„Bettelt, borgt oder stehlt!“: Warum in Indien Gerichte zum Sauerstoff-Raub aufrufen
Die Corona-Lage in Indien spitzt sich weiter zu – in den Krankenhäusern herrscht Chaos, denn es mangelt an allem. Die Gerichte reagieren.
Pramod Walukar ist verzweifelt, völlig hilflos fühlt sie sich. „Ich hatte meinem Bruder noch Essen ins Krankenhaus gebracht, doch während wir uns unterhielten, fiel die Sauerstoffversorgung aus. Zwei Stunden später war er tot“, erzählt die 42-Jährige der indischen Nachrichtenagentur PTI. „Er flehte mich um Hilfe an, während er erstickte, aber ich konnte nichts machen.“
In der Klinik im indischen Nashik waren 150 Corona-Patienten in Behandlung – um die zwei Dutzend wurden beatmet. Nach einem Leck im Sauerstofftank gab es keine Zufuhr für die Patienten mehr, mindestens 24 Menschen starben. In der Klinik brach das Chaos aus: Angehörige ergriffen Sauerstoffflaschen von den Betten der gerade Verstorbenen, um ihre Kranken zu retten. Ärzte und Schwestern versuchten, Sterbende zu reanimieren. Schwerkranke Patienten wurden in Rikshas und Taxis geladen, um für sie ein anderes Krankenhaus zu suchen, doch vergebens.
Rekord bei täglichen Neuinfektionen weltweit
Indiens Coronakrise verschärft sich weiter. Das Land meldete am Donnerstag 314.835 Neuansteckungen – so viele, wie weltweit noch nie an einem Tag registriert wurden. Zudem gab es 2104 Corona-Todesfälle, mehr als Indien je zuvor an einem Tag zu beklagen hatte.
Gleichzeitig mangelt es an allem: Klinikbetten, medizinischem Sauerstoff, Medikamenten, Tests. Vor vielen Krankenhäusern stehen lange Schlangen von Krankenwagen mit Corona-Patienten, die darauf warten, dass ein Bett frei wird. Das Oberlandesgericht in Neu-Delhi forderte die Zentralregierung auf, den Betrieb von Ölraffinerien und anderen Industriezweigen, die Sauerstoff in der Produktion verwenden, zu stoppen, und die knappen Reserven an die Krankenhäuser zu liefern. „Bettelt, borgt oder stehlt! Dies ist ein nationaler Notstand“, verlangten die Richter.
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Die Zahl der gesamten Corona-Infektion seit Beginn der Pandemie in Indien stieg auf fast 16 Millionen. Indien ist nach den USA das am härtesten von Covid-19 betroffene Land. Eine große Antikörper-Studie vom Dezember 2020, die vor kurzem veröffentlicht wurde, kommt zu dem Schluss, dass nur knapp 20 Prozent der indischen Bevölkerung bereits eine Corona-Infektion durchgemacht haben. Hoffnungen auf eine entwickelte Herdenimmunität in der Bevölkerung hatten sich als verfrüht herausgestellt.
Lange hatten die Behörden lieber denjenigen Studien Glauben geschenkt, die von einer Infektionsquote von über 50 Prozent ausgingen, wie man sie in manchen Slums der indischen Finanzmetropole Mumbai ermittelt hatte. Die Mär von der Herdenimmunität passte nicht nur gut in das Bild sinkender Fallzahlen, sondern auch zum Wunsch, die Wirtschaft wieder zum Laufen zu bringen.
In den Cricket-Stadien fanden wieder Spiele vor Tausenden Zuschauern statt. Das hinduistische Kumbh-Mela-Festival mit Millionen Gläubigen, die zum Ganges pilgerten, wurde planmäßig veranstaltet und auch die Wahl für die Volksvertretung im Bundesstaat Westbengalen mit 91 Millionen Einwohnern wurde nicht verschoben.
Angesichts rapide steigender Corona-Infektionszahlen befinden sich die Hauptstadt Neu-Delhi und andere Teile des Landes seit Anfang der Woche wieder in einem harten Lockdown. Wie vor einem Jahr machten sich daraufhin Tausende Wanderarbeiter aus den Metropolen zurück auf den Weg in ihre Dörfer, weil sie fürchteten, ohne Arbeit, Essen und Geld in der Stadt zu stranden. Nun wird wieder davon ausgegangen, dass mit den Migranten auch mehr Corona-Infektionen von der Stadt auf das Land getragen werden, wo es kaum medizinische Versorgung gibt.
Die USA, Großbritannien, Frankreich und andere Staaten haben inzwischen einen Einreisestopp für Flüge aus Indien verhängt. Experten erwarten, dass die neue Corona-Welle erst Mitte Mai ihren Höhepunkt erreicht. Bislang sind erst um die 2,5 Prozent der indischen Bevölkerung vollständig geimpft. Die Regierung hat ab 1. Mai Impfungen für alle Inder ab 18 Jahren freigegeben, doch es mangelt an Impfstoff.