Sturmtief "Xavier": Warum das Orkan-Chaos mehrere Tage bleibt
"Xavier" ist einer der heftigsten Stürme der vergangenen Jahrzehnte. Warum war er so zerstörerisch, und wie ist die Lage danach? Fragen und Antworten.
Auch am Tag, nachdem das Sturmtief „Xavier“ über Nord- und Ostdeutschland gefegt war, herrschte in vielen Gebieten weiterhin großes Chaos. Bahnlinien waren lahmgelegt, mancherorts war das Stromnetz zusammengebrochen.
Um welchen Typ Sturm handelte es sich?
„Xavier“ ist ein ganz besonderer Sturm gewesen, wie er in der Forschung unter dem Namen „Shapiro-Keyser-Zyklon“ bekannt ist. Diese Art von Stürmen ist in der Wissenschaft erst seit etwa zehn Jahren ein Thema, wie der Meteorologe Ronny Büttner von der Wetteragentur MeteoGroup sagt. Der Unterschied zu normalen Stürmen besteht darin, dass die Kaltluft es nicht schafft, die Warmluft einzuholen und stattdessen von ihr umschlossen wird. Normalerweise lösen sich Kalt- und Warmluft in einer Mischfront auf. Im Falle von „Xavier“ war laut Büttner zudem die Höhenströmung sehr ausgeprägt, es kam zu großen Temperaturunterschieden, die den Sturm so heftig machten und so schnell durchziehen ließen. „Schnellläufer“ werden solche Stürme genannt, die nach kurzer Zeit fort sind.
Wie sind Berlin und Brandenburg auf solche Ereignisse vorbereitet?
Offensichtlich sehr gut. Als am Donnerstag um 16.04 Uhr die Berliner Feuerwehr den Ausnahmezustand ausrief, wurden alle verfügbaren Kräfte mobilisiert. Das Gleiche gilt für Brandenburg. Alle Freiwilligen Wehren rückten aus, ebenfalls das Technische Hilfswerk (THW) und die Polizei, die absperrte und ebenfalls half. Die ganze Nacht zum Freitag und am Freitag selber waren die Kräfte weiter dabei, die Aufgaben nach einer Prioritätenliste abzuarbeiten. Bis 20 Uhr am Freitagabend verzeichnete die Berliner Feuerwehr 2600 wetterbedingte Einsätze in 28 Stunden Ausnahmezustand. 595 Einsätze standen ihr nach der Liste noch bevor. Um 21 Uhr entließ die Wehrspitze zumindest die freiwilligen Kräfte und das THW in die Nachtruhe - damit sie am Samstag wieder die Berufsfeuerwehr unterstützen können.
Wie hoch ist der Schaden?
„,Xavier’ wird die deutschen Versicherer mit rund 150 bis 200 Millionen Euro belasten“, sagte Onnen Siems, Geschäftsführer der Kölner Beratungsgesellschaft Meyerthole Siems Kohlruss (MSK) am Freitag. Er beruft sich auf eigene Modellrechnungen. „Herbststürme, die sich noch vor Mitte Oktober ereignen, sind in den letzten 50 Jahren nur wenige Male aufgetreten.“
Wie war der Verkehr betroffen?
Das hat es seit ewigen Zeiten nicht mehr gegeben: Am Donnerstag herrschte Stillstand überall gleichzeitig bei der S-Bahn, im Regional- und Fernverkehr der Bahn, bei der Straßenbahn und im Busverkehr, im Fährdienst und an vielen Stellen auch auf den Straßen. Nur die U-Bahn fuhr – mit wenigen Ausnahmen – weiter. Mit meist rappelvollen Zügen.
Wann fahren die Züge wieder?
Die Bahn rechnet damit, dass die seit Donnerstagnachmittag gesperrte Strecke von Berlin nach Hamburg erst am Montagfrüh wieder frei sein wird. Allerdings will sie ab Samstag schon wieder Verbindungen zwischen beiden Strecken anbieten - über den Umweg Hannover. Ähnlich sehe es bei der Verbindung Richtung Cottbus aus, sagte ein Sprecher. Allein im Bereich Grünau in Berlin sind sieben Maste der Oberleitung umgeknickt. Das ist ungewöhnlich. Sturmschäden beschränken sich sonst bei der Bahn meist auf zerstörte Oberleitungen durch umgestürzte Bäume.
