Orkantief "Xaver": Was vom Sturm bleibt
Viele sind erleichtert – Orkantief "Xaver" hätte Deutschland deutlich härter treffen können. Manche fragen sich aber auch: Waren die Warnungen übertrieben?
- Heike Jahberg
- Matthias Schlegel
Großes Aufsehen hatte „Xaver“ schon erregt, bevor er überhaupt eingetroffen war. Nun ist das Sturmtief vorüber, die Schäden halten sich in Grenzen und die Erleichterung ist allerorten groß. Aber manche fragen sich auch, ob die Aufregung nicht übertrieben war.
Wie ist „Xaver“ im Nachhinein einzuordnen?
Nach Einschätzung des Deutschen Wetterdienstes (DWD) waren die Windgeschwindigkeiten bei „Xaver“ nicht so hoch wie beim Herbstorkan „Christian“. Diesmal sei jedoch eine größere Fläche betroffen gewesen und der Orkan habe länger angedauert. „Xaver“ lasse sich als recht kräftiger Orkan einordnen, dessen Intensität sich in Deutschland aber nicht mit den großen Stürmen des vergangenen Jahrhunderts, wie zum Beispiel „Lothar“ (Weihnachten 1999), messen lasse, und auch nicht mit „Emma“ (Ende Februar 2008) und „Kyrill“ (2007). Auf der Rückseite von „Xaver“ floss am Freitag arktische Kaltluft nach Deutschland, die Schnee- und Graupelschauer brachte.
War „Xaver“ harmloser als angekündigt?
Nein, sagt DWD-Pressesprecher Uwe Kirsche. Die Vorhersagen seien „sehr gut“ gewesen. Das Orkantief sei so kräftig gewesen wie vorhergesagt. Dass es nicht zu größeren Schäden gekommen sei, habe nicht damit zu tun, dass das meteorologische Phänomen harmloser ausgefallen sei, sondern dass das Warnsystem, in dem Wetterdienst und Katastrophenschutz eng verzahnt seien, so gut funktioniert habe. „Die Alarmierungsfunktion wurde schon am vergangenen Wochenende aufgebaut, so dass die Einsatzkräfte bestens vorbereitet waren“, sagte Kirsche. Weil auch die Medien in das Thema eingestiegen seien, sei die Bevölkerung sensibilisiert gewesen. „Was durch eigenes Handeln vermieden werden konnte, wurde vermieden“, so Kirsche.
Künftig sollen Wetter- und Unwettervorhersagen im Übrigen noch genauer und komplexer möglich sein. Just am Freitag stellte der Deutsche Wetterdienst seinen neuen Supercomputer des US-Herstellers Cray vor. Er soll die kaum vorstellbare Leistung von zwei Mal 550 Billionen Multiplikationen pro Sekunde erreichen, was der Kapazität von mehr als 30 000 handelsüblichen PCs entspricht. Nach Aussagen des DWD ist eine Vorhersage über sechs Tage heute genauer als 48-stündige Wettervorhersagen Ende der siebziger Jahre. Die „Trefferquote“ der Wettervorhersagen für die nächsten 24 Stunden liege jetzt deutlich über 90 Prozent.
Welche Schäden hat „Xaver“ hinterlassen?
Schleswig-Holstein und Hamburg bilanzieren nach „Xaver“: Der Norden ist noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen. In Schleswig-Holstein zählte die Feuerwehr rund 2000 Einsätze, in Hamburg waren es 600 Rettungseinsätze. Ein Sprecher der Provinzial-Versicherung sprach von geringeren Schadensmeldungen im Vergleich zum Sturmtief „Christian“ am 28. Oktober.
Hamburg verzeichnete mit dem Freitagmorgen-Hochwasser bei einem Pegelstand von 6,09 Metern über Normalnull (NN) die zweithöchste Sturmflut in ihrer Geschichte. Die höchste Markierung mit 6,45 Metern wurde beim Hochwasser vom Januar 1976 erreicht. Die Schutzanlagen in der Hansestadt sind jetzt für maximale Wasserhöhen zwischen 7,20 bis 9,25 Meter über NN ausgerichtet. Auf der Großbaustelle Elbphilharmonie wurden durch „Xaver“ Teile der bereits fertiggestellten Dachkonstruktion abgetragen.
Die Deiche an der schleswig-holsteinischen Nordseeküste haben alle gehalten. Nur auf Sylt musste bei Keitum eine undichte Stelle mit Sandsäcken auf einer Länge von 50 Metern abgedichtet werden. Dünenverluste im Inselsüden haben dagegen gewaltigen Schaden angerichtet. Regionalzüge ab Husum haben die Nordseeinsel zwischenzeitlich bereits wieder angefahren, erste Fähren mit Handwerkern an Bord die Inseln Föhr und Amrum angelaufen. Pellworm, Helgoland und die Halligen blieben dagegen verkehrstechnisch noch abgeschnitten. Ein Lkw-Unfall auf der Fehmarnsundbrücke hatte den Verkehr am Freitag komplett lahmgelegt. Der Nord-Ostsee-Kanal wurde am Freitag wegen der Hochwassersituation nach kurzzeitiger Öffnung erneut komplett für die Durchfahrt gesperrt. Die Bahn teilte mit, dass der Fernverkehr von Hamburg nach Schleswig-Holstein und Dänemark voraussichtlich erst wieder am Samstagmittag aufgenommen werden kann. Auch im Regionalverkehr gibt es weiterhin massive Störungen. Für Samstag wurde an der Ostseeküste eine Hochwasserwarnung mit einem Scheitelpunkt bis zu 1,25 Meter über NN ausgesprochen. Das vom Weststurm noch weggespülte Wasser sucht sich dann – einem Badewanneneffekt vergleichbar – seinen Weg zurück.
