Erdbebengefahr: Warten auf den großen Knall in Istanbul
Irgendwann in den nächsten Jahren wird Istanbul von einem verheerenden Erdbeben erschüttert werden - da sind sich die Experten einig. Alle wissen, dass der Tag X näherrückt, doch die Metropole ist nur schlecht darauf vorbereitet.
Erdbeben können Spaß machen - wenn man zehn Jahre alt ist, einen Schulausflug unternimmt und der Erdstoß eigentlich nur in der Erschütterung des "Wackelzimmers" in Emre Akgüns Erdbeben-Simulator in Istanbul besteht. Die Kinder einer dritten Grundschulklasse in der türkischen Metropole, die gerade einen Schnellkurs bei Erdbebenlehrer Akgün im "Wissenschaftszentrum" des Istanbuler Stadtteils Sisili hinter sich haben, sind ganz sicher, jetzt richtig gut auf ein Beben vorbereitet zu sein. "Nein", rufen die Jungen und Mädchen fröhlich im Chor, als sie gefragt werden, ob sie Angst vor dem Beben haben.
Ein klein wenig sollten sie sich vielleicht aber doch fürchten. Irgendwann in den nächsten Jahren wird Istanbul von einem verheerenden Erdbeben erschüttert werden - da sind sich die Experten einig. Ahmet Mete Isikara, der frühere Leiter der Istanbuler Erdbebenwarte und der prominenteste Bebenforscher des Landes, schätzt die Wahrscheinlichkeit eines schweren Bebens in der Zeit zwischen den Jahren 2010 und 2014 als hoch ein. "Jeden Tag kommen wir dem Beben einen Tag näher", sagte er kürzlich.
Istanbul liegt an einer tektonischen Grenze
Verantwortlich für die Gefahr ist die so genannte Nordanatolische Verwerfung, eine tektonische Grenze, an der sich zwei Erdplatten aneinander reiben. Entlang dieser Linie, die vom Nordosten der Türkei bis zum Nordwesten - und damit bis in die Region Istanbul - reicht, haben sich in den vergangenen Jahrzehnten viele Beben ereignet. Seit 1939 im osttürkischen Erzurum fast 40.000 Menschen bei einem Erdbeben ums Leben kamen, rücken die Erdstöße immer weiter nach Westen vor. Zuletzt starben vor zehn Jahren rund 20.000 Menschen beim schweren Beben von Izmit südöstlich von Istanbul. Beim nächsten Mal könnte die Metropole selbst mit ihren zwölf Millionen Menschen an der Reihe sein.
Voraussagen kann man Erdbeben nicht, aber man kann sich darauf vorbereiten. Emre Akgün tut das mit seinem "Wackelzimmer" in Sisli, mit dem er Erdstöße bis zur Stärke fünf auf der Richterskala simulieren kann. Das Zimmer sieht aus wie eine normale Wohnstube mit Küchenzeile, einem Tisch, ein paar Stühlen und einer Lampe an der Decke. Wenn Akgün den Schalter umlegt, wird das Zimmer durchgerüttelt. Hier lernen Kinder, was sie tun sollen, wenn es soweit ist: "Auf den Boden werfen, den Kopf schützen, nicht nach draußen rennen", sagt Akgün, der selbst erst 24 Jahre alt ist und das letzte große Beben 1999 im Haus einer Tante miterlebte.
Die Kinder bereiten sich vor - doch es wird nicht viel nützen
"Alle warten darauf", sagt Akgün mit einem Lächeln und blickt auf sein "Wackelzimmer". Während einige Kinder im Zimmer üben, schaut der Rest der Klasse von einem kleinen Auditorium aus zu. Nur zwei solcher Simulatoren gibt es in Istanbul. Dennoch hat Akgün in den vergangenen zwei Jahren während seiner Arbeit beobachtet, dass die Kinder heute sehr viel besser über Erdbeben informiert sind als vorher. "Heute gibt es Erdbeben-Übungen in den Schulen", sagt er. "Die junge Generation weiß einfach mehr."
Ob das am Tag X viel nützen wird, ist fraglich. Laut Erhebungen der Istanbuler Bauingenieurs-Kammer wurden seit dem schweren Beben von 1999 bisher lediglich ein Prozent der öffentlichen Krankenhäuser in der Stadt und nur sieben bis acht Prozent der Schulen für den Erdbeben-Ernstfall nachgerüstet und verstärkt. Auch Sabri Özkan Erbakan, ein Staatssekretär im türkischen Bauministerium, gab vor kurzem Zahlen bekannt, die Schlimmes befürchten lassen: 85 Prozent der Gebäude in der Riesenstadt Istanbul wurden ohne die notwendigen Genehmigungen - und oft genug ohne vernünftige statische Berechnungen - hochgezogen.
Erdbebenforscher Isikara beklagte ebenfalls, dass viele Häuser ohne Sachverstand gebaut wurden und dass die bisherigen Erdbeben in der Türkei deshalb so viele Häuser völlig zerstörten, anders als etwa in Japan oder den USA, wo die Schäden bei ähnlich starken Beben weit geringer sind. "Das passiert eben, wenn Melonenverkäufer oder Friseure plötzlich Häuser bauen", sagte Isikara.
Emre Akgün teilt die Kritik. "Es werden viele Häuser in Istanbul einstürzen", wenn das erwartete schwere Beben kommt, sagt er. Die Kinder der Besucherklasse sind lachend und schwatzend abgezogen, es ist still geworden am Erdbeben-Simulator. Laut Studien werden bei einem schweren Beben in Istanbul bis zu 60.000 Menschen sterben.