Trauma nach dem Loveparade-Unglück: Vom Versuch, in die Welt zurückzufinden
Den toten Jungen wird sie nie vergessen, damals im Tunnel bei der Duisburger Loveparade. Sie war dabei, hat überlebt, irgendwie. Aber sie wird die Bilder nicht los. Jetzt ist Tanja Korte in einer psychosomatischen Klinik.
Wenn sie könnte, würde sie die Endgültigkeit mancher Dinge abschaffen. Nur der Schnee dürfte ruhig von Dauer sein. Tanja Korte kann sich kaum sattsehen. Vor dem Zugfenster ziehen Schiefer- und Fachwerkfassaden vorbei, als wären sie auf einem altmodischen Karussell montiert. Die Obstbäume sind im Weiß erstarrt. In der Nacht zuvor hat sie kaum geschlafen. Das Packen ist ihr schwer gefallen. Schließlich hat sie alles, was ihr in die Hände fiel, in zwei Koffer und eine Reisetasche gestopft. Dann lag sie wach, wie so oft seit dem Sommer, die Muskeln gespannt, bereit zum Sprung.
Als die Regionalbahn 48 von Wuppertal nach Köln am Bahnhof Leichlingen hält, steigt Tanja Korte aus. Die psychosomatische Klinik Wersbach duckt sich in ein Tal, weit ab von der nächsten Ortschaft. Im Eingangsbereich glänzen die Linoleumböden. Man führt sie durch viele Glastüren, zeigt ihr das Fitnesszentrum und die Räume für die Gruppentherapien. Im Speisesaal bleibt ihr heller, kajalumrandeter Blick an den Kohlmeisen haften, die vor dem Fenster ein Futtersäckchen umschwirren. Vorsichtig atmet sie durch, lässt die Schultern sinken. Später am Tag schickt sie ein Fax an die Personalabteilung der Discounterkette, für die sie arbeitet: Krankgeschrieben „bis auf Weiteres“. Diagnose: Posttraumatische Belastungsstörung. „Ein Trauma verletzt die Grundannahmen über die Welt und die eigene Person“, heißt es im Psychologielehrbuch.
Hunderttausende Menschen machten sich am 24. Juli 2010 auf den Weg durch den Karl-Lehr-Tunnel unter dem Duisburger Güterbahnhof, um zum Gelände der Loveparade zu kommen. Sie dachten, sie seien dort sicher. Doch diese Annahme erwies sich als falsch. Am Nachmittag entstand in der Menschenmasse eine Panik. 21 junge Menschen wurden zerquetscht. Hunderte konnten den nahen Tod in der unerträglichen Enge spüren. Sie überlebten. Doch das Geschehene begleitet sie.
Tanja Korte aus Duisburg, 45 Jahre alt, alleinstehend, fühlte sich gut am Morgen des 24. Juli, denn seit kurzem hatte sie wieder Arbeit. Trotz einer Aufmerksamkeitsstörung hat sie ihr Abitur geschafft. Sie hat medizinisch-technische Assistentin gelernt und als Pharmareferentin gearbeitet, dann aber ihren Job verloren. Seit ein paar Jahren lebt sie von Hartz IV. Jetzt hat sie einen 400-Euro-Job in einem Discounter gefunden. Als Packhilfe räumt sie ein paar Mal die Woche Wasserpistolen, Wäscheschüsseln und Schokowaffeln in Regale. Kein Traumjob, aber vielleicht ein Schritt auf dem Weg aus der Dauerarbeitslosigkeit. Außerdem scheint die Sonne. Es drängt sie heraus aus Zwei-Zimmer-Küche-Diele-Bad, raus aus der Straße in Duisburg-Rheinhausen, in der sich niedrige, graue Mehrfamilienhäuser aneinanderreihen. Eigentlich mag Tanja lieber Rock. Aber so eine Party wie die Loveparade hat Duisburg noch nicht gesehen.
Die Beats wummern aus weiter Ferne. Der Sound bahnt sich den Weg durch das Kreischen der Trillerpfeifen und platzt im Bauch. Es ist etwa 16 Uhr 30, und Tanja Korte wartet im Tunnel darauf, dass es weitergeht. Um sie herum feiern Raver mit bunten Perücken, Mädchen mit Engelsflügeln, Männer mit Tätowierungen, Eltern mit Kindern im Teenageralter, Duisburger, Spanier, Holländer, Chinesen. Ein Meer von Menschen in einem engen Rohr aus Beton. Alkoholdunst liegt in der Luft. Weiter vorn kann Tanja Korte den Ausgang des Tunnels sehen und links die Rampe, die auf das Festivalgelände führt. Doch dort, wo der Strom der Menschen abbiegt, geht es nicht weiter. Dennoch kommen von hinten immer mehr Leute nach.
