China: Warum ein neues Gesetz vorschreibt, dass Kinder ihre Eltern besuchen
China kämpft gegen den gesellschaftlichen Wandel. Der Konfuzianismus schreibt Respekt vor dem Alter vor. Der Kapitalismus unterhöhlt diese Tradition.
Die Geschichte des achtjährigen Wu Meng ist eine erstaunliche: Der chinesische Junge zog sich in Sommernächten das Hemd aus und beobachtete regungslos, wie sich Mückenschwärme auf seinem Oberkörper niederließen und zustachen. Nie scheuchte er die Tiere weg, denn er wollte nicht, dass die Mücken seine neben ihm schlafenden Eltern belästigen. Damit diese sein Opfer nicht bemerken, zog sich Wu Meng vor dem Aufstehen das Hemd wieder über den zerstochenen Körper.
Ein-Kind-Politik: Ein Kind versorgt zwei Eltern und vier Großeltern im Alter
Viele Chinesen kennen Wu Mengs Geschichte aus der Schule, sie ist eines von 24 historischen Beispielen kindlicher Pietät. Aktuell aber ist sie schon lange nicht mehr, im Gegenteil. In dieser Woche hat eine 77 Jahre alte Chinesin nach einem Bericht der „Wuxi Daily“ ihre Tochter wegen Eltern-Vernachlässigung verklagt. Grundlage der Klage ist ein kurioses Gesetz zur Achtung der älteren Generation, das am 1. Juli in Kraft getreten ist. Es beinhaltet, dass Kinder ihre Eltern „oft“ besuchen müssen, und drückt die Folgen des gesellschaftlichen Wandels im modernen China aus: Einst galt das Ehren der Alten als zentrale konfuzianische Tugend, heute braucht es ein Gesetz, um jüngere Generationen daran zu erinnern. Die 77-jährige Mutter bekam Recht: Das Gericht verurteilte die Tochter dazu, ihre Mutter mindestens einmal in zwei Monaten und mindestens an zwei Nationalen Feiertagen im Jahr zu besuchen.
Traditionell obliegt es in China den Kindern, Eltern und Großeltern im Alter zu betreuen. Sie wohnen mit ihnen zusammen oder zumindest in der Nähe, weshalb Altersheime in China lange Zeit eine Randerscheinung waren. Inzwischen aber ist der Bedarf groß, wie die „Beijing Evening News“ berichtete. So gibt es im Pekinger Wohlfahrtsheim Nummer 1 für 1100 Betten über 10 000 Anfragen. Daran sind vor allem Ein-Kind-Politik und Urbanisierung schuld. So muss ein Enkelkind zwei Eltern und vier Großeltern versorgen. Hunderte Millionen Wanderarbeiter leben weit weg von ihren Verwandten.
Der Umgang mit der alten Generation ist zu einer zentralen Aufgabe der chinesische Politik geworden. Ihr Anteil an Chinas Bevölkerung nimmt so rasant zu wie in kaum einem anderen Land. In diesem Jahr werden erstmals 14,8 Prozent (202 Millionen) der Chinesen über 60 Jahre alt sein. Im Jahr 2050 wird der Anteil nach einer UN-Prognose auf 42 Prozent steigen. Das wirft Probleme auf. Schon jetzt leben laut der Altersstudie Charls rund 25 Prozent der über 60-Jährigen unterhalb der chinesischen Armutsgrenze von umgerechnet rund 300 Euro pro Jahr.
Eine Altersvorsorge gibt es kaum in China
Wie China die künftige Altersvorsorge finanzieren will, ist völlig unklar. Nach Medienberichten hofft die Regierung, dass 90 Prozent der Alten auch künftig von ihrer Familie versorgt werden und nur 10 Prozent in staatlichen und privaten Altersheimen untergebracht werden müssen. Deshalb stützt die Regierung die konfuzianische Tradition, nicht nur mit dem jüngsten Gesetz. Der Schriftsteller Guo Cheng findet das seltsam. „Verwandtschaft ist ein Teil der menschlichen Natur, es ist lächerlich, das in ein Gesetz zu schreiben“, schreibt er in seinem Blog, „es ist wie frisch verheirateten Paaren vorzuschreiben, harmonischen Sex haben zu müssen“. Doch auch die 24 Beispiele kindlicher Pietät hat die Regierung aktualisiert und 24 neue Beispiele herausgegeben. Nun müssen sich Kinder nicht mehr den Oberkörper von Mücken zerstechen lassen. Stattdessen sollen sie jährlich eine Geburtstagsfeier für Vater und Mutter ausrichten – und aufmerksam zuhören, wenn die Eltern Geschichten aus der Vergangenheit erzählen.Benedikt Voigt