Kanadisches Dorf nach Hitzerekord niedergebrannt: „Was wir hier erleben, ist die Speerspitze des Klimawandels“
Apokalyptische Szenen in Lytton: Ein Feuer hat den Ort in Kanada zu 90 Prozent zerstört. Bewohner berichten, wie sie den Flammen gerade noch entkommen sind.
Gordon Murray ist froh, dass sein Partner und er mit dem Leben davonkamen. Als der Evakuierungsalarm für die kleine kanadische Gemeinde Lytton kam, hatten sie nur wenige Minuten Zeit, um ein paar Habseligkeiten und ihre Haustiere ins Auto zu laden, dann rasten sie davon.
Während der Fahrt machten sie ein Video, das die ganze vernichtende Gewalt des Feuers zeigt. Sie ist die Folge einer Hitzewelle bislang unbekannter Intensität in der Provinz British Columbia. Waldbrände, die nun außer Kontrolle geraten sind, bedrohen die Menschen.
Lytton soll zu 90 Prozent zerstört worden sein – inklusive Ortskern. Luftaufnahmen zeigen das Ausmaß der Katastrophe. „Die meisten Wohnhäuser und Gebäude des Dorfes sind zerstört, auch die Krankenstation und das Gebäude der RCMP- Polizei haben wir verloren“, sagt Mike Farnworth, der Innenminister der Provinz. Auch für mehrere weitere Gemeinden wurde der Evakuierungsalarm ausgegeben.
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Als Murray sein Dorf verließ, brannten links und rechts Häuser, in Sekundenschnelle wurden Bäume zu brennenden Fackeln. „Wir konnten die Bäume explodieren hören, als wir an ihnen vorbeifuhren“, berichtete er. „Es war eine apokalyptische Szene. Alles verschwand in den Flammen.“ Gordon Murray weiß nicht, ob von seinem Haus irgendetwas übrigblieb. Aber er kann noch von Glück sprechen. Er erreichte das etwa 250 Kilometer südwestlich liegende Vancouver und fand Unterkunft bei Verwandten.
Wie groß der Schaden wirklich ist und wie viele Menschen es nicht geschafft haben, die Gegend zu verlassen, darüber gab es bis Freitagnachmittag noch keine offiziellen Angaben. In der Nähe von Lytton haben mehrere First Nations ihre Territorien und Siedlungen. Auch sie mussten fliehen.
29.000 Blitze innerhalb von 24 Stunden
Seine Gemeinde erlebe ein unglaubliches Maß an „Zerstörung und Verlust“, sagte John Haugan, der stellvertretende Chief der Lytton First Nation. Die First Nation versucht nun, Kontakt zu allen Mitgliedern aufzunehmen, um einen Überblick zu bekommen, ob sich alle in Sicherheit bringen konnten.
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Noch ist nicht genau klar, was das Feuer bei Lytton auslöste. Die Gemeinde hatte am Dienstag die höchste jemals in Kanada gemeldete Temperatur gemeldet: 49,5 Grad Celsius. Möglicherweise hat Blitzschlag das Feuer ausgelöst. Der Regierungschef der Provinz, John Horgan, berichtete, dass in der Provinz binnen 24 Stunden rund 29 000 Blitzschläge aufgezeichnet worden seien.
Ein Funken genügt, um die trockenen Wälder in Brand zu setzen. Die Feuerwehr ist pausenlos im Einsatz, unterstützt durch „Waterbomber“, Flugzeuge und Hubschrauber, die über den Flammen Wasser abwerfen. Kanadas Premierminister Justin Trudeau sagte Horgan Unterstützung zu. Die Armee steht bereit zu helfen.
In der ganzen Provinz vom Norden bis an die Grenze zu den USA sieht die Lage dramatisch aus. Die für die Waldbrandbekämpfung zuständige Behörde BC Wildfire meldet nahezu 100 Wald- und Buschbrände. Die neun größten und gefährlichsten Brände bedecken mittlerweile zusammen eine Fläche von mehr als 60 000 Hektar.
Es ist der Anfang der Waldbrand-Saison
Im Tal des Fraser-Flusses beschleunigt der Wind die Ausbreitung der Feuer. Das Tal wirkt stellenweise wie ein Windkanal, hieß es am Donnerstagabend in Berichten aus British Columbia. Es wurden Windgeschwindigkeiten bis zu 70 Stundenkilometern erreicht, so dass das Feuer auch die beiden Flüssen, den Thompson und den Fraser, übersprangen. „Das ist das worst case-Szenario“, sagt Johanna Wagstaffe, Meteorologin im Dienst des kanadischen Rundfunks CBC.
Beunruhigend ist, dass in diesem Jahr die Feuersaison so früh begann. Meteorologen sehen in den Ereignissen einen Beleg für die Klimaveränderungen und den Klimawandel – und nicht nur sie. Solche Wetterextreme werden durch den Klimawandel wahrscheinlicher, erklärt Dim Coumou vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und der Vrijen Universiteit Amsterdam.
„Die Treibhausgase aus fossilen Brennstoffen machen es nicht einfach nur überall etwas wärmer, sondern sie können auch die großen Luftströmungen hoch oben im Himmel über uns verändern.“ Diese Luftströmungen bestimmen vielfach das Wetter auf der Erde. Die Hitze in Kanada gehe auf ein sehr hartnäckiges Wettersystem zurück. Hintergrund ist eine Verlangsamung von Wettersystemen, verursacht durch Veränderungen in dem als „Jetstream“ bekannten Höhenwindsystem.
Normalerweise bewegt es sich ostwärts und erzeugt dabei ein Wellenmuster zwischen Äquator und Arktis, wobei es auch die Wetterlagen vorwärts schiebt. „Wenn dieses Wellenband öfter länger stehenbleibt, dann bleiben auch die Wetterlagen öfter länger stehen“, erklärt Coumou.
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Verursacht werde dies durch eine ganze Reihe von Faktoren. „Aber wir verschieben mit dem menschgemachten Klimawandel die Wahrscheinlichkeiten – und zwar nicht zu unseren Gunsten“, sagt der Klimaforscher. Hitzeglocken wie aktuell in Kanada und Teilen der USA können durch die Veränderungen viel länger andauern.
Die Entwicklung betreffe grundsätzlich auch in andere Regionen der Welt, zum Beispiel die russische Arktis. Satellitendaten von Copernicus, dem Erdbeobachtungsprogramm der EU, zeigen beispielsweise, dass in der Nähe von Werchojansk, das eigentlich als einer der kältesten Orte der Welt gilt, am 21. Juni ein neuer Höchstwert von mehr als 40 Grad Celsius gemessen wurde.
Auch Gordon Murray, der den Flammen in Lytton nur knapp entkam, ist klar, was das für die Zukunft bedeutet. „Was wir hier erleben, ist die Speerspitze des Klimawandels“, meint er. Noch sei die Gesellschaft auf diese veränderungen nicht eingestellt, „aber das müssen wir. Jetzt“.