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Ein versierter Mediziner kann jede Behandlung begründen.
© Olena Yakobchuk/stock.adobe.com

Betrugsverdacht nach Krebsdiagnose: Warum Valeria F. ihren Arzt verklagt

Die Diagnose ist schockierend: Magenkrebs. Sie ist doch erst 30! Die junge Frau lässt jede Behandlung über sich ergehen. Dann wird sie stutzig. Eine Reportage.

Nein, das kann, das darf nicht sein, denkt Valeria F. an jenem Wintertag vor vier Jahren, ich bin doch erst 30. Die Diagnose des Arztes allerdings ist eindeutig: Dort, wo ihre Speiseröhre in den Magen münde, entstehe ein Tumor. „Wir machen das anfällige Gewebe mit dem Laser weg“, sagt der Doktor. „Und am besten bald.“

Thermische Ablation nennen Mediziner das. Valeria F. versteht nicht ganz genau, was der Arzt vorhat, aber sie widerspricht nicht. „Man will eben Hilfe“, sagt sie heute, „so einfach.“

Magenschmerzen haben Valeria F., eine zierliche Frau mit dezenten Tattoos und großer Brille, in diese Schöneberger Praxis geführt. Kurz zuvor hat die Italienerin in Berlin ein eigenes Unternehmen gegründet, sie designt und verkauft Schuhe. Termindruck, Verantwortung, Stress scheinen ihr auf den Magen geschlagen zu haben.

Ihr Hausarzt rät Valeria F., einen Gastroenterologen aufzusuchen, einen Fachmann für den Magen-Darm-Trakt. Erst meldet sich F. in einer anderen Praxis, dort aber werden absehbar keine Termine vergeben. In Berlin dauert es oft Wochen, manchmal Monate, bis Fachärzte freie Termine haben.

Weshalb Valeria F. dann in dieser Schöneberger Praxis anruft, weiß sie heute nicht mehr genau. „Jedenfalls hat er mir sofort einen Termin gegeben.“ Der Arzt, um den es geht, praktiziert seit bald 40 Jahren. In dieser Geschichte soll er Hermann Wolf heißen.

Als Valeria F. im Dezember 2013 zum ersten Mal in die Praxis von Hermann Wolf kommt, ist das Wartezimmer voll. Es herrscht Hektik, der Doktor macht bei seiner Untersuchung einen überaus entschlossenen Eindruck. Nach wenigen Minuten führt er den Sondenkopf eines Ultraschallgeräts über den Bauch der Patientin. Die Bilder sind ungenau, weshalb er – wieder in Minutenschnelle – einen Anästhesisten holen lässt. Der setzt F. eine Maske auf. Vollnarkose, Magenspiegelung. Als sie aufwacht, verkündet ihr der Arzt: „Ich vermute, wir haben es mit einem Barrett-Syndrom zu tun.“

Ängstlich fragt sie sich: Wie werde ich leben?

Valeria F. ist schockiert. Das Barrett-Syndrom, erklärt der Arzt, sei eine krankhafte Gewebeveränderung zwischen Speiseröhre und Magen – eine Krebsvorstufe. Er habe ihr während der Narkose eine Probe für das Labor entnommen, bald werde ein Ergebnis vorliegen, dann habe man Gewissheit.

Den Befund der Laboranten verkündet Wolf seiner Patientin beim zweiten Praxisbesuch ein paar Tage später: Ja, wie vermutet, Barrett-Syndrom, zwei Zentimeter lang. „Das wird wohl ein Tumor“, sagte Wolf, „wir sollten lasern.“ Minuten später dämmert F. wieder in Vollnarkose weg. Nach dem Aufwachen vereinbart der Arzt einen Kontrolltermin.

Valeria F. fragt sich ängstlich: Wie werde ich leben? Darf ich essen, was ich möchte? Sind Wein, Bier, Sekt erlaubt? Die junge Frau beginnt ihren Alltag umzustellen, sie verzichtet auf Fleisch. Bei Magenkrebs wird das empfohlen. Valeria F. wird sogar Veganerin. „Ich hatte einfach Angst“, sagt sie. „Man macht dann alles Mögliche, um wieder gesund zu werden.“

Drei Wochen nach der ersten Laserbehandlung sitzt Valeria F. wieder bei Doktor Wolf in der Praxis. Der Arzt teilt ihr mit, dass der Laser offenbar nicht geholfen habe. „Das haben wir noch nicht wegbekommen“, sagt Wolf ernst. „Wir nehmen einen anderen Laser!“ Und wieder: OP-Tisch, Vollnarkose.

