungen hinterher, die von Leuten kommen, die nicht unbedingt das Beste für sie wollen.“
Als sich der Rummel um Edison Peña an der Plaza de las Armas wieder gelegt hat, hält er es nicht mehr lange aus im Café. „Ich habe viel zu tun“, sagt er, blickt auf seine Armbanduhr – ein teures Stück, ein Geschenk des Herstellers – und steht auf. Von Santiago fliegt er nach New York, er wird den Marathon laufen, bei David Letterman auftreten, unzählige Interviews geben, über seine Zeit in der Mine sprechen. Er wird wieder der Held sein.
Mit ihm steht auch seine Frau auf. Sie saß ihm die ganze Zeit gegenüber, doch erst jetzt fällt sie auf, als sie ihm hinterherläuft. Die ganze Zeit hat sie geschwiegen. Später wird sie sagen: „Aus der Mine ist nicht der Mann gekommen, den ich kannte. Ich weiß nicht, ob ich ein Leben an der Seite des neuen Menschen will.“ Und dann wird sie anfügen: „Für mich ist er kein Held. Die wahren Helden sind diejenigen, die ihn aus der Mine geholt haben.“
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