Tanja Korte spürt, wie die Körper immer stärker gegen ihren pressen. Die Menschen verschmelzen zu einer Masse, die nach vorn, nach hinten, zu den Seiten wabert. Ihre Füße verlieren den Bodenkontakt. Sie reckt den Kopf nach oben wie eine Ertrinkende. Die Trillerpfeifen verstummen. Dann fangen die Ersten an zu schreien. Das Schreien übertönt die Beats. Wer die Arme hochbekommt, schlägt um sich. Etwas trifft Tanja am Kopf.
Im Speisesaal der Klinik sitzt Tanja Korte am liebsten am Fenster. Die Tage vergehen streng nach Plan. Frühstück, Angstgruppe, Mittagessen, Ressourcengruppe, Einzeltherapie, Sporteinheit, Abendessen. Heute Morgen sollte Tanja ein Bild malen. Minutenlang stand sie vor den Tuben mit Acrylfarben, ohne sich zu entscheiden. Ist die Farbe erst einmal auf der Leinwand, kann man das nicht mehr rückgängig machen.
Im Tunnel hat Tanja Korte wieder Boden unter den Füßen. Das Dröhnen der Beats dringt aus einem anderen Universum herunter und mischt sich mit dem Heulen von Sirenen. Tanjas Blick stolpert über Ampullen und Medikamentenschachteln, die in der geöffneten Tasche eines Rettungssanitäters stecken, über zerdrückte Plastikflaschen und herrenlose Schuhe. Orangefarbene Westen eilen vorbei, der Geruch von Urin beißt in der Nase. Und da, irgendwo zwischen all den ziellosen Beinen, liegt der Junge. Ein Polizist kniet neben ihm, er hat ihm ein Mundstück für die Beatmung über Mund und Nase gelegt und bläst hinein. Ein zweiter Polizist drückt mit verschränkten Händen in Höhe des Brustkorbs auf sein Herz. Tanja hört sich schreien: „Fester, weiter links.“ Doch die Polizisten geben die Reanimation gerade auf. Sie rollen eine Thermofolie über dem Körper des Jungen aus. Das knisternde Gold reicht ihm schon bis zu den Schultern, als der Junge schluckt. Tanja sieht, wie sein Kehlkopf sich hebt und wieder senkt. Dann bedecken die Polizisten sein Gesicht.
Neben Tanjas Bett in der Klinik liegt ein Bogen Papier. Seit ein paar Tagen führt sie Buch über die „Intrusionen“. So nennen es die Psychologen, wenn die Erinnerung sie anfällt, sich wie ein wildes Tier in ihren Gedanken verbeißt und jede andere Realität verdrängt. Manchmal kommt die Erinnerung tagsüber, manchmal im Traum. Der Moment ist immer der gleiche: Tanja hört sich selbst schreien. Sie schreit die Polizisten an, sie schreit die Umstehenden an. Doch die Polizisten rühren sich nicht. Tanja zieht die goldene Folie zurück. Zu dritt knien sie nun neben dem Jungen. Tanja hält seinen Kopf, ein Mann beginnt, wieder auf den schmächtigen Brustkorb zu drücken, ein anderer presst seinen Mund auf den des Jungen. Tanja hört die beiden keuchen. Sie sagt zu dem Jungen, er soll aufwachen. Irgendwann sieht sie aus dem Augenwinkel die Reflektorstreifen auf der Hose des Notarztes. Vorsichtig legt Tanja den Kopf des Jungen auf den Boden und steht auf. Erst jetzt bemerkt sie, dass seine Augen halb geöffnet sind. Aber er schaut sie nicht an. Er schaut niemanden an.
Ein Notarzt hängt Tanja im Tunnel eine graue Plastikhülle an einem Band um den Hals. Er schreibt ihren Namen darauf und macht einen Kringel um eine römische Drei. So kategorisieren Katastrophenhelfer und Feldärzte die Opfer. Drei steht für „leicht verletzt“. Ein Bus bringt sie zur Aula einer Schule. Dort rollt sie sich einige Zeit auf einem Feldbett zusammen. Später bringt ein anderer Bus sie ins Krankenhaus. Wieder kommt ein Arzt. Er stellt ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma fest und sagt: „48 Stunden Beobachtung.“ Ihr Zeitgefühl hat sie da längst verloren.
