Fall Maddie: Wie Madeleine McCann heute aussehen würde
Experten sind in der Lage, Gesichter auf Fotos altern zu lassen. Lesen Sie hier die ausführliche Dokumentation des Journalisten und Buchautors Michael Jürgs, die der Tagesspiegel im vergangenen Jahr veröffentlichte. Darin wird die Zeit von Maddies Verschwinden präzise rekonstruiert.
Madeleine McCanns Gesicht mag länger und dünner geworden sein – aber Augen und Mund sind auf dem Fahndungsfoto der britischen Polizei unverkennbar. Die britische Phantombild-Zeichnerin Teri Blythe fertigte im Auftrag von Scotland Yard Portraits einer neunjährigen Madeleine an. Die selbsternannte „forensische Künstlerin“ arbeitet mit der britischen Polizei, dem FBI und Organisationen, die nach Vermissten suchen. Teri Blythe nutzt kein komplexes Simulationsprogramm, sondern lediglich Photoshop. „Alterungs-Software“ kombiniert Fotos des Vermissten mit tausenden Fotos von Menschen gleichen Alters, Geschlechts und ethnischer Zugehörigkeit. Blythe hingegen baut ihre Phantombilder neu zusammen.
Die britische Phantombild-Zeichnerin Teri Blythe fertigte die Bilder einer gealterten Maddie
Im Fall McCann sammelte sie zuerst so viele Fotos wie möglich – von Madeleine, aber auch von ihren Eltern im Kindesalter und den siebenjährigen Zwillingsgeschwistern Amelie und Sean. Als Nächstes vergrößerte sie Madeleines Gesicht auf die richtigen Proportionen. Dabei achtete sie darauf, die wichtigsten Erkennungsmerkmale Nasenspitze, Stirn und Kinn nur behutsam zu verändern. Haarfarbe und Frisur von Madeleine musste der auf alten Fotos entsprechen, damit sie Betrachter nicht vom Gesicht ablenkt. Immer wieder traf sich Teri Blythe während ihrer monatelangen Arbeit mit den McCanns und arbeitete deren Hinweise in ihre Bilder ein – bis die Eltern Madeleine wiedererkannten.
In den USA sind solche „gealterten“ Fahndungsbilder seit Jahren gebräuchlich. Medienberichten zufolge sind mehr als 900 vermisste Kinder mit Hilfe dieser Fotos wieder gefunden worden. Sie werden nicht nur an alle Polizeistationen verteilt, sie hängen auch in Supermärkten. Firmen bieten diesen Service auch Privatleuten an. Eltern, deren Kind gestorben ist, können Bilder bestellen, die es im Teenageralter oder nach dem College-Abschluss zeigen.
Rekonstruktion eines Verbrechens
Immer dann, wenn es in Wahrheit nichts Neues gibt, erblühen aus Gerüchten abenteuerliche Geschichten. Eine von denen ist die Geschichte vom Verschwinden eines englischen Mädchens aus einer Ferienanlage an der Algarve am 3. Mai 2007, wenige Tage vor seinem vierten Geburtstag. Die Kleine heißt Madeleine McCann. Was wirklich geschah in jener Nacht, in der sie verschwand, wissen nur der oder die Täter. Und wer die sind, weiß wiederum niemand. Fest steht nur, dass es seit Mai 2007 kein Lebenszeichen mehr gibt von Madeleine, genannt Maddie. Seitdem ist ihre Geschichte bekannt als „Der Fall Maddie“.
Selbst die entscheidende Frage, ob es sich um eine Entführung handelt (Hypothese 1) oder um die „Verdeckung eines tragischen Unfalls“ (Hypothese 2), wie es korrekt in der Sprache von Fallanalytikern heißt, den in Krimis Profiler genannten Experten der Polizei, bleibt unbeantwortet. Nachdem alle kriminalistischen Ermittlungen ohne belastbares Ergebnis geblieben waren, der Einsatz modernster technischer und wissenschaftlicher Untersuchungen vergebens gewesen war, nachdem sich zudem der früh schon aufkeimende Verdacht gegen Madeleines Eltern nicht hatte untermauern lassen, stellte die portugiesische Polizei im August 2008 die Ermittlungen ein und gab vier Wochen später die Akten im Fall Maddie frei.
Im Auftrag des britischen Premierministers David Cameron begaben sich vor ziemlich genau einem Jahr dann aber Spezialisten von Scotland Yard erneut auf Spurensuche – und teilten gestern der Öffentlichkeit mit, vorsichtig formuliert, aber dennoch klar, dass Maddie wahrscheinlich noch am Leben sei. Basis ihrer Erkenntnisse waren die genauen Ermittlungen, Tag um Tag, Stunde um Stunde, Minute um Minute, der Ereignisse damals vor fünf Jahren an der Algarve:
Außergewöhnlich früh für gewöhnlich ausdauernd trinkfreudige Iren verlangt Martin Smith am Abend des 3. Mai 2007 in „Kellys Pub“ die Rechnung, etwa um 21.50 Uhr. Es ist längst dunkel in Praia da Luz, der Atlantik nur hör-, nicht mehr sichtbar, die Luft aber noch frühlingshaft warm. Smith drängt zum Aufbruch. Sohn Peter und Schwiegertochter Aiofe und seine Enkel sind auf der ersten Maschine von Faro zurück nach Dublin gebucht, müssen am nächsten Morgen vor Sonnenaufgang in Praia da Luz losfahren, um pünktlich am Flughafen zu sein. Martin Smith, der als Pensionär frei über seine Zeit verfügen kann, will mit seiner Frau noch an der Algarve bleiben.
Was genau geschah
Zu ihrer Ferienwohnung, etwa fünfhundert Meter von der Strandpromenade entfernt – zu Fuß in zehn bis fünfzehn Minuten erreichbar – gehen sie an diesem Abend auf der Rua da Escola Primaria, die sich zur Siedlung Estrela hinaufschlängelt, fünf Kinder voran, vier Erwachsene dahinter. Es gibt keine Laternen an der Straße, doch der gedämpfte Lichtschein aus den Wohnungen der anliegenden Häuser links und rechts reicht aus, um die Straße halbwegs zu beleuchten. Falls ihnen auf der Einbahnstraße ein Auto entgegenkäme, würden sie dessen Scheinwerfer rechtzeitig sehen, könnten auf den Bürgersteig ausweichen. Der Mann, dem sie etwa dreißig Meter hinter dem Stoppzeichen begegnen, wo ihr Nachhauseweg die Rua 25 de Avril kreuzt, kommt von oben auf sie zu. Auch er geht mitten auf der Straße. Ob sein Gesicht von der Sonne gebräunt ist oder von Natur aus braun, lässt sich im gedämpften Licht nicht ausmachen. Bei einer zufälligen Begegnung unter Fremden, die im nächsten Moment wieder vergessen sein wird, ist das aber auch unwesentlich. Erst viel später wird es wichtig, wesentlich, ja entscheidend sein. Wie sah der Mann aus? Eher wie ein Tourist? Oder eher wie ein Einheimischer? Und wie alt war er?
Martin Smith will sich nicht festlegen, als ihn Wochen später die Polizei befragt. Er schätzt ihn, falls ihn seine nachträglich aufgefrischte Erinnerung nicht trügt, auf fünfunddreißig bis vierzig. Aber auch das ist unsicher. Denn auf die Idee, dass hier an der Algarve, der Sonnenküste Portugals, einem Zentrum des Tourismus, Kinder entführt werden und dass so etwas jetzt vor ihren Augen passiert und dass alles mal wichtig sein würde, was sie sehen, kann bei der nächtlichen Begegnung schließlich keiner der Iren kommen.