Schneller entspannen soll sich die Lage auf den Schienen Richtung Hannover. Dort will die Bahn ab Samstag den Betrieb wieder aufnehmen. Nach Leipzig konnten Züge am Freitag ab 11 Uhr wieder zunächst zum Teil eingleisig fahren. Den Zustand der Strecken hat die Bahn vor der Freigabe von Hubschraubern aus kontrolliert.
Auch bei der S-Bahn kann es noch dauern, bis alle Schäden beseitigt sind. Am Freitag konnten die Züge noch nicht auf allen Linien komplett fahren. Zum Teil gab es auf Linien sogar noch mehrere Lücken. Die S 85 (Grünau-Waidmannslust) fuhr gar nicht. Rund 50 Bäume waren nach Angaben des Berliner Bahnchefs Alexander Kaczmarek auf Gleise gefallen. Insgesamt waren 110 Störfälle gemeldet worden. Mehrere Züge wurden so beschädigt, dass sie nicht mehr fahrfähig waren. Sie fehlen bis zur Reparatur im Betrieb. Der ohnehin vorhandene Wagenmangel verstärkt sich damit weiter.
Kommt die Bahn den Kunden entgegen?
Für Fahrten, die ab dem 5. Oktober gelten, verlängert die Bahn auf den betroffenen Strecken die Gültigkeit bis zum 15.Oktober. Für Reiseauskünfte hat die Bahn die Gratis-Sondertelefonnummer 08000–996633 eingerichtet. Gestrandete Fahrgäste brachte die Bahn zum Teil in „Hotelzügen“ unter, die in Berlin im Hauptbahnhof, am Südkreuz und in Spandau standen. Betten gab es dort nicht – aber immerhin Verpflegung. Auf den Bahnhöfen betreuten zusätzliche Mitarbeiter die Fahrgäste.
Müssen nun mehr Bäume an den Gleisen gefällt werden?
Der ehemalige Brandenburger Bahnchef Hans Leister fordert, alle Bäume links und rechts der Strecken, die höher sind als die Entfernung zum Gleis, zu fällen. Um Kosten zu senken, habe die Bahn seit Anfang der 1990er Jahre den Grünschnitt entlang der Bahnstrecken dramatisch vernachlässigt. Zur Kontrolle der Standsicherheit von Bäumen setzt die Bahn eigene Förster ein. Eine flächendeckende Kontrolle sei jedoch nicht möglich, sagte ein Sprecher. Über das weitere Vorgehen werde man aber sicher nachdenken. In der Regel ist die Bahn Eigentümer der Flächen auch neben den Gleisen. Sturzgefährdete Bäume können aber auch auf Privatgrundstücken stehen. Dann werde das Fällen oft schwierig, heißt es bei der Bahn.
Wie läuft es bei der BVG?
Busse und Straßenbahnen sowie die U-Bahnen auf den freien Strecken konnten auf den meisten Linien bereits am späten Donnerstagabend wieder fahren. Bei der Straßenbahn mussten nach Angaben von BVG-Sprecher Jannes Schwentuchowski in der Nacht rund ein Dutzend Schäden an den Oberleitungen beseitigt werden. Am Freitag wurden noch einige Buslinien umgeleitet, weil Straßen gesperrt waren. Eingestellt blieb die Fährlinie F 21 (Krampenburg-Schmöckwitz), weil ein Baum umsturzgefährdet war.
Wie ist die Lage in Brandenburg?
Am schlimmsten hat der Orkan wohl das Land Brandenburg getroffen. Vor allem wegen der vier Todesopfer, aber auch wegen der zwei Dutzend Verletzten und tausenden Betroffenen. Bis zum Freitagmittag fuhren keine Züge nach Cottbus, Frankfurt (Oder), Senftenberg, Neuruppin und andere Orte. Pendler kamen am Donnerstagabend nicht nach Hause. Viele übernachteten bei Freunden, organisierten sich Autos oder nutzten die von der Bahn bereitgestellten Züge, um die Nacht wenigstens im Warmen zu verbringen. Wer in Berlin blieb, hatte am Freitagmorgen zumindest nicht das Problem, nicht zur Arbeit nach Berlin zu kommen.