Zu einem vierten Termin erscheint Valeria F. dann eine Woche später. Man müsse schauen, gibt Wolf ihr zu verstehen, ob der Laser gewirkt habe. OP-Tisch, Vollnarkose, Endoskopie. Ergebnis: unklar, „bitte kommen Sie in ein paar Wochen wieder“.

Valeria F. fährt nach Italien, obwohl Doktor Wolf ihr davon abrät. In ihrer Heimat trifft sie sich mit Geschäftspartnern und Freunden. In Sorge ist sie immer noch, denn sollte der Laser auch diesmal keine Wirkung gezeigt haben, dann – das hat Wolf ihr prophezeit – müsse eben richtig operiert werden.

"Mir kam das komisch vor"

In Italien erreicht die Designerin jener merkwürdige Anruf, den sie heute als verräterisch einstuft: Erst entfacht der Arzt so viel Angst in ihr, legt sie auf den OP-Tisch, und nun meldet er sich – wie nebenbei – beschwingt am Telefon? „Hallo, kein Krebs mehr da“, trällert der Doktor in sorglosem Ton. „Aber kommen Sie bitte noch zum Kontrolltermin.“

Kein Tumor, Valeria F. ist erleichtert. Trotzdem, so erinnert sie sich heute an das Gefühl, ist der Anruf der Moment, seitdem für sie feststeht: Mit diesem Arzt stimmt irgendwas nicht. „Er wirkte plötzlich so unernst“, sagt sie. „Mir kam das komisch vor, als wäre das alles ein Spiel für ihn gewesen.“

Valeria F. geht, trotz Wolfs ausdrücklicher Aufforderung, nicht mehr in seine Praxis. Sie spricht stattdessen mit einem Freund, der inzwischen selbst Mediziner ist. Der wundert sich: So jung schon Magenkrebs – und sofort Lasereinsatz? Valeria F. grübelt. Nach einigen Monaten wendet sie sich an die Charité. Ein Oberarzt dort stellt fest: Tumor? Gab es nicht. Lasereinsatz? Fand nicht statt. Der Laborbefund? Unauffällig, kein Barrett-Syndrom. Die Diagnose, der Befund, die Laserbehandlung – alles erfunden.

Ein profit- oder sogar renditeorientiertes Gesundheitssystem wie unseres ist eine üble Fehlkonstruktion. Etliche Ärzte handeln trotzdem verantwortungsbewusst und an ihrem Ethos orientiert. Eine Fehlkonstruktion ist es dennoch.

schreibt NutzerIn rita75

„Ich habe nie daran gedacht, einem Arzt zu misstrauen“, sagt Valeria F, „ich war wütend, aber fast noch mehr verblüfft. Er ist Arzt – wie konnte er mich so reinlegen?!“ Sie geht zum Anwalt, der übernimmt den Fall Anfang 2015.

Kranke vertrauen Medizinern. Oft stimmen Patienten einem Arzt zu, obwohl sie nicht genau wissen, was der Fachmann eigentlich erklärt hat. Vielleicht wäre Valeria F. nie aufgefallen, was ihr Arzt getan hat. Vielleicht wäre sie dankbar gewesen, für die Heilung. Vielleicht wäre der Mann, der sich bald vor Gericht verantworten muss, davongekommen.

Demnächst wird die Justiz darüber urteilen

Medizinrechtliche Verfahren dauern oft Jahre, all die Gutachten, Fristen, Gegengutachten kosten Zeit. Jedes Jahr, so grobe Schätzungen von Ermittlern, versickern zwischen 20 und 50 Milliarden Euro im Gesundheitswesen. Mit 350 Milliarden Euro Jahresumsatz ist es Deutschlands größte Branche, der Anteil krimineller Beschäftigter dürfte nicht höher sein als in anderen Berufen. Aber ein einziger Arzt kann riesige Summen ergaunern. Da übertreibt ein Mediziner schon mal die Diagnose; da wünschen sich auch Klinikmanager lieber schwere, weil von den Kassen besser bezahlte Fälle; da strecken Apotheker teure Medikamente wie Dealer ihren Stoff.