Genau jedoch erinnert er sich daran – was auch seine Angehörigen bestätigen–, dass der Mann ein kleines Mädchen in seinen Armen trug, ein Kind mit langem blonden Haar, den Kopf schlafend an seine Schulter gelehnt, drei oder vier Jahre alt. Es war barfuß und bekleidet mit einem weißen oder rosaroten zweiteiligen Schlafanzug. So genau ließ sich das nicht unterscheiden, und auch darauf achtete niemand von der Familie Smith. Wie hätten sie denn ahnen sollen, dass bald ihre Erinnerung an jedes noch so winzige Detail dieser Begegnung wichtig sein würde? Ob es sich bei dem Mädchen auf dem Arm des Fremden um Madeleine McCann gehandelt hat, deren Foto zum Zeitpunkt der Befragung der Smiths bereits in jeder Zeitung abgedruckt, auf allen Fernsehsendern gezeigt worden war? Was bei positiver Beantwortung den logischen Schluss erlaubt hätte, dass es sich bei dem Fremden, der sie trug, um den Entführer Maddies gehandelt haben dürfte.
Das Foto von Maddie ging um die Welt
Da ist der Fall Maddie längst kein lokales Ereignis mehr. Da liegt längst in jeder europäischen Polizeibehörde ein Ersuchen um Mithilfe bei der Fahndung vor. Da hat Interpol längst ein Foto des verschwundenen Mädchens an Kollegen in Australien, den USA, Kanada und den Vereinigten Arabischen Emiraten versendet. Da haben Kriminalisten mit dem Schwerpunkt Kinderpornografie, die sich im weltweiten Netzwerk der Pädokriminellen auskennen, alle Informationen aus Portugal in ihre Rechner eingespeist, um Übereinstimmungen mit ähnlichen Fällen zu entdecken. Da wabern längst die abenteuerlichsten Gerüchte über kriminelle Banden im Netz, die sich angeblich in europäischen Urlaubsgebieten herumtreiben, um dort Kinder zu entführen. Tatsächlich aber gab es keinen einzigen Präzedenzfall, es gab nur diesen einen Fall, den Fall Maddie, deren Gesicht inzwischen, ebenfalls per Internet, weltweit bekannt war.
Befragt nach der möglichen Nationalität des Mannes mit dem Kind auf dem Arm kann Martin Smith nicht mal sagen, ob es sich dabei um einen Briten gehandelt hat, was er an dessen Sprache bzw. Aussprache hätte feststellen können. Den Fremden, der offensichtlich unterwegs war zum Strand, habe er zwar freundlich gefragt, ob seine kleine Tochter eingeschlafen sei und jetzt ins Bett verfrachtet werde. Der Mann aber war ohne ihm zu antworten einfach weitergegangen, was Smith damals als ungehörig empfand, nicht als merkwürdig, und bereits wieder vergessen hatte, als er in seiner Ferienwohnung ankam.
Theoretisch könnte es durchaus sein, dass er auf der Rua da Escola Primaria dem Entführer von Madeleine McCann begegnet ist. Theoretisch könnte es sein, dass die irischen Urlauber die Letzten waren, die Maddie lebend gesehen haben. Theoretisch könnte es sogar sein, dass die Kleine, die der Mann trug, nicht etwa schlief, sondern bereits tot war. Die Beschreibung, die Smith abgab, passte auf das verschwundene Kind. Laut Auskunft ihrer Mutter hat Maddie am fraglichen Abend, als sie ihre Tochter ins Bett brachte, einen zweiteiligen rosaroten Schlafanzug getragen. Maddie hat lange blonde Haare, und dass sie barfuß war, spricht gleichfalls für die Vermutung, dass es Maddie gewesen sein könnte. Denn falls sie tatsächlich aus ihrem Bett geraubt worden sein sollte, dann ist es nur logisch, dass sie keine Schuhe anhatte, weil sie bestimmt mit nackten Füßchen eingeschlafen war. Die Beschreibung des kleinen Mädchens, das Smith auf dem Arm des Fremden gesehen hat, passte insgesamt gesehen also genau auf Madeleine McCann.
Polizeiliche Standards wurden mit Füßen getreten
Theoretisch könnte es sogar so sein, dass der Mann, der sie trug, kein Fremder, sondern ihr Vater war. Portugiesische Detektive hatten ihn, nachdem Robert Murat nichts nachzuweisen war, was einen Haftbefehl begründet hätte, im Laufe ihrer Ermittlungen unter Verdacht. Sie sammelten Belege gegen ihn, aber nichts davon war beweiskräftig. Kritiker warfen ihnen später vor, dass sie andere erfolgversprechende Spuren und Hinweise nicht oder zu spät beachtet haben, weil sie nur noch auf Gerry McCann fokussiert gewesen seien. Was sie bestreiten. Dass am Tatort viele Fehler gemacht, dass sich zeitweise bis zu fünfzig Menschen im Appartement der McCanns aufhielten und dabei natürlich alle möglichen Spuren vernichtet wurden, bevor sie untersucht werden konnten, ist dagegen unstrittig.
Polizeiliche Standards wurden nicht nur bei der Spurensicherung im Haus mit vielen Füßen getreten, auch die folgende weitere Suche war dilettantisch. Ein Spürhund, der sich am Geruch eines Kleidungsstücks von Maddie orientierte, hatte ihre Fährte bis zu einem Supermercado verfolgt, etwa einen halben Kilometer entfernt von der Ferienanlage, und erst da die Spur verloren. Doch statt diese einzige konkrete Spur zu verfolgen, die sie in jener Nacht hatten, statt sofort in der Umgebung des Supermarkts mit einer intensiven Suche nach Maddie zu beginnen, mit entsprechender Manpower systematisch alle Häuser und Wohnungen abzuklappern, blieben die Polizisten untätig und hakten die Spur ab. Wahrscheinlich habe Maddie, so ihre Begründung, in den Tagen zuvor ihre Eltern beim Einkauf in den Supermarkt begleitet und der Hund habe lediglich diese alte Spur erschnüffelt.
„In welchem Abstand ging der Mann an diesem Abend an Ihnen vorbei?“, wurde Martin Smith damals gefragt, als die Begegnung auf der Rua da Escola Primaria rekonstruiert wurde, und der Ire meinte, "allenfalls zwei Meter, eher weniger". Die Straße ist insgesamt nur fünf Meter breit. Wer da parken will, muss sein Auto direkt an einer Hauswand abstellen, damit andere noch Platz zur Durchfahrt haben. In dieser Nacht stand da kein Pkw, die Straße war, bis auf die Iren und jenen Mann mit dem Kind, menschenleer. Und wie spät war es genau, als sie ihn trafen? Auf die Uhr, sagte Smith, habe er nicht geschaut, aber mehr als fünf nach zehn dürfte es nicht gewesen sein, denn von Kellys Pub an der Strandpromenade waren sie kurz vor 22 Uhr aufgebrochen.
In einem einzigen Augenblick war die gelöste Stimmung verflogen
Im Garten des „Ocean Club“, einer bei Briten beliebten Ferienanlage, die umgeben ist von öffentlichen Straßen, eher fahrlässig als streng bewacht von einem Sicherheitsdienst, achtete um diese Zeit niemand mehr darauf, wie spät es war. In einem einzigen Augenblick jedoch war die gelöste Stimmung verflogen, war die Zeit stehen geblieben. Nichts mehr würde ab jetzt so sein, wie es vorher war.
Nur wenige Minuten zuvor hatte die englische Ärztin Kate McCann, Urlauberin aus der Grafschaft Leicestershire, durch ihre Schreie die Ferienanlage aufgeschreckt. „They have got her, they have got her“ – sie haben sie geschnappt –, schrie sie, als sie entdeckte, dass ihre Tochter Madeleine, genannt Maddie, verschwunden war. Jetzt liefen aufgeregte Gäste durch den Garten und die anliegenden Straßen und riefen nach Maddie. Das zumindest steht fest. Doch ab dann gibt es nur noch viele einander widersprechende Aussagen. Die wesentliche Aufgabe der Ermittler hätte es sein müssen, herauszubekommen, welche der unterschiedlichen Aussagen der Wirklichkeit entsprechen und welche nicht stimmen konnten. Nur so hätte sich die Tatzeit eingrenzen lassen.
