Kälte in Mitteleuropa: Wir frieren - weil am Nordpol das Eis fehlt
Es könnte doch am Klimawandel liegen. Denn wenn wie jetzt in der Arktis weniger Eis das Meer bedeckt, wird es zwar dort wärmer. Dafür kommt aber die kalte Luft in unsere Breiten.
Nach drei Monaten, die eher eine Fortsetzung des verregneten Sommers im vergangenen Jahr als ein richtiger Winter waren, ist es doch noch kalt geworden. Und schon werden wieder Witze gerissen: Klimawandel? Schön wär’s. Doch ist die Februarkälte tatsächlich ein Widerspruch zur These von der globalen Erwärmung? Zwei Forscherteams in Potsdam wundern sich überhaupt nicht über die arktische Kälte, die nicht nur in Deutschland, sondern auch auf dem Balkan und in Nordafrika eingetroffen ist. Denn die sibirisch-arktische Kälte könnte tatsächlich mit dem Klimawandel zu tun haben.
Vladimir Petoukhov vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung (PIK) hat schon 2010 einen Computer mit Daten über die Meereisbedeckung rund um den Nordpol und mögliche Auswirkungen auf die arktische Zirkulation gefüttert. In der Arktis wirbelt die Luft im Uhrzeigersinn um den Nordpol. Nachdem die Eisbedeckung auf der Barents- und der Karasee nördlich von Russland und Norwegen im Winter 2005/2006 besonders niedrig ausgefallen war, untersuchte Petoukhov mithilfe einer Klimasimulation, wie sich die Meereisbedeckung dort auf die typischen Luftdruckverhältnisse über der Arktis auswirkt. „Wir haben eine starke nichtlineare Reaktion auf die Lufttemperaturen und Winde entdeckt“, sagte er schon damals. Die arktische Zirkulation ändert deshalb ihre Richtung in den Gegenuhrzeigersinn. Im Winter 2009/2010 und gerade aktuell „sieht das ganz ähnlich aus“, sagte er dem Tagesspiegel. Direkt vor der Kältewelle „haben wir in der Barentssee eine außergewöhnlich geringe Meereisbedeckung beobachtet“, sagte er.
Der Winter in Berlin in Bildern:
Das bedeutet, „dass der Ozean wärmer ist als die Luft zu dieser Jahreszeit“, sagt Ralf Jaiser vom Alfred-Wegener-Institut (AWI). Jaiser arbeitet in der Forschungsstelle Potsdam des AWI und hat gerade einen wissenschaftlichen Aufsatz über den Zusammenhang zwischen geringer Meereisbedeckung und niedrigerem Tiefdruck über der Arktis veröffentlicht. In diesem Sommer hat die Meereisbedeckung erneut einen Tiefpunkt erreicht. Das Ergebnis ist, dass der dunkle Ozean mehr Wärme aufnimmt, weil weniger Sonnenstrahlen ins All zurückgestrahlt werden. Und weil das Eis fehlt, wird auch mehr Wärme aus dem Ozean an die Atmosphäre abgegeben. Jaiser spricht vom Deckeleffekt, der mangels Eises weniger stark ist. Vor allem im Herbst und Winter wird die Luft über der Arktis also stärker erwärmt als früher, denn der Ozean ist wärmer als die Atmosphäre. Mit dem Ergebnis, dass die warme Luft nach oben steigt und den Tiefdruck über der Arktis vermindert. Das führt dazu, dass die typischen Luftdruckunterschiede zwischen der Arktis und den mittleren Breiten geringer sind als normal. Wenn die Unterschiede groß sind, entsteht ein starker Westwind, der eher warme und feuchte atlantische Luftmassen nach Europa treibt. Wird der Unterschied aber geringer, dann kann kalte Luft aus Sibirien oder sogar aus der Arktis nach Süden und Südwesten vorrücken: sibirische Kälte in Mitteleuropa, wie gerade jetzt.
Mit dieser Beobachtung und statistischen Analysen kann Jaiser zwar erklären, wie es 2005, 2009, 2010 und jetzt wieder zu der viele überraschenden Kälte kam. Doch die milden Monate davor lassen sich damit nicht wirklich erklären. Jaiser sagte dem Tagesspiegel: „Ein paar Phänomene lassen sich durch Mechanismen beschreiben. Doch wie diese Mechanismen zusammenwirken, darüber wissen wir noch relativ wenig.“ Das Klima sei eben „sehr komplex“. Außerdem sei es umgangssprachlich das Mittel des Wetters über mehrere Jahrzehnte. Aus der Beschreibung eines Klimaphänomens lasse sich also kein Wetterbericht erstellen.
Da pflichtet auch Vladimir Petoukhov vom PIK bei. Zwar ist er überzeugt davon, dass der beschriebene Zusammenhang von geringer Meereisbedeckung und einer Veränderung der arktischen Zirkulation vom normalen Uhrzeigersinn zum ungewöhnlichen Gegenuhrzeigersinn die Möglichkeit erhöhen, dass strenge Winter in Mitteleuropa wahrscheinlicher werden. Doch „das ist kein Wetterbericht“, betont auch er. Der Zusammenhang ist übrigens im atlantischen Teil der Arktis stärker als im pazifischen. „Der Einfluss der Meereisbedeckung scheint in Europa stärker zu wirken“, sagte Jaiser.
Für Vladimir Petoukhov folgt aus seinen und Jaisers Forschungen auch, dass es für Laien verständlicher wäre, „wenn Klimaprognosen stärker regionalisiert und nach Sommer und Winter getrennt vorgenommen würden“. Die pauschale Aussage des Weltklimarats (IPCC) zur globalen Tendenz, dass die Winter wegen der globalen Erwärmung voraussichtlich milder werden, zeige sich regional in unterschiedlichem Ausmaß. Zum einen kann es im Wettergeschehen immer Ausreißer nach oben oder unten geben. Und zum anderen zeigt sich auch am Zusammenhang zwischen Meereisbedeckung und ihrem Einfluss auf Luftzirkulationen, „dass die globale Erwärmung regional ganz verschiedene Auswirkungen haben kann“, meint Petoukhov. Für die kommenden Tage jedenfalls ist keine Änderung der Wetterlage zu erwarten. Es bleibt noch einige Zeit eiskalt.