Derzeit steht ein Bottroper Apotheker vor Gericht, der Krebspräparate gepanscht haben soll, um mehr Mittel verkaufen zu können, aber weniger vom teuren Wirkstoff einsetzen zu müssen. Die Krankenkassen soll er so um 56 Millionen Euro betrogen haben. Im Fall von Valeria F. geht es um kleinere Summern, Hermann Wolf dürfte an ihr rund 5000 Euro ergaunert haben. Ermittler sagen dazu: Übung macht den Meister – wer so kaltschnäuzig vorgehe, mache das nicht zum ersten Mal.

Mit Hermann Wolf hat sich nach dem Charité-Chefarzt auch ein gerichtlich beauftragter Gutachter befasst. Demnächst wird die Justiz darüber urteilen, ob die Diagnose nicht doch korrekt gewesen sein könnte – oder ob Wolf ein Betrüger ist. Allerdings ist es schwer, einem Arzt beizukommen, der die Ahnungslosigkeit seiner Patienten ausnutzt und dann hartnäckig jede Absicht leugnet. Selbst wenn er so dreist vorgeht wie Doktor Wolf.

„Ich vertrete seit 17 Jahren Patienten“, sagt Jörg Heynemann. „Vergleichbares habe ich nicht erlebt.“ Heynemann ist Anwalt, in Berliner Praxen und Kliniken fürchten ihn einige Ärzte. Als Valeria F. in seine Kanzlei kam, habe er die Schilderungen der Frau zunächst kaum glauben können: „Einer jungen Patientin vorzulügen, sie habe eine Krebsvorstufe. Die Patientin dann in Vollnarkose zu versetzen, weil die Versicherung das gut bezahlt – das ist schon ungewöhnlich niederträchtig.“ Heynemann hat Wolf angezeigt. Die Staatsanwaltschaft prüft, ob sie den Arzt wegen Körperverletzung und Betrug anklagt. Außerdem fordert Heynemann von dem Gastroenterologen 15 000 Euro Schmerzensgeld. In diesem Fall wird sich der Arzt also wohl vor einer Zivil- als auch vor einer Strafkammer verantworten müssen. Vom zweimaligen Freispruch bis zur Verurteilung zu Schmerzensgeld und Haftstrafe wäre alles möglich.

Praxen sind gewinnorientierte Unternehmen

Über Jahrhunderte hatten es Ärzte mit ihren Patienten leicht. Von Medizinern gestellte Diagnosen glichen Urteilen von Richtern. Das änderte sich zuletzt. Nun fragen Patienten nach, wechseln Praxen, verklagen Ärzte. Scharlatane zu entlarven aber gelingt Laien kaum. Obwohl Patienten heute selbstbewusster sind, mitunter gar eine übertriebene Anspruchshaltung pflegen, besteht ein erhebliches Gefälle zwischen Arzt und Patient.

Ein versierter Mediziner kann jede Behandlung begründen, zumal sich der Zustand von Wunden, aber selbst die Blutwerte eines Patienten so verändern können, dass vieles später kaum zu überprüfen ist. Nur in sogenannten Schwerstfällen gilt eine Beweislastumkehr. Dann muss der Arzt darlegen, warum er nichts für eine Panne kann. Körperlich sind bei Valeria F. bleibende Schäden nicht zu erwarten, sie muss beweisen, dass Wolf in betrügerischer Absicht handelte. Archivbilder, die jeder Laser vom Einsatz speichert, fehlen – Doktor Wolf sagt Anwalt Heynemann, das Gerät sei dahingehend wohl defekt gewesen.

Das Landgericht hat einen früheren Chefarzt als Gutachter beauftragt. Der stellte nicht nur „gravierende Dokumentationsmängel“ fest, sondern: Nach einem Lasereinsatz wäre es „nahezu unmöglich“, dass alle „therapiebedingten Schäden an dem Schleimhautareal abgeheilt sind“. Wo gelasert wird, bleiben Narben. Unabhängig davon stelle die Arbeit mit dem Laser – „sollte sie denn stattgefunden haben“ – ohnehin einen Behandlungsfehler dar, es habe dafür schlicht „keine Indikation“ gegeben, der Arzt schürte „wohl unnötig die Krebsangst“ bei der Patientin.