Gerald McCann attackiert bis heute bei jeder sich bietenden Gelegenheit die portugiesischen Ermittler. Die hätten sich nur darauf konzentriert, Indizien dafür zu sammeln, dass er und seine Frau Kate eine Entführung vorgetäuscht haben, statt sich der Suche nach den wahren Tätern zu widmen. Deshalb seien indirekt diese Kriminalbeamten schuld daran, dass es seit dem 3. Mai 2007 keine konkrete Spur von Maddie gebe, dass niemand wisse, ob sie noch lebt oder ob sie irgendwo gefangen gehalten wird. Die portugiesische Polizei, so McCann, hätte auf ganzer Linie versagt und ihr Versagen zu überspielen versucht, indem sie gezielt ihn und seine Frau verleumdete und verdächtigte. Deshalb habe er die Hilfe von Privatdetektiven in Anspruch nehmen müssen, insbesondere die von einer Agentur namens „Melodo 3“ aus Barcelona, die ein halbes Jahr lang für ein monatliches Honorar von 50 000 Pfund, bezahlt aus den seit 2007 im „Find Madeleine Fund“ angesammelten Spenden, weltweit jeder noch so vagen Spur nachgegangen ist. Allerdings hatten die Katalanen außer einer großspurigen Ankündigung im Mai 2008, kurz vor der Lösung zu stehen, nichts Konkretes geliefert und nie mehr vorweisen können als die hart kritisierte portugiesische Polizei.
Deshalb gab und gibt es bis heute, vier Jahre nach dem Ereignis, noch immer offene Fragen: Kam Kate McCann schreiend in die Tapas-Bar, wo sie und ihre Freunde zu Abend gegessen hatten und wo die anderen immer noch beim Wein saßen? Hatte eine Animateurin des Hotels wie an jedem Donnerstag mit einem Ferien-Quiz die Gäste beschäftigt? Oder war das Ratespiel an jenem Abend ausgefallen, weil sich nicht genug Urlauber als Mitspieler gemeldet hatten? War Kate schreiend auf ihren Mann zugestürzt, der gerade sein Glas austrinken wollte? Oder war es so, dass alle, die mit ihm am Tisch saßen, insbesondere er, erst dann in Richtung des McCann-Appartements geeilt waren (dessen Rückseite einhundertachtzig Meter, etwa zweieinhalb Minuten Fußmarsch durch den Garten und um den Pool herum, entfernt lag), als sie Kates Schrei aus der Ferne hörten und ahnten, dass dort, im Appartement 5A, etwas passiert sein musste?
Kate McCann fing an zu schreien
Einige sind vorbei an der Rezeption zum Vordereingang der Ferienwohnung geeilt. Das war der kürzere Weg, aber nicht so bequem wie der andere. Charlotte Pennington, als Babysitterin bei einer anderen britischen Familie engagiert, sagte später aus, dass sie auf Kates Schreie hin sofort zu Appartement 5A gelaufen sei und versucht habe, die schluchzende Frau zu beruhigen. Falls das stimmt, kann Kate nicht erst dann geschrien haben, als sie die Bar erreicht hatte. Den Angaben des Mädchens wird von einem der Kellner widersprochen, der gehört haben will, dass eine Frau in die Tapas-Bar gerannt war und laut immer wieder „They have got her“ gerufen habe, woraufhin die Engländer aufgesprungen und losgerannt seien in Richtung Appartement 5A.
So genau hat es auch der Barkeeper Joaquim Jose Moreira Baptista in seiner Aussage am 6. Mai um 18.50 Uhr der Polizei berichtet. Er selbst habe den Schrei nicht gehört, weil er gerade in der Küche beschäftigt war, konnte nur bestätigen, dass wie jeden Abend neun Engländer zu Tisch gesessen hätten und dass ein Kollege ihm von der Aufregung erzählt habe, weil jemand schreiend in die Bar gelaufen sei und daraufhin alle Engländer in Panik aufgesprungen und losgestürzt seien. Es muss nach 22 und vor 22.30 Uhr gewesen sein, das zumindest wisse er genau.
Die befragten Mc-Cann-Freunde sagten übereinstimmend aus, es sei so gewesen, dass Kate in die Bar gestürzt kam, in der sie alle saßen, auch ihr Mann Gerry, und dabei habe sie schluchzend geschrieen, sie haben sie geschnappt, sie haben sie geschnappt. Daraufhin seien alle losgelaufen, um gemeinsam Maddie zu suchen. Sieben oder acht Flaschen Wein hatte der Kellner an diesem Abend für sie geöffnet, es könnten also auch die Wirkungen des Alkohols die Erinnerung getrübt haben. Aber auch das ist pure Spekulation. Fast ein Jahr später gibt der inzwischen nach England zurückgekehrte damalige Aushilfskellner Jeronimo Rodrigues Salcedas bei der Polizei in Leicester zu Protokoll, seiner Erinnerung nach sei in der Tapas Bar von der befreundeten britischen Gruppe nicht mehr als eine Flasche Wein pro Person getrunken worden: „Wein war im Preis fürs Dinner inbegriffen“.
Die Aussagen der Babysitterin
Überzeugender jedoch, zumindest was die zeitliche Reihenfolge betrifft und im Hinblick darauf, was allgemein über menschliches Verhalten in Extremsituationen bekannt ist, sind die Aussagen der Babysitterin. Dass Kate McCann ihre Zwillinge Amelie und Sean ausgerechnet in jener Wohnung allein zurücklässt, in der sie soeben das leere Bettchen Maddies entdeckt und festgestellt hat, dass die Dreijährige verschwunden war, ist zwar möglich, aber unwahrscheinlich. Logischer wäre die instinktive mütterliche Reaktion, in der Wohnung ihre anderen Kindern beschützend zu bleiben, was bedeuten würde, dass ihre Schreie von dort herüber in die Bar gedrungen sein müssen. Oder weiß sie nicht mehr, wann und wo sie schrie? War es ein – verständlicher – Blackout, ausgelöst durch den Schock, als sie feststellte, dass Maddie nicht mehr da war? Erneut offene Fragen. Zumindest die genaue Beschreibung des Tatorts ist über alle Zweifel erhaben. Der steht unverrückbar da. Aus Stein.
Appartement 5A auf der „Waterside Gardens“ genannten Seite der Club-Anlage ist eine Eckwohnung im Erdgeschoss. Sie grenzt an eine für jedermann zugängliche öffentliche Straße. Zwischen dieser und der Wohnung liegt, getrennt durch eine knapp anderthalb Meter hohe Mauer, ein Parkplatz für die Mietwagen der Gäste. Keiner kennt das Auto des anderen, alle sind für die Zeit des Urlaubs geliehen. Ein fremdes Fahrzeug würde niemandem auffallen. Doch ein paar Tage nach den Ereignissen dieser Nacht, am 8. Mai, sagt Maria da Silva, die in der Nähe wohnt und um 21.58 Uhr ihr Appartement verlassen hatte, sie würde sich an ein „kleines, wahrscheinlich graues“ Auto erinnern, das unmittelbar unter dem Fenster des Appartements 5A gestanden habe. Möglich also, dass ein Täter dort parkte und auf eine Gelegenheit wartete, in die Eckwohnung einzudringen.Besondere Ortskenntnisse sind nicht nötig. Der Weg ins Haus erschließt sich auf einen Blick. Er führt durch ein kleines Tor direkt vom Parkplatz über ein paar Stufen zum Haupteingang des Appartements. Dann ließe sich unbeobachtet die Wohnung betreten.
