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In Krankenhäusern in der Lombardei – hier in Cremona – herrscht Coronavirus-Alarm.
© Claudio Furlan/LaPresse/AP/dpa

Aus dem Coronavirus-Krisengebiet: „Tsunami, der uns überwältigt hat“ – der verzweifelte Bericht eines italienischen Arztes

Daniele Macchini arbeitet in einem Krankenhaus im norditalienischen Bergamo. Er richtet eine Warnung an seine Landsleute: Unterschätzt das Virus nicht.

Am Freitag hatte Daniele Macchini genug. Der Assistenzarzt in der Coronavirus-Risikoregion Lombardei, in der auch die Großstadt Mailand liegt, wollte nicht mehr schweigen. 

Zu sehr unterschied sich seine Realität im Krankenhaus „Humanitas Gavazzeni“ in Bergamo von der vieler Menschen „draußen“, fand er. Er meint die, die sich in sozialen Medien über Einschränkungen ihres Alltagslebens beschweren oder die Hinweise, das Haus nur im Notfall zu verlassen, gleich ganz ignorieren.

Macchini, eigentlich Allgemeinchirurg, schrieb also einen ausführlichen Eintrag auf seiner Facebook-Seite darüber, wie er die Pandemie im Krankenhaus erlebt. Bis Dienstagmittag wurde der Post fast 30.000 Mal geteilt. 

„Der Krieg ist buchstäblich explodiert und die Schlachten finden ununterbrochen statt, Tag und Nacht“, schreibt Macchini. Der Krieg, den er meint, ist der Kampf gegen die vom Coronavirus ausgelöste Erkrankung Covid-19.

„Vor einer Woche stand unser aktueller Feind noch im Schatten“

Das Coronavirus hat in Europa bislang Italien am schlimmsten getroffen, inzwischen ist die Bewegungsfreiheit im ganzen Land eingeschränkt, sind nicht mehr nur die besonders betroffenen Regionen im Norden des Landes gesperrt.

Vor einer Woche habe er noch mit Staunen auf die Reorganisation des gesamten Krankenhauses geschaut, schreibt Macchini. Damals stand „unser aktueller Feind noch im Schatten“.

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Die Stationen wurden langsam buchstäblich „geleert“, nicht akute Maßnahmen unterbrochen, die Intensivstation freigegeben, um möglichst viele Betten zu schaffen. Vor der Notaufnahme wurden Container für infizierte Ankommende aufgestellt, um eine mögliche Ansteckung zu vermeiden. In den Korridoren der Klinik habe „eine Atmosphäre surrealer Stille und Leere“ geherrscht. 

Die Ärzte hätten auf einen Krieg gewartet, „der noch nicht begonnen hatte und von dem viele (einschließlich mir) nicht so sicher waren, ob er jemals so wild kommen würde.“

Er erinnere sich an den Nachtdienst, in dem er nichts tat, außer auf das Testergebnis des ersten Coronavirus-Verdachtsfalls zu warten. „Wenn ich darüber nachdenke, scheint meine Aufregung um einen möglichen Fall fast lächerlich und ungerechtfertigt, jetzt, wo ich gesehen habe, was passiert“, schreibt er rückblickend.

„Hören wir auf zu sagen, dass es eine schlimme Grippe ist“

Und dann sei er eben explodiert, der Krieg. „Einer nach dem anderen kommen die unglücklichen Armen in die Notaufnahme. Sie haben alles andere als die Komplikationen einer Grippe. Hören wir auf zu sagen, dass es eine schlimme Grippe ist“, schreibt Macchini. 

„In den zwei Jahren hier habe ich erfahren, dass die Menschen in Bergamo nicht wegen nichts in die Notaufnahme kommen. Auch diesmal haben sie es gut gemacht. Sie sind allen gegebenen Hinweisen gefolgt: eine Woche oder zehn Tage zu Hause mit Fieber, ohne rauszugehen und eine Ansteckung von anderen zu riskieren. Aber jetzt können sie es nicht mehr ertragen. Sie atmen nicht genug, sie brauchen Sauerstoff.“

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Schon bald füllten sich die geleerten Abteilungen „mit beeindruckender Geschwindigkeit“, schreibt Macchini. 

„Die Anzeigetafeln mit den Namen der Kranken, die je nach Abteilung unterschiedliche Farben haben, sind jetzt alle rot, und anstelle des chirurgischen Eingriffs gibt es nur die eine verfluchte Diagnose, es ist immer dieselbe: beidseitige interstitielle Lungenentzündung.“

„Alle Ärzte sind plötzlich Teil eines einzigen Teams“

Es beruhige ihn keineswegs, dass der schwere Verlauf hauptsächlich ältere Menschen mit anderen Vorerkrankungen treffe. Die ältere Bevölkerungsgruppe sei in Italien die größte, außerdem treffe es nicht nur sie: „Ich versichere Ihnen, wenn Sie junge Menschen sehen, die auf der Intensivstation landen, intubiert, […] oder schlimmer, am ECMO angeschlossen (einer Maschine für die schlimmsten Fälle, die das Blut extrahiert, es wieder mit Sauerstoff versorgt und es dