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Sanfter Trend. In den Straßen vieler Städte kommt es immer wieder zu kleinen theatralischen Auftritten von Tieraktivisten.
©  Reuters

Erfahrungsbericht: Vegetarierin wie von selbst

Ein Dioxin-Skandal war gar nicht nötig – wie eine 24-jährige Frau von heute auf morgen aufhörte, Fleisch zu essen.

Am einfachsten macht es mir immer wieder die Gans. Dampfend, frisch aus dem Ofen, ihre braune Kruste glänzt. Der Gans sehe ich an, was sie ist: ein Tier, mit allem Drum und Dran. Keine einzelnen Salamischeiben, kein durch den Wolf gedrehter Haufen von Hackfleisch. Wenn ich vor einem Gänsebraten sitze, dann weiß ich wieder, warum ich Vegetarierin bin. Obwohl mir das manchmal gar nicht so leicht fällt.

Zwei Jahre ist es her, dass ich den Bestseller von Richard David Precht las: „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ Ich hatte die Weihnachtstage bei meinen Eltern verbracht, nun saß ich im Zug nach Hause. Precht fragt, sinngemäß: Mit welchem Recht darf ein Mensch ein anderes Lebewesen töten, das Schmerz empfinden kann, Angst und Qual? Weil er, der Mensch, intelligenter ist? Ich klappte das Buch zu, blickte ein Weilchen auf die norddeutsche Tiefebene, die vor dem Zugfenster vorbeirauschte, und dachte nach. Ich dachte an den Braten, den ich ein paar Tage vorher genossen hatte. Reh, mit Preiselbeeren und Bratensoße, zart und würzig. Prechts Frage war überhaupt nicht neu. Doch ich hatte keine gute Antwort. Seit ich aus dem Zug gestiegen bin, habe ich kein Fleisch mehr gegessen.

Damit liege ich im Trend. Streng genommen bin ich ein Klischee auf zwei Beinen: jung, weiblich, Großstädterin, mit Uniabschluss. Genau so sieht die Nachwuchsvegetarierin von heute aus. Fühlt es sich blöd an, mit so einer Lebensstil-Entscheidung zur – vermeintlichen oder tatsächlichen – Trendsetterin zu mutieren? Ab und zu schon. Sollte mich das umstimmen? Nein.

Manchmal aber überkommt mich Wollust: wenn mich auf dem Jahrmarkt der Bratwurstduft lockt oder wenn ein Kellner einen großen Teller Spaghetti Bolognese an mir vorbeiträgt. Bisher aber hat immer der Kopf über den Bauch gesiegt. Am Bratwurststand verfolge ich die Verwertungskette in Gedanken zurück: von der Bratwurst zur Schweinehälfte, die im Schlachthof hängt und ausblutet. Von der Schweinehälfte zurück zum gestressten, panischen Schwein, das zur Schlachtung getrieben wird. Spätestens an diesem Punkt ist mir der Appetit auf Bratwurst noch jedes Mal vergangen.

Trotzdem habe ich mich gefragt: Verhängt mein Kopf meinem Körper unsinnige Verbote? Enthalte ich meinem Körper vor, was er braucht? Nach meinem ersten Jahr als Vegetarierin habe ich von einer Ärztin meine Blutwerte bestimmen lassen. Mit meinem Eisen ist alles in Ordnung. Alle meine Blutwerte liegen mitten im Normalbereich. Vielleicht noch wichtiger: Ich fühle mich genauso wie früher – weder gesünder noch weniger gesund, weder leistungsfähiger noch schlapper. Mir geht’s bestens.

Vielleicht liegt das auch am Tofu, den ich auf den Speiseplan gesetzt habe. Wird er lieblos in die Pfanne geworfen, lässt mich sein Geschmack an Schwimmflossen oder Pappe denken. Richtig zubereitet aber, über Nacht eingelegt in Sojasoße und Gewürze, ist er köstlich. Ein Rinderfilet wird sich zwar nie aus Tofu zaubern lassen. Aber mein Körper hat offensichtlich das, was er braucht. Also bleibt es bei der Gewissensfrage, und auf die habe ich noch keine neue Antwort gefunden.

Dabei muss ich zugeben: Auch als Vegetarierin beteilige ich mich daran, dass die Menschheit Tiere benutzt — denn ich bin nicht zur Veganerin geworden. Ich trinke Milch, esse Käse, auch Eier. Die Eier sind, wenn ich meinen eigenen Maßstäben folge, ein Problem. Denn für jedes weibliche Küken, das heranwachsen soll, um Eier zu legen, stirbt ein männliches Küken. Ich könnte das mit Mathematik kleinreden: Pro Ei ist viel weniger totes Tier im Spiel als zum Beispiel pro Schnitzel. Aber das ändert nichts am Argument: Tot ist tot, ob Küken oder Ferkel.

Warum ich dann trotzdem noch Eier esse? Weil es beim Essen immer auch darum geht, wie Menschen zusammen leben – und ich mich nicht isolieren möchte. Dabei ist es im Restaurant kein Problem. Irgendetwas Vegetarisches gibt es mittlerweile fast überall zu essen, selbst in einem bayerischen Landhof konnte ich mich an Brezn und Obatzda, der bayerischen Käsecreme, sattessen.

Ganz plötzlich Vegetarierin. Karin Christmann, heute 26 Jahre alt.
Ganz plötzlich Vegetarierin. Karin Christmann, heute 26 Jahre alt.
© Kai-Uwe Heinrich

Als Vegetarierin habe ich eine Negativliste im Kopf. Dinge, die ich nicht esse. Als strenge Veganerin könnte ich außerhalb meiner eigenen vier Wände kaum noch etwas essen. Milchprodukte oder Eier stecken fast überall drin, und Rohkost mochte ich noch nie. Ich müsste auf eine gedankliche Positivliste umstellen. Auf ihr würden die Dinge stehen, die ich überhaupt noch essen will.

Kein Omelette mehr zu Hause, aber mitessen beim Geburtstagskuchen in der Redaktion – das ist mein persönlicher Kompromiss zwischen reiner Lehre und schnödem Alltag. Ich finde mich selbst dabei manchmal inkonsequent. Aber damit kann ich leben.

Andere lachen manchmal verlegen, wenn sie erfahren, dass ich mich vegetarisch ernähre. Ich armer Mensch verzichte freiwillig auf Schweinebraten, lasse mir das köstliche Aroma eines auf kleiner Flamme geköchelten Gulaschs entgehen. Oft höre ich, ganz schlicht: „Na ja, mir schmeckt’s eben.“

Auf Platz zwei der häufigen Kommentare: „Ich esse ja auch nur gaaanz wenig Fleisch.“ Dabei möchte ich gar nicht, dass sich irgendjemand mir gegenüber rechtfertigt. Trotz aller Gedanken, die mir selbst im Kopf herumgehen, wenn ich durch das Schaufenster einer Metzgerei blicke: Essen ist und bleibt eine ganz persönliche Entscheidung. Wer mich fragt, warum ich kein Fleisch esse, bekommt eine Antwort. Falls sich jemals ein Mitmensch von mir vom Dasein als Vegetarier überzeugen lassen sollte: bitte sehr, gerne geschehen. Aber ungefragt rede ich niemandem in seinen Speiseplan hinein.

Die Autorin ist Journalistenschülerin und arbeitet als Praktikantin in der Redaktion des Tagesspiegels.

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