Sie wollten sich die Ausgaben für einen Babysitter sparen
Da sie sich die Ausgaben für einen Babysitter sparen wollten, hatte sich abwechselnd alle halbe Stunde einer aus der Runde, die seit fünf Tagen jeden Abend hier saß – Matthew Oldfield und seine Frau Rachael, Russell O'Brien und seine Lebensgefährtin Jane Tanner, David und Fiona Payne, deren Mutter Diane Webber und eben die McCanns –, aufgemacht zu den Ferienwohnungen 5A, 5D, 5E, die alle von der Veranda des Restaurants, auf der sie saßen, nicht zu sehen sind, um nach den Kindern zu schauen. Den eigenen und denen der Freunde. Auch am Abend des 3. Mai 2007. Nur Fiona und David Payne aus Appartement 5H, die gleichfalls zu den von britischen Journalisten mal Tapas Seven genannten befreundeten Paaren am Tisch gehörten, blieben stets sitzen. Sie hatten eine Babyphonanlage installiert, konnten deshalb hören, was in ihrer Wohnung geschah, und sofort reagieren, falls ihre kleinen Töchter Scarlett und Lilly aufwachen und weinen sollten.
Würde es die Eltern entlasten?
Warum ist es für die Lösung des Falls so wichtig, ob Kate McCanns Schrei in der Bar nur aus der Ferne zu hören war oder ob sie erst schrie, als sie in die Bar stürzte? Würde Letzteres die Eltern vom Verdacht entlasten, die Entführung vorgetäuscht zu haben? Wäre es der Beweis, dass Madeleine entweder von einem sich spontan zur Tat entschließenden Päderasten oder gar von einer im Auftrag von Pädophilen tätigen Kidnapperbande entführt worden ist? Ist der Gedanke wirklich so fern der Realität, so abstrus, wie die Polizei behauptete? Hatte es nicht gerade in Portugal einen ungeheueren Skandal gegeben, als sich durch die Recherchen einer Journalistin herausstellte, dass über Jahrzehnte hinweg Zöglinge aus staatlichen Erziehungsanstalten von einer pädokriminellen Organisation, Casa Pia genannt, zu der höchste Staatsbeamte und kirchliche Würdenträger gehörten, vergewaltigt worden waren?
Falls Gerald McCann tatsächlich noch beim Wein saß, als seine Frau schreiend in die Bar gerannt kam, kann er nicht jener Mann gewesen sein, den Martin Smith etwa um diese Zeit auf der Rua da Escola Primaria getroffen hatte. Falls Gerald McCann, wie er immer wieder betonte, bei seinem Kontrollgang um 21.05 Uhr sowohl seine Zwillinge Sean und Amelie als auch seine Tochter Madeleine schlafend vorgefunden hat, muss sie kurz danach entführt worden sein. Falls Gerald McCann, als er nach seinen Kindern schaute, nicht alle Zimmer durchsucht hat, wäre es sogar möglich, dass ein Entführer bereits in der Wohnung war, sich in einem anderen Raum versteckt hielt. Dann hätte er bis zu Kates Schrei fast eine Stunde Zeit gehabt, um das Kind zu entführen und mit seiner Beute zu verschwinden.
Es war einfach, eine Entführung umzusetzen
Zwar behauptete Gerry McCanns Freund Matthew Oldfield, der wie alle anderen der Tapas Seven befragt wurde, ihm sei bei seinem Rundgang um 21.30 Uhr nichts Ungewöhnliches aufgefallen, was die Zeit für die Tat auf nur eine halbe Stunde beschränken würde. Aber wie er in einer zweiten Aussage dann zugeben musste, hatte er nur an der Tür gelauscht, ob alle Kinder ruhig waren, und sich nicht per Augenschein davon überzeugt, ob auch alle noch da waren.
Von den äußeren Umständen her betrachtet, war es einfach, eine tagelang geplante Entführung in die Tat umzusetzen, weil es Maddies Eltern den Entführern oder dem Entführer – war es nur einer? waren es mehrere? – so leicht gemacht hatten. Mal angenommen, er hätte nicht gewusst, dass die Haustür unverschlossen war. Mal angenommen, er wäre ums Haus geschlichen, unbemerkt von Gästen, die beim Abendessen saßen, hätte dabei festgestellt, dass auf der Terrasse hinten die gläserne Schiebetür einen Spalt breit offen war, um frische Luft ins Zimmer zu lassen. Dann könnte er auf diesem Weg in die Wohnung eingedrungen sein. Ein Erwachsener hätte von außen diesen Spalt, ohne sich anzustrengen, erweitern können, bis er durchgepasst hätte, und wäre so in die Wohnung gelangt.
Ebenso einfach wäre es umgekehrt aber auch für ein Kind gewesen, sich nach draußen durch den Spalt zu zwängen und die Wohnung zu verlassen. Warum hätte Maddie das tun sollen? Um ihre Eltern zu suchen, nachdem sie aufgewacht war und bemerkt hatte, dass die nicht da waren und sie mit ihren Geschwistern allein war im Appartement 5A. Auf ihrer Suche hat sie sich, so diese Hypothese, in der Richtung geirrt, war nicht über die Terrasse durch den Garten in die Ferienanlage gelaufen, sondern auf die andere Seite, hinaus auf den dunklen Parkplatz oder auf eine der dunklen Straßen.
Das wäre ein Szenario, das auf einen zufälligen Entführer passt, auf einen, der sich spontan zur Tat entschließt. Auf der Suche nach ihren Eltern könnte Maddie McCann ihm direkt in die Arme gelaufen sein. Ein Zufall also, keine geplante Entführung? Danach wäre Maddie eher das zufällige Opfer eines Mannes geworden, der die britischen Familien mit ihren Kindern zwar schon längere Zeit beobachtet hatte, ohne einen festen Plan zu haben, und der jetzt -nachts, menschenleere Straße, keine Erwachsenen in Sichtweite - beim Anblick der kleinen Maddie spontan zugriff. Hat sie sich dabei gewehrt, und hat er sie in Panik darüber, entdeckt zu werden, für immer zum Schweigen gebracht? Hat er sich dann, das tote Kind auf den Armen tragend, als würde es schlafen, dazu entschlossen, sie im nahen Meer zu entsorgen? War er der Mann, den die Iren auf ihrem Heimweg getroffen hatten?
"They have got her"
Fest steht: Um 22 Uhr oder kurz danach ertönte jener Schrei „They have got her“ von Kate McCann. Eigentlich wäre ihr Mann an der Reihe gewesen, nach ihren drei Kindern zu sehen, aber da Gerald, wie sie dann bei der Rekonstruktion der Ereignisse aussagte, gerade eine Anekdote aus der englischen Klinik erzählte, wo er als Kardiologe arbeitete und sie ihn dabei nicht unterbrechen wollte, hatte sie sich an seiner Stelle auf den Weg gemacht. Sie habe auf ihre Armbanduhr geschaut, bevor sie die Tapas-Bar verließ – es war höchstens eine Minute nach 22 Uhr. Drei Minuten später dann jener Schrei. Falls die Aussage der Wahrheit entspricht, kann der Mann, den Martin Smith gesehen hat, nicht Gerry McCann gewesen sein kann. Entweder war es dann ein zufällig des Weges kommender Fremder mit seinem Kind. Oder es war der Entführer von Maddie.
Zunächst versucht Hotelmanager John Elliot Hill die Eltern zu beruhigen. Er wurde vom Verschwinden Maddies durch Lindsay Johnson unterrichtet, die für die Kinderbetreuung im Club zuständig war. Der Anruf auf seinem Handy ist eingegangen um 22.28 Uhr. Fünf Minuten später war er vor Ort. Da suchten bereits, wie er sich erinnerte, mehr als hundert Gäste nach dem Kind. Für das Verschwinden könne es eine simple Erklärung geben, meinte er damals: Maddie sei aufgewacht, habe weder Mutter noch Vater in der verlassenen Wohnung gefunden und sei losgegangen, die zu suchen. Kein Problem dabei für Maddie, die als aufgewecktes Mädchen beschrieben wird, sich durch den Spalt in der Terrassentür nach draußen zu zwängen. Dann müsse sie sich im Dunkeln in der Richtung geirrt haben, sei statt zum Pool und zur Bar ums Haus herum gerannt, habe sich in einer der anliegenden Straßen verlaufen, warte wahrscheinlich verängstigt dort, dass jemand sie findet. Weit kann sie bis jetzt nicht gekommen sein, hatten doch alle dreißig Minuten die Erwachsenen nach den Kindern geschaut. Zuletzt Matthew Oldfield. Auf seinem Kontrollgang schien noch alles in Ordnung gewesen zu sein, was er den anderen am Tisch versicherte hatte: seine beiden Kinder tief schlafend, und auch bei den McCanns alles still.