Auch die vom Orkan verursachten Sachschäden im Land dürften sehr hoch sein, im Innenministerium konnte man am Freitag noch keine Schätzung abgeben. Zu diesem Zeitpunkt waren auch noch viele Orte von Strom- und Internetausfällen betroffen, in Cottbus hatte der Orkan für viele Stunden die Energieversorgung zusammenbrechen lassen.
Die Einsätze der Feuerwehr sind noch lange nicht beendet. Überall in der Region sind Aufräumarbeiten im Gange. Tausende Einsatzkräfte von Polizei, Feuerwehren, Technischem Hilfswerk, Rettungsdiensten sowie zahlreiche freiwillige Helfer arbeiten an der Behebung der Schäden. Das volle Ausmaß ist noch immer nicht absehbar.
Nutzten Kriminelle die Lage aus?
Positiv wertete das Potsdamer Polizeipräsidium, dass keine Fälle bekannt seien, wo sich Menschen die Notsituation für kriminelle Taten zunutze gemacht hätten. Im Gegenteil: Der Aufruf der Polizei, doch wirklich nur die Notfälle über die Notfallnummern zu melden und nicht mit in dieser Situation zweitrangigen Problemen wie Lärm in der Nachbarwohnung oder Ähnlichem die Leitungen der Polizei zu blockieren, sei größtenteils befolgt worden. „Es ist ja nicht so wichtig, das von einem Baum beschädigte Auto zu melden als das Auto, in dem noch drei Menschen sitzen, die eingeklemmt wurden“, sagte Polizeisprecher Torsten Herbst.
Warum sind so viele Bäume in Berlin umgefallen?
Das ist schwer zu sagen. In Berlin sind wahrscheinlich mehrere tausend Bäume dem Sturm zum Opfer gefallen. Allein der Bezirk Mitte zählte 300 „Totalschäden“, also entwurzelte Bäume in Parks und auf Straßenland, sowie mehrere hundert Kronen- und Astschäden. Die Feuerwehr war am Freitag noch nicht in der Lage, die Zahl der Einsätze wegen umgefallener Bäume zu beziffern.
Senat und Bezirke warnen vor dem Betreten von Wäldern, Friedhöfen und Parkanlagen. Die Mitarbeiter der Grünflächenämter könnten sich erst in einigen Tagen einen Überblick über die Schäden verschaffen, hieß es in Mitte. Dort wurden alle öffentlichen Friedhöfe bis auf Weiteres gesperrt.
Die Senatsverwaltung für Umwelt sperrte alle Waldspielplätze. Harald Büttner, Leiter des Straßen- und Grünflächenamtes Mitte, spricht von einer „katastrophalen Großschadenslage“. Auch viele Parkmöbel wie Bänke, Toiletten und Laternen seien beschädigt worden. Außerdem Denkmäler im Großen Tiergarten. Der Schiller-Statue habe ein Ast wohl die Hand abgeschlagen. Alle 150 Mitarbeiter des Grünflächenamtes Mitte seien derzeit im Einsatz, auch am Wochenende würden sie durcharbeiten. Derzeit gehe es darum, „jeden Baum anzuschauen und gegebenenfalls Sofortmaßnahmen einzuleiten“, also Äste abzunehmen und Kronen auszulichten. Bei weiteren Regenfällen steige die Gefahr, dass Kronen auseinanderbrechen, sagte Büttner.
Durch den Orkan seien sowohl vorgeschädigte als auch völlig intakte Bäume entwurzelt worden. Mehrere ungünstige Faktoren seien zusammengekommen – das nasse Laub habe dem Wind viel Angriffsfläche geboten. Den Sturm wertet Büttner als „Teil des Klimawandels“. Darauf reagiere man bereits mit dem Pflanzen resistenter Baumarten und intensiverer Pflege. Typische Berliner Straßenbäume wie Ulme, Linde und Platane seien windanfällig und würden nur noch an geeigneten Standorten gepflanzt.
Auch der BUND-Baumexperte Christian Hönig bescheinigt den Grünflächenämtern, in Sachen Baumpflege in den vergangenen Jahren einige Defizite aufgeholt zu haben. Aus den Sturmschäden lasse sich nicht ableiten, dass die Berliner Straßenbäume generell geschwächt oder falsch gepflegt worden seien. „Das war schon ein Extremereignis.“
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