Schon am nächsten Morgen wird Tanja Korte entlassen und nimmt den Bus zurück nach Rheinhausen. Zu Hause fährt sie ihren Computer hoch, ruft Youtube auf und gibt „Loveparade“ in das Suchfeld ein. Tausende Menschen. Tausende Handys. Millionen verwackelter Bilder. Klick. Die Menschenmasse wabert. Klick. Ein Mann versucht, sich an einer Mauer hochzuziehen. Klick. Raver heben einen schlaffen Mädchenkörper auf. Tanja kann nicht mehr aufhören. Einmal sieht sie sich selbst auf einem Bordstein im Tunnel sitzen. Sie erkennt das Haarband, und doch ist sie sich sicher, dass es sich um einen Irrtum handeln muss, dass sie selbst das alles nie erlebt hat.
Etwa drei bis zehn Prozent der Opfer und neun bis 17 Prozent der Helfer bei Katastrophen entwickeln in den folgenden Monaten eine posttraumatische Belastungsstörung. Allein von den 70 Betroffenen, die sich im Verein „Massenpanik Selbsthilfe“ in Duisburg zusammengeschlossenen haben, waren Ende 2010 acht Personen in stationärer Behandlung.
Tanja muss sich vergewissern, und sie will sich entschuldigen. Jemand hat ihr gesagt, dass das Schlucken des Jungen wahrscheinlich nur ein Muskelreflex war, wie er bei klinisch Toten noch vorkommt, dass man dem Jungen wahrscheinlich nicht mehr helfen konnte, als die Polizisten die Reanimation aufgaben. Nun fühlt es sich an, als hätte sie ihn unnötig bloßgestellt, als hätte sie seine Ruhe gestört. Eine Woche nach dem Unglück kehrt sie in den Tunnel zurück.
Überall flackern Kerzen. Vor dem Gitterzaun, der nun die Rampe absperrt, verdichten sie sich zu einem Meer aus Lichtern. „Ich habe versucht dir zu helfen“, schreibt Tanja Korte in das Kondolenzbuch, „aber du warst schon zu weit weg.“ Dann zündet sie ihre Kerze an. Sie bleibt noch eine Weile stehen und betrachtet die Flammen, bis sie nicht mehr weiß, welche ihre ist. Dann macht sie kehrt.
An einem Abend im September fährt Tanja Korte in die Innenstadt zu einem Treffen mit anderen Opfern. Ein paar Dutzend sind gekommen, sie sitzen um Tische mit dicken Holzplatten. Ein Anwalt ist da und erklärt, dass man außergerichtlich Schmerzensgeld und Entschädigungszahlungen verhandeln könne. Nicht alles, was er sagt, kann Tanja Korte im hinteren Teil des Raumes verstehen. Sie hat kaum geschlafen, sie hat ihre Brille vergessen, sie hat Tabletten genommen. Neben ihr sitzt ein Mann aus Bremen. Seine Worte dringen wie ein stetes Rauschen zu ihr vor. Er sagt, dass er seinen Sohn verloren hat. Er weint.
Einmal knallt es plötzlich. Sie steht im Discounter an der Kasse und scannt bunte Plastikartikel ein. Ruckartig dreht sie sich Richtung Schaufenster. Die kleine Kreuzung vor dem Laden ist leer. Gegenüber, beim Friseur, ist niemand zu sehen. Der Kunde mustert sie argwöhnisch. „Bin nur mit meiner Tasche hier gegen gestoßen“, sagt er und deutet auf die Metallverkleidung der Kassenstation. „Kein Grund zur Panik.“
Wenig später nimmt ihr Teamleiter sie zur Seite. „So geht das nicht weiter mit dir“, sagt er, „du stehst ständig neben dir.“ Tanja hat Schwierigkeiten, sich Aufgaben zu merken. Sie heftet Lieferscheine falsch ab. Sie trägt eine Kiste mit Waren irgendwo hin und vergisst sie dann.
Ihr Vertrag ist befristet, und hier sind schon Leute für weniger gefeuert worden. Erst kürzlich musste eine Kollegin gehen, die während der Arbeit eine SMS geschrieben hatte. Tanja will den Job behalten. Sie reißt sich zusammen.