Viele Sachverhalte bleiben mysteriös
Merkwürdig allerdings, dass man nichts hört, Rufen zum Beispiel oder leises Weinen. Merkwürdig auch, dass Maddie, die nie ohne ihre geliebte Cuddle Cat, ein flauschiges, rosarotes Stofftier, anzutreffen war, ausgerechnet diesen ihr so vertrauten Begleiter zurückgelassen hat, wenn sie sich in der Dunkelheit auf den Weg gemacht hat. Das Kätzchen liegt in ihrem Bett. Das fällt jetzt noch nicht auf. An eine Entführung denkt niemand trotz des seltsam anmutenden Wörtchens „they“ in Kates panischem Schrei „They have got her“. Wer waren die, wer waren „they“, wen hatte sie damit gemeint? Gab es vor den Ereignissen in dieser Nacht bereits irgendwelche suspekten Gestalten, die um das Appartement schlichen und ihr aufgefallen waren? War Kates „they“, an das sich Charlotte Pennington zu erinnern glaubt, nur ein Hörfehler gewesen? Das „they“ wird mal von der portugiesischen Polizei gegen Kate verwendet, als sie und ihr Mann offiziell zu Verdächtigen erklärt werden. Kate selbst hat keine einleuchtende Erklärung, warum sie ausgerechnet das Wort „they“ benutzte und wen sie damit gemeint haben könnte.
Ihre Freunde, ausgerüstet mit Taschenlampen, die im Hotel immer vorrätig sind wegen der häufigen Stromausfälle an der Algarve, machen sich, unterstützt von Gästen und Angestellten der Ferienanlage, so gegen 22.15 Uhr auf die Suche: David Payne, Matthew Oldfield und Russell O´Brien. Deren Frauen kümmern sich um ihre eigenen Kinder, Kate bleibt bei Sean und Amelie. Noch sind alle davon überzeugt, dass sie Maddie gleich finden werden, beruhigen sich gegenseitig. Vor allem trösten sie Kate.
Sie wollten Maddie erst einmal selber finden
Nachdem ihre Suche ergebnislos geblieben ist, trifft um 22.50 Uhr die von der Rezeption bereits unmittelbar nach den ersten Schreien von Kate McCann alarmierte Polizei ein. Im Meldebuch der Guardia Nacional Republicana ist für 22.40 Uhr ein erster Anruf verzeichnet, ein Kind sei verschwunden, was sich deckt mit den Aussagen des Hotelmanagers. Fachleute sagen, das Wichtigste in einem solchen Fall sei eines: sofort und ohne zu zögern die Polizei zu rufen. Auch wenn sich das später als ein Fehlalarm herausstellen sollte. Kurz nach Mitternacht treffen endlich auch Beamte der Policia Judicaria im „Ocean Club“ ein, Kriminalbeamte. Die Kollegen, die vor ihnen am Tatort waren, gehörten zum Bereitschaftsdienst der Schutzpolizei. Von nun an leitet Kommissar Amaral die Ermittlungen. Später äußert er die Vermutung, in den Stunden bis zum Eintreffen seiner Leute hätten die Tapas Seven den McCanns geholfen, die tote Maddie verschwinden zu lassen. Wie sie das hätten bewerkstelligen sollen trotz der immer größer werdenden Gruppe von Gästen, die sich bemühte, Maddie zu finden, kann er allerdings nicht erklären. Mit solchen Verschwörungstheorien hätte er keinen Richter überzeugen können, nicht mal einen Staatsanwalt, überhaupt ein Verfahren zu eröffnen.
Die Freunde der McCanns haben eine einfache Begründung dafür, dass sie nicht sofort die Polizei alarmierten, nachdem Kate das Verschwinden bemerkt hatte. Sie wollten erst einmal versuchen, Maddie selbst zu finden, von der sie annahmen, sie habe sich nur verlaufen. Die Briten wollten, wie sie übereinstimmend aussagten, nicht unnötig und voreilig Alarm schlagen. Doch jetzt, in der ersten Morgenstunde des 4. Mai 2007, geben sie auf und überlassen das Feld der Polizei. Die McCanns ziehen mit ihren beiden Jüngsten um in ein anderes Appartement.
Es beginnt mit dem Eintreffen der Kriminalbeamten eine Geschichte, die weltweit Schlagzeilen macht – und dies noch immer tut, die Geschichte vom Verschwinden eines kleinen Mädchens und der Suche nach ihr, von der es seitdem keine Spur gibt. Es beginnt der Fall Maddie. Der ist nicht per se einmalig, aber er ist es auf andere Weise. Es handelt sich im Fall Maddie um den ersten Fall, in dem mit allen Möglichkeiten und Mitteln der Kommunikation, der Public Relation und des Internet eine globale Suche nach dem Opfer betrieben wird. Das Foto des blonden kleinen Mädchens, ins Netz gestellt und im World Wide Web millionenfach angeklickt, ist so bekannt wie das Bild eines Popstars. Ihr Gesicht hinterließ Ankerpunkte im kollektiven Bewusstsein vieler Menschen.
Jeder Theorie ist stimmig
Darauf vertraut drei Jahre danach auch ein Video, das die McCanns ins Internet gestellt haben und das jedermann jederzeit weltweit auf YouTube anklicken kann. Die Botschaft wird verbreitet in sieben Sprachen, darunter auch auf Deutsch, und zeigt Maddie in einer Computersimulation, wie sie heute aussehen würde. Bei der Produktion dieses Images haben Experten geholfen, die sich mit der nötigen Technik auskennen. Die benutzen sie sonst bei ihren Fahndungen nach international agierenden Tätern, die sich im Laufe der Jahre verändert haben. Die Gesichtszüge eines Menschen aber bleiben dieselben. Maddie wäre immer noch erkennbar. Falls sie noch lebt.
Die erste Suchaktion damals 2007 verlief ungewöhnlich kompliziert. Zum einen, weil es Dutzende von Fehlmeldungen gab, von Dubai bis Marokko, sobald wieder jemand glaubte, in einem kleinen Mädchen die Gesuchte erkannt zu haben. Zum anderen, weil die Ermittler allen noch so vagen Hinweisen nachgehen mussten, um bloß nichts zu versäumen, und weil jede Ermittlung polizeiliche Kräfte bindet. Öffentlichkeit kann hilfreich sein, aber auch tödlich. Der oder die Täter könnten die Nerven verlieren, Maddie töten und sich ihrer Leiche entledigen.
Im Fall Maddie kann jede Theorie stimmig und jede Theorie auch unstimmig sein. Zum Beispiel jene Theorie, an die der anfangs mit den Ermittlungen betraute Gonçalo Amaral bis heute glaubt. Er ist überzeugt davon, dass es in Wahrheit gar keine Entführung gegeben hat, dass vielmehr die Eltern ihre Tochter in Folge eines tragischen Unfalls tot in der Wohnung aufgefunden und spontan beschlossen hatten, sie verschwinden zu lassen. Und welches Motiv sollten sie gehabt haben? Sie hatten Angst, behauptet er, wegen Verletzung ihrer Aufsichtspflicht belangt und verhaftet und verurteilt zu werden, was automatisch bedeutet hätte, dass es mit ihrer Karriere in England vorbei gewesen wäre. Unterstützt worden seien sie dabei von ihren Freunden, die ihre Aussagen so abgesprochen hatten, dass am Ende nur eine einzige Erklärung für Maddies Verschwinden übrig geblieben sei – sie müsse entführt worden sein.
Ein hoher Polizeibeamter aus Lissabon, nicht befreundet mit Amaral und zuständig für andere Geschäftsfelder der organisierten Kriminalität in Europa, ist überzeugt davon, dass Maddies Verschwinden nicht etwa erst um 22 Uhr bemerkt worden ist, sondern dass sie schon seit Stunden tot war, als Kate McCann ihren Schrei ausstieß. Nicht ermordet von ihren Eltern, das nicht. Aber Opfer eines Unfalls in der Wohnung, in der sich zu der Zeit, als es passiert sein könnte, so gegen 18 Uhr, Kate allein mit ihren drei Kindern befand. Ihr Mann spielte da noch Tennis, die drei Kleinen waren nicht zu bändigen, weinten und schrieen, sie habe vielleicht Maddie einen Klaps gegeben, weil sie sich anders nicht mehr zu helfen gewusst habe. Dabei sei Maddie unglücklich auf den Steinboden gefallen und habe sich tödlich verletzt. Daraufhin habe Kate panisch ihren Mann auf dem Handy angerufen, der sei sofort gekommen, und gemeinsam hätten sie den Plan gefasst, eine Entführung vorzutäuschen.
Amaral unterstellt, die Engländer hätten ihre Aussagen abgestimmt
Nach seiner Theorie hätte Gerry in den verbleibenden zweieinhalb Stunden, bevor er und Kate dann zum Essen in die Tapas-Bar gingen, das tote Kind ungesehen aus der Wohnung geschafft und auf dem Meer draußen entsorgt. Deshalb würde es keine Spur von Maddie geben, deshalb konnte man an Land trotz aller Bemühungen die Leiche nicht finden. Und die Freunde von McCann? Haben die alle bei dieser Verschwörung mitgemacht?, Unvorstellbar, dass ein solches Kartell des Schweigens über so viele Jahre hält. Auch darauf hat er eine Antwort: Die Tapas Seven wissen nichts. Die waren nicht eingeweiht in die Aktion der Eltern, sind wie alle anderen Stunden später auf die raffinierte Inszenierung mit dem Schrei „They have got her“ hereingefallen.
Amarals Unterstellung, die Engländer hätten ihre Aussagen abgestimmt, um die Umstände von Maddies Verschwinden zu verschleiern, überzeugte weder seine Vorgesetzten noch die aus England angereisten Profis. Er zog es vor, das Unmögliche zu glauben, statt ermittelnd, wie es seine Pflicht gewesen wäre, alles Unmögliche auszuschließen. Das kostete ihn am Ende dann auch seinen Job, als ein Kollege aus Lissabon den Fall übernahm. Nach seiner Abberufung schrieb er im Ruhestand ein Enthüllungsbuch, in dem er indirekt die Eltern bezichtigte. Nicht als Mörder ihrer Tochter, so weit ging er nicht. Aber schuldig des Vertuschens eines tödlichen Unfalls. Seiner Meinung nach, die sich mit der des anderen Beamten deckt, hätten die McCanns Maddie auf dem Meer versenkt. Deshalb hat die Polizei trotz aller Anstrengungen nie eine Spur von dem Kind finden können.
Sein Buch ist gespickt mit Anschuldigungen gegen die britische Polizei, die ihn aufgrund einer von ihm nicht näher bezeichneten Intervention von oben – von wem? Weshalb? – bei seinen Ermittlungen behindert hätte, um ihre Landsleute, die McCanns, zu entlasten. Ebenso gut ließe sich darüber schreiben, wie unter Missachtung aller professionellen Regeln die Polizei unter seiner Leitung versagt hat. Die Klage der McCanns gegen Amarals Behauptungen hatte Erfolg. Eine weitere Auslieferung seines Buches wurde im Januar 2010 von einem Richter in Lissabon verboten. Da hatte seine Schrift samt der darin enthaltenen Verschwörungstheorien in Portugal bereits 200 000 Käufer gefunden. Am 18. Oktober 2010 dann gab ein Berufungsgericht das Buch wieder frei für den Verkauf. Dagegen wiederum legten die Eltern von Maddie Einspruch ein. Ihre Anwältin: „Bei der Urteilsfindung wurde nicht berücksichtigt, dass das Buch gemacht wurde, um Geld zu verdienen, den Schmerz des Ehepaares McCann zu vertiefen und die Ermittlungen zu behindern“. Zusätzlich sammelten die McCanns 100 000 Unterschriften, die nötig sind, um eine Wiederaufnahme der eingestellten polizeilichen Ermittlungen zu erreichen.
Die Entführungsthese
Der britische Journalist Danny Collins, der sich in seinem Buch „Vanished“ bemüht, Licht in den Fall Maddie zu bringen, kommt dagegen zu dem Schuss, dass Maddie entführt worden ist, und vermutet, dass es in etwa so abgelaufen sein könnte: Zunächst habe ein Mister X die Lage ausgekundschaftet. Dabei sei er den Urlaubern nicht weiter aufgefallen, weil er erst abends mit seinem Auto auf den Parkplatz gefahren sei. Das würde sich wiederum decken mit der Aussage von Maria da Silva, mit ihrer nachgetragenen Erinnerung an jenes kleine graue Auto. Dieser Fremde hätte festgestellt, dass die Schiebetür im Wohnzimmer des Appartements nie ganz geschlossen wurde, weil die Erwachsenen bei ihren Kontrollgängen, die er beobachtet hatte, diesen Zugang zur Wohnung wählten und nicht umständlich über die Treppe zur Haustür gingen, um die erst auf- und danach wieder abzuschließen. Der Unbekannte sei durch die gläserne Schiebetür über die Terrasse in die Wohnung eingedrungen, habe alle Räume überprüft, bis er im Zimmer der Kinder ankam, wo Maddie und ihre Geschwister schliefen.
Wie soll er das alles zwischen 21.05 Uhr, als Gerry McCann bei seinem Kontrollgang auftauchte, und 21.25 Uhr geschafft haben, war doch Matthew Oldfield nach eigenen Angaben spätestens gegen 21.30 Uhr im Appartement 5A, um nach den Kindern zu schauen? Andererseits gab der ja später zu, nur auf Geräusche geachtet und die Kinder nicht mit eigenen Augen gesehen zu haben. Nach Collins' Theorie könnte sich ein Entführer, als er hörte, dass jemand die Wohnung betrat, in der es zwei Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, eine Küche und ein Badezimmer gibt, hinter der offenen Tür des Kinderschlafzimmers versteckt haben, um im Falle einer Entdeckung mit einem Sprung durch das Fenster in diesem Raum zu fliehen, das er zuvor geöffnet und dessen Jalousie er hochgezogen hatte. Was eine Erklärung dafür wäre, dass die Polizei ein offenes Fenster bemerkte, was im Protokoll erwähnt wird, obwohl Gerald McCann beschwor, bei seinem Kontrollgang sei es geschlossen gewesen. Oldfield wiederum hatte nicht jedes Zimmer per Augenschein überprüft, sondern war umgehend zurückgeeilt in die Tapas-Bar.
Warum hat Maddie nicht geschrieen?