Eine konkrete Schadenssumme lässt sich noch nicht abschätzen, dafür sei es noch viel zu früh, sagte ein Sprecher der weltgrößten Rückversicherers Munich Re am Freitag in München. Dieser Prozess werde Wochen brauchen.
Nach einer Erhebung des Flugbuchungsportals fluege.de sind allein von Donnerstag bis Freitagfrüh an den 22 deutschen Passagierflughäfen 531 Flüge wegen des Orkans ausgefallen: 297 Abflüge wurden gecancelt, 234 Ankunftsflüge gestrichen. In Hamburg und Bremen ging an den Flughäfen seit Donnerstag 14 Uhr bis Freitagvormittag fast nichts mehr. Tausende Fluggäste waren betroffen. Allein am Hamburger Flughafen wurde bis Freitagvormittag etwa jeder 4. Flug gestrichen.
Wodurch wurde größere Schäden verhindert?
Schleswig-Holsteins Umweltminister Robert Habeck (Grüne) brachte es auf den Punkt: „Heute Nacht hat Deutschland den Atem angehalten und auf unsere Deiche geschaut – sie haben standgehalten.“ In den Deichbau ist in den vergangenen Jahren viel Geld geflossen, und es war offenbar gut angelegt.
So resümiert denn auch der Rückversicherer Munich Re, „Xaver“ habe deutlich die Wichtigkeit von vorbeugenden Maßnahmen wie Küstenschutz oder Warnsystemen gezeigt. Zwar habe sich die Bedrohung durch Winterstürme in Europa in den vergangenen 30 Jahren nicht wesentlich verändert, jedoch zeigten die getroffenen Schutzmaßnahmen an den Küsten Wirkung. So seien allein in Hamburg nach der verheerenden Sturmflut von 1962 auf heutige Werte umgerechnet rund 2,2 Milliarden Euro in den Hochwasserschutz investiert worden. Nach 1962 habe es inzwischen fünf Sturmfluten gegeben, die die Pegelstände von 1962 überschritten, aber weit weniger Schäden angerichtet hätten. Nach einer Simulation des Rückversicherers hätten die Schutzmaßnahmen Schäden in Höhe von rund 17,5 Milliarden Euro verhindert.
Wer zahlt für Sturmschäden?
Ob die Versicherung für die Schäden von „Xaver“ aufkommt oder nicht, hängt – wie in einem Teil unserer Auflage bereits berichtet – davon ab, was der Orkan demoliert. Eine Sturmversicherung für alles und alle gibt es nicht. Für Schäden am Haus (abgedeckte Dächer, kaputte Fenster) kommt die Wohngebäudeversicherung auf. Die Hausratversicherung zahlt für die Wiederbeschaffung von kaputten Möbeln, Teppichen oder Bildern, die der Sturm oder eindringender Regen zerstört haben. Treten die Schäden nicht am eigenen Haus auf, sondern beim Nachbarn, ist das ein Fall für die Haftpflicht. Treffen die Dachziegel oder Äste das Nachbarauto, zahlt die Privathaftpflichtversicherung. Ist das Gebäude, von dem die Ziegel oder die Äste fallen, vermietet, braucht der Vermieter eine Gebäudehaftpflichtversicherung.
Wird der eigene Wagen durch Dachziegel, herabstürzende Blumenkästen oder Äste beschädigt, springt die Teilkaskoversicherung ein, fährt man gegen einen umgestürzten Baum, den „Xaver“ auf die Straße geweht hat oder drängt einen der Orkan von der Straße, braucht man eine Vollkaskoversicherung. Vom Fiskus können Privatleute keine Hilfe erwarten. Bei vermieteten Häusern kann der Vermieter die Reparaturkosten aber als Werbungskosten absetzen.
Was können Reisende verlangen?
Obwohl die Bahn keinen Einfluss auf den Orkan hat, muss sie für Verspätungen zahlen. Das entschied der Europäische Gerichtshof im September. 25 Prozent vom Reisepreis kann der Kunde verlangen, wenn der Zug eine Stunde zu spät kommt, bei zweistündigen Verspätungen sogar die Hälfte des Reisepreises.
Fluggäste können sich das Geld für ihr Ticket rückerstatten lassen, wenn der Flieger am Boden bleibt. Finanziell kommen sie aber wahrscheinlich besser davon, wenn sie das Angebot der Airlines auf eine Ersatzbeförderung annehmen und etwa auf den Zug umsteigen. Denn wer morgen oder übermorgen mit einem anderen Flieger reisen will, bekommt jetzt nur noch teure Tickets. Und den Aufpreis zahlt die Fluggesellschaft nicht. Weitergehende Ansprüche, etwa auf eine Entschädigung, hat man nämlich nicht. Orkane sind höhere Gewalt, anders als die Bahn sind Fluggesellschaften in solchen Fällen frei. (mit dpa)
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