Über einen Anwalt lässt Doktor Wolf ausrichten, ihm verbiete die Schweigepflicht, sich zu Details zu äußern, was richtig ist. Grundsätzlich, erklärt der Anwalt, arbeite Wolf seit Jahrzehnten vertrauensvoll und fachlich korrekt. Interessanter ist, was eine zweite von Wolf beauftragte Kanzlei einige Stunden danach schreibt: Sollte der Doktor „in identifizierbarer Weise dargestellt“ und „sein Ruf nachhaltig geschädigt“ werden, werde man vor Gericht dagegen vorgehen.

Ärzte müssen ihre Praxen als gewinnorientierte Unternehmen führen, ein schlechter Ruf kann zum Ruin führen. Allerdings betrachten einige ihre Patienten allzu leicht als Kunden, denen es möglichst viele Behandlungen zu verkaufen gilt. Im Gutachten heißt es zu Wolf fast schon ironisch: „Warum der Beklagte bei der Klägerin eine im privatärztlichen Bereich sehr lukrativ vergütete thermische Ablation vorgenommen hat, erschließt sich dem Gutachter aufgrund der zuvor gemachten Tatsachen nicht.“

Warum ging alles immer so schnell?

Dass Valeria F. damals privat versichert ist, hat für den Arzt einen Vorteil: Die gesetzlichen Krankenkassen sind verpflichtet, Verdachtsfällen nachzugehen. Privatversicherungen entscheiden dagegen selbst, ob sie intervenieren.

Die Versicherung von Valeria F. geht nicht gegen Hermann Wolf vor, vermutlich ist ihr die Summe, um die es geht, für den absehbaren Aufwand zu gering. Der Verband der privaten Krankenkassen teilt mit, solche Kosten-Nutzen-Abwägungen seien üblich. Oft gelinge der Nachweis nicht, dass es sich um Betrug handele. Zuweilen gäben Ärzte auch Irrtümer zu, korrigierten Rechnungen – und machten weiter.

„Wenn man so jung ist, trifft einen so eine Diagnose besonders hart“, sagt Valeria F., „ich möchte, dass der Typ keine Patienten mehr betrügen kann.“ Manchmal fragt sie sich, ob sie früher hätte stutzig werden sollen. Warum wurde sie nach der Vollnarkose, noch benommen, von einer Praxisangestellten sofort in einen anderen Raum geführt und auf einen Stuhl gesetzt – statt, wie fachlich empfohlen, sich über ein, zwei Stunden liegend zu erholen? Alles in der Praxis Wolf ging immer so schnell. „Und ich habe mich noch gewundert, warum der Anästhesist nach Alkohol roch“, sagt F. und schüttelt den Kopf. „Der zitterte sogar.“

Hermann Wolf gierte nicht nur nach Geld, sondern auch nach Anerkennung. Auf der Internetseite seiner Praxis gab sich der Arzt als Dozent an der Humboldt-Universität aus. Die Hochschulleitung teilt mit, das stimme nicht. Das Wort „Dozent“ ist inzwischen von der Praxis-Homepage gestrichen.

Über Wolf beraten bald nicht nur Richter, sondern auch die Experten der Berliner Ärztekammer. Sie haben Valeria F. befragt. Die Ärztekammern sind für das Standesrecht der Zunft zuständig, ihnen gehören alle praktizierenden Mediziner an. Wenn die Kammern davon ausgehen, dass sich ein Mitglied nicht mehr für den Arztberuf eignet, dann legen sie dem zuständigen Landesamt für Gesundheit und Soziales nahe, die Approbation, also die Berufserlaubnis, zu entziehen.

Das allerdings ist selten – und das Amt folgt der Empfehlung der Kammer nicht in jedem Fall. Anwalt Heynemann wünscht sich mehr Druck: „Ein solcher Arzt sollte nicht weitermachen dürfen.“ Die Ärztekammer äußert sich nicht zu laufenden Verfahren.

Valeria F.s Magenschmerzen ließen übrigens nach ein paar Monaten nach. Dass Wolfs Haftpflichtversicherung die Kosten seines Prozesses wohl nicht übernimmt, deutet darauf hin, dass ihre Chancen vor Gericht gut stehen. Wenn der Prozess vorbei ist, wenn Hermann Wolf vielleicht nicht mehr als Arzt arbeiten darf, möchte Valeria F. all das hinter sich lassen. Nicht mehr an Narkosen, Laser, Akten denken. Eines aber will sie bleiben: Veganerin.

Hannes Heine

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