Kaum war die Luft wieder rein, habe der Kidnapper, so Collins in seinem Szenario, die tief schlafende Maddie aus ihrem Bett gehoben, sei mit ihr zu seinem auf dem Parkplatz abgestellten Auto gegangen, habe sie in den Kofferraum gelegt und sei losgefahren. Als Kate ihr Verschwinden entdeckte, war er längst weit entfernt vom Tatort. Warum gibt es aber keinerlei Spuren am Fensterrahmen oder an der Tür, die eine solche Vermutung beweisen könnten? Fasern von Stoff? Fingerabdrücke? Möglicherweise vorhandene Spuren eines Eindringlings sind zerstört oder wie die im Vorgarten zertrampelt, als die Polizei mit ihren Untersuchungen beginnt. Die Grenzstationen nach Spanien und der Flughafen in Faro sowie die umliegenden Häfen der Algarve werden erst früh am anderen Morgen alarmiert. Es gab also bereits am Anfang der Ermittlungen schwerwiegende Fehler. Die setzten sich wie in einer Kette fort. Wollte Amaral mit seinen Vermutungen von eigenen Versäumnissen ablenken und deshalb die Schuld auf Maddies Eltern abwälzen? Brauchte er gar einen Sündenbock, um die eigene Haut zu retten?
Rätselhaft bleibt, warum Maddie nicht geschrien, sich nicht gewehrt hat, falls sie von einem Fremden durch die Nacht geschleppt wurde. Wenn ein Fremder in die Wohnung eingedrungen und das Kind aus dem Schlaf und aus dem Bett gerissen hätte, müsste sie eigentlich geweint oder laut geschrien haben. Oder gibt es gar andere Gründe dafür, dass sie so tief schlief und nicht reagiert hat? Noch am Morgen dieses 3. Mai hatte sich Madeleine bei ihrer Mutter beklagt, dass sie in der zurückliegenden Nacht nicht zu ihr ans Bettchen gekommen sei, obwohl sie geweint und laut nach ihr gerufen habe. Eine Nachbarin, die dieses Gespräch beim Frühstück mitbekam, hat es so ausgesagt. Eine andere Urlauberin, Pamela Fenn, erinnert sich, dass sie Maddie einmal stundenlang habe weinen hören. Denkbar also, dass die praktische Ärztin Kate McCann ihr ein Schlafmittel ins Essen gemischt hat, damit die Kleine nicht wieder aufwachen, weinen und nach ihr suchen würde. Was ihre Mutter stets bestritt. Es wäre eine mögliche Erklärung dafür, dass Maddie nicht aufgewacht ist, als ein Fremder sie aus dem Bettchen hob.
Selbst dieses Szenario glaubt Amaral widerlegen zu können, indem er eine andere Theorie aus denselben Fakten konstruiert: Schlaftrunken von den ihr verabreichten Mitteln sei Maddie eben doch in der Nacht aufgewacht, aus ihrem Bett geklettert, aus dem Zimmer getapst, in dem auch ihre beiden Geschwister schliefen, habe ihre Mutter oder ihren Vater gesucht, aber die waren ja nicht da. Sie habe wahrscheinlich beschlossen, die zu suchen, sei auf die Lehne des schweren Sofas im Wohnraum gestiegen, um das Fenster an der Vorderseite des Appartements zu öffnen, dabei aber, geschwächt durch die Schlaftabletten, von der hohen Lehne gefallen und mit dem Köpfchen voran zwischen Fenster und Sofa auf den Steinboden gestürzt. Dabei könnte sie sich tödliche Verletzungen zugezogen haben.
Amaral hat keine Erklärung
Diesen Unfall, so die darauf basierende Indizienkette des Portugiesen, habe der entsetzte Vater bei seinem Rundgang entdeckt und sich entschlossen, seine Tochter verschwinden zu lassen. Emotionslos Entscheidungen zu treffen, so Amaral, sei in Gerald McCanns Beruf als Kardiologe alltägliches Geschäft. Das habe der gelernt. Darum habe er angesichts der toten Maddie kühl reagiert. Wie aber soll er das so schnell organisiert haben? Wie soll er es geschafft haben, ungesehen aus der Ferienanlage zu gelangen? Wo hat er Maddie versteckt und wann endgültig verschwinden lassen? Wie hat er seine Abwesenheit den anderen erklärt?
Niemand glaubt, dass die McCanns ihre Tochter ermordet haben könnten, das nun doch nicht. Wo der Vater Maddie verschwinden ließ und wie er das ungesehen als Ortsfremder geschafft haben soll, dafür hat Amaral keine Erklärung. Doch warum, fragt er stattdessen, sind alle Anruflisten, alle Protokolle der gewählten Nummern sowohl auf Kates als auch auf Gerrys Handy gelöscht, warum ist der erste Anruf von Gerald auf dem Handy seiner Frau erst um 23.17 Uhr vermerkt, wie eine Anfrage beim Provider ergab? Deren Erklärung: Sie hätten nicht telefoniert, weil sie mit der Suche nach Maddie beschäftigt waren und weil Kate in der Wohnung auf den einen, den erlösenden Anruf wartete, man habe sie gefunden. Bis dann, logisch begründbar, um 23.17 Uhr ihr Mann mitteilte, dass die Suche erfolglos geblieben war.
Wer ist der schweigsame Mann?
Jane Tanner, Lebensgefährtin von Russel O`Brien, glaubt wie alle von den Tapas Seven, dass die McCanns unschuldig sind. Sie hatte in ihrer Aussage einen etwa 35-bis 40-jährigen Mann beschrieben, der ein schlafendes Kind auf dem Arm trug. Allerdings lief der nicht Richtung Strand, in die Richtung, in der Martin Smith ihn getroffen hatte, sondern in die andere Richtung, bergauf also. War dieser Mann der Entführer? Falls sie die Wahrheit sagt, wäre das der beste Beweis für die Unschuld der McCanns. Oder wollte sie, wie wiederum Amaral ihr unterstellt, damit nur ablenken von Gerald McCann? Der Mann, den Jane Tanner gesehen hat, ist von der Polizei nie ermittelt worden. Es hat sich, was zumindest eigenartig ist angesichts der täglichen Berichte in den Zeitungen, niemals ein Einheimischer gemeldet, der just an diesem Abend zwischen 21 und 22 Uhr mit einem Kleinkind unterwegs war. Was normal gewesen wäre. Falls es sich tatsächlich nur um einen harmlosen Familienvater gehandelt hat, der zufällig mit seinem Kind auf dem Heimweg war, hätte er doch nichts zu verbergen gehabt.
Wobei in dem Zusammenhang gleich die nächste ungelöste Frage in diesem Fall auftaucht, nämlich die nach dem schweigsamen Mann in der Rua da Escola Primaria, der Smith und seiner Familie entgegengekommen war. Warum hat sich der nicht bei der Polizei gemeldet und Gerry McCann entlastet? Es gibt wieder mal zwei mögliche Erklärungen. Die eine: Es war ein Urlauber, der bereits am nächsten Morgen die Algarve wieder verlassen hat und zuhause nichts über den Fall Maddie gelesen oder gesehen hat. Unwahrscheinlich angesichts der globalen medialen Find Maddie Action. Oder aber er hatte einen triftigen Grund, sich nie zu melden. Er ist der Entführer, und das schlafende Kind auf seinen Armen war tatsächlich Maddie.
Gonçalo Amaral zieht am Ende seines Buches die für ihn einzige plausible Bilanz: „Das Kind Madeleine McCann starb in der Nacht des 3. Mai 2007 im Apartment 5A des „Ocean Club“. Es wurde eine Entführung vorgetäuscht. Kate und Gerald McCann sind verdächtig, an der Beseitigung des Leichnams ihrer Tochter beteiligt gewesen zu sein. Es gibt Hinweise auf die Vernachlässigung der Sorgfalts- und Aufsichtspflicht der Eltern gegenüber den Kindern.“ Kate McCann hielt dagegen – und diesen Argumenten folgte auch der Richter in Lissabon, der im ersten Prozess Amarals Buch verbot - dass im Gegensatz zu allen Behauptungen von herabgelassenen Rollläden, die nur von innen und nicht von außen hochgezogen werden konnten, und von geschlossenen Fenstern eines der Fenster im Wohnraum weit offen stand, mit hochgezogener Jalousie, als sie gegen 22 Uhr die Wohnung betrat. Und dass sehr wohl so ein Entführer hätte einsteigen können?