Sie fährt zum 70. Geburtstag ihrer Mutter. Die drückt ihr eine Plastiktüte in die Hand, in der sie Zeitungsausschnitte gesammelt hat. „Verantwortliche schieben sich die Schuld zu“, titelt eine Regionalzeitung. „Protokoll belegt Planungspanne“ und „OB Sauerland bleibt im Amt“.
In Duisburg bläst ein kräftiger Herbstwind. In der Fußgängerzone huschen die Leute mit hochgezogenen Schultern von Geschäft zu Geschäft. Tanja Korte fährt nicht mehr gern in die Innenstadt. Es macht sie nervös, wenn Menschen dicht hinter ihr an der Ampel warten. Doch einmal ruft die Polizei an und bittet sie, vorbeizukommen und auszusagen. In einem Erdgeschossraum im Revier an der Düsseldorfer Straße sitzt sie einem Beamten gegenüber. Er legt ihr Bilder vor, sie soll den Jungen wiedererkennen. Tanja Korte starrt auf das geöffnete Fenster hinter dem Beamten. Sie stellt sich vor, wie sie Anlauf nimmt und hinausspringt. „Geht es Ihnen nicht gut?“, fragt der Beamte. „Wenn Sie möchten, können wir einen anderen Termin ausmachen.“ Sie nickt.
In dem Moment völliger Ohnmacht, in der das Trauma entsteht, unterdrückt ein Notfallmechanismus des Gehirns alle Sinne und Funktionen, die zum Überleben unwichtig erscheinen. Die Amygdalae, zwei mandelförmige Hirnregionen, die für Gefahrensituationen und für Angst zuständig sind, schütten Stresshormone aus. Sprachzentrum, Gefühle und Kreativität werden ausgesetzt, Eindrücke nur noch selektiv gespeichert. Eine Ursache für die späteren Symptome liegt darin, dass die Amygdalae auch dann nicht zur Ruhe kommen, wenn die Gefahr gebannt ist. Bestimmte Lebensumstände begünstigen das Auftreten posttraumatische Störungen, und einige davon treffen auf Tanja Korte zu. Sie hat wenige Freunde, keinen festen Partner, und das Verhältnis zu ihrer Familie ist schwierig.
Als Tanja nicht mehr Bus fahren kann, weil sie beim Anblick automatischer Türen Angst bekommt, sich mit den Haaren darin zu verfangen, gibt sie auf. Ihr Hausarzt schreibt sie krank. Sie weiß, dass sie eine Traumatherapie machen sollte. Doch sie spricht bereits mit einem Therapeuten über ihre Familie und andere Probleme, und zwei Therapien zahlt die Kasse nicht. Ihr Hausarzt gibt ihr ein Rezept für ein Antidepressivum, das auch beim Schlafen helfen soll.
Abends liegt sie im Bett, wird ruhiger, sinkt tiefer, doch im letzten Augenblick reißt irgendetwas sie zurück an die Oberfläche des Bewusstseins. Erst in den frühen Morgenstunden schläft sie ein und dann oft bis zum Mittag. Die Tageszeiten verschwimmen. Manchmal fällt ihr auf, dass sie hungrig ist. Dann wärmt sie sich eine Tiefkühlpizza auf. Tanja hört auf, Romane zu lesen, Filme zu schauen und Hunde zu streicheln. Jedes Gefühl könnte ihren Panzer sprengen.
Einmal ruft der Bezirksleiter der Discounterkette an und bittet sie vorbeizukommen. Tanja sagt, dass sie krank geschrieben ist. „Wie lange noch?“, will der Bezirksleiter wissen. Das könne sie noch nicht sagen, antwortet Tanja. „Sie wissen ja, dass ich jemanden brauche und dass Ihr Vertrag befristet ist“, sagt er.
Nach zwei Wochen im Schnee hat Tanja in einen Tagesrhythmus zurückgefunden. Morgens und nachmittags geht sie zur Therapie. Abends schaut sie Fernsehen oder sitzt auf dem Bett in Zimmer 124 und liest. Eines der Bücher heißt „Wünsch es dir einfach“. Darin steht: „In unserer Welt kann sich nur das verwirklichen, woran wir glauben.“ Tanja übt sich in positiven Grundannahmen über die Welt. Manchmal träumt sie von einem Wohnmobil. Sie möchte mal weg aus Duisburg.
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