Der Zweifel an den Eltern Kate und Gerry McCann bleibt
Der Vorwurf, ihre Kinder allein gelassen zu haben und ursächlich schuld zu sein an Maddies Verschwinden, bleibt. Mit dieser Schuld müssen die McCanns leben. Ganz egal, ob sie je erfahren – oder ob die Welt je erfährt –, was tatsächlich in dieser Nacht geschah. Wären wir doch, sagte Kate McCann in einem der Fernsehinterviews, mit denen sie und ihr Mann seit Jahren das Interesse der Öffentlichkeit am Fall Maddie wach zu halten versuchen, wären wir doch bloß wie ursprünglich geplant mit allen Freunden, in ein weiter entferntes Restaurant gegangen, in das wir die Kinder hätten mitnehmen müssen.
Britische Spezialisten brachten Ende Juli 2007 zwei besondere Helfer an den Ort des Geschehens, Keela und Eddie. Sie ist spezialisiert auf Blutspuren, er auf Leichengeruch. Beide Spaniels sind für ihren Job im Dienste der Krone jahrelang ausgebildet und trainiert worden. Sie sollen noch einmal im Appartement 5A nach bislang vielleicht übersehenen Spuren suchen. Um die Entdeckungen der Spaniels ranken sich später, wie so oft in diesem Fall, die abenteuerlichsten Spekulationen. Keela schlägt im Wohnraum hinter dem Sofa an. Dort hat sie was gerochen. Aufregung bei den Ermittlern. Menschliche Spürhunde werden gerufen. Die packen ihre Gerätschaften aus, und tatsächlich treten im ultravioletten Licht an einer Wand winzige Blutspuren zutage. Die Information, man habe einen Beweis dafür gefunden, dass Madeleine McCann im Appartement 5A zumindest verletzt worden sei, vielleicht sogar tödlich, wird einigen Zeitungen gesteckt, und die haben ihre Schlagzeilen.
Eine Expertise durch ein gerichtsmedizinisches Institut in Birmingham Wochen später geht in der Begeisterung, endlich Indizien gefunden zu haben, die auf die britischen Eltern als Täter hindeuten, deshalb unter. Denn das Blut ist männlichen Ursprungs, kann also nicht von Maddie stammen, außerdem war die Probe in einem so schlechten Aggregatszustand, dass keine letztgültige dann-Analyse erstellt werden konnte. Theoretisch ist es sogar möglich, dass die spärlichen Blutreste von einem Gast aus der vergangenen Saison stammten.
Eddie, spezialisiert auf Leichengeruch, erprobt in vielen Fällen, hatte bei der Begehung des vermeintlichen Tatorts ebenfalls angeschlagen. Auch das geben Beamte ohne nähere Prüfung weiter an die Zeitungen, obwohl sie durch eine simple Nachfrage hätten erfahren können, dass selbst ein bestens ausgebildeter Hund wie Eddie erst dann etwas erschnüffeln kann, wenn an einer bestimmten Stelle, in diesem Fall hinter dem Sofa oder auf der Terrasse, eine Leiche mindestens zwei Stunden lang gelegen hat. Selbst dann, wenn man annimmt, dass Maddie bereits tot war, als die Eltern am 3. Mai um 20.35 Uhr -fröhlich lachend! - das Appartement verlassen haben, selbst dann sind bis zum Schrei von Kate, sie hätten Maddie geschnappt, nur anderthalb Stunden vergangen. Selbst dann, wenn man bereit wäre, Amarals Theorie zu folgen, nämlich der, dass Maddie spätestens um halb sieben Uhr an diesem Abend tot war und danach im Meer entsorgt wurde, hätte sie nicht die zwei Stunden tot am Boden liegen können, die der Hund braucht, um etwas Verwertbares zu erschnüffeln. Und zwei Stunden lang konnte Maddie nie dagelegen haben, bei keiner der verschiedenen Tatversionen.
Das Ansehen der McCanns ist nicht mehr so gut, wie es anfangs war. Ihr Bild erlitt Kratzer, als bekannt wurde, dass sie Spendengeld aus dem „Find Madeleine Fund“ dafür verwendet hatten, fällige Hypotheken für ihr Haus in England abzubezahlen. Sie wiederum hatten dafür eine Erklärung: Seit Mai waren sind mehrere Monate an der Algarve, hatten unbezahlten Urlaub nehmen müssen, und schließlich hätten sie auch noch eine Verantwortung für ihre anderen Kinder. Die Pflicht, denen ihr Elternhaus zu erhalten. Sobald sie wieder was verdienten, würden sie alles zurückbezahlen.
Die McCanns beauftragten Detektive
Geradezu absurd wurde es, als angeblich im Kofferraum des Autos, das die McCanns drei Wochen nach Maddies Verschwinden gemietet hatten, Spuren sichergestellt wurden, die eindeutig von Madeleine stammen. Da lagen Handtücher, die auch vor ihrem Verschwinden bereits am Strand benutzt worden waren und in die vielleicht sogar mal das Stofftier Cuddle Cat eingewickelt war. Schließlich hatte Maddie ihre Katze immer bei sich getragen. Die zu ihrem Verdacht passende These der portugiesischen Ermittler jedoch lautete, Gerald McCann habe die Leiche des Kindes drei Wochen lang versteckt, bevor er das Auto gemietet, dann erst seine Tochter im Kofferraum an einen entlegenen Strand transportiert und dort ins Meer geworfen habe. Aber wo sollte er bis dahin die tote Maddie versteckt haben? Etwa unter dem Pflaster eines schmalen Wegs, der zur Kirche führte und in jener Nacht im Mai sich noch im Bau befand? Grabungen im Erdreich erbrachten keine Leiche. Nur ein paar Scherben aus vergangenen Jahrhunderten. Ein Fund für Archäologen.
Die McCanns beauftragen Detektive, und die drehen jeden Stein um, so wie es im Vorwort des „Find Maddie Fund“ steht: „Leaving no stone unturned“. Inzwischen wird auf dessen Homepage www.findmadeleine.com auch in deutscher Sprache um Mithilfe gebeten, weil viele Deutsche an der Algarve jedes Jahr ihre Ferien verbringen. Man erhofft sich, dass selbst nach Jahren einem der Touristen im Zusammenhang mit Maddie noch etwas einfällt, was damals nicht weiter beachtet worden war. In einem Video werden deshalb Szenen nachgestellt, die auf eine Entführung hindeuten und Assoziationen auslösen könnten. Ein Mann, der tagelang das Appartement 5A und die Familie McCann beobachtet haben soll, ist darauf zu sehen, verbunden mit der auch auf Deutsch eingeblendeten Frage: „Haben Sie diesen Mann gesehen? Kennen Sie ihn?“ Was Verwirrung erzeugen könnte.
Der Mann ist natürlich ein vom Maddie-Fund engagierter Darsteller des möglichen echten Entführers, von dem ja bis heute niemand weiß, wie der ausgesehen haben mag. Wer also jetzt die auf der Homepage gestellte Frage mit Ja beantwortet, erkennt in Wirklichkeit nicht einen echten, sondern nur einen möglichen dargestellten Täter.
Immer wieder wird im Internet auf ein Merkmal hingewiesen, das Maddie von anderen kleinen Mädchen sichtbar unterscheidet und das sich nicht verändert, auch wenn sie älter wird und heranwächst. Falls sie älter werden durfte und nicht längst schon tot ist. In ihrem rechten Auge fließt die Farbe aus der Pupille in die Iris. Auf der erwähnten Homepage, sozusagen einer globalen Suchanzeige, stehen Fotos, die Madeleine zeigen, wie sie heute aussehen könnte. Falls Maddie noch leben sollte.
Michael Jürgs: BKA – Die Jäger des Bösen. Verlag C. Bertelsmann, München, 2011. 352 Seiten, 19,99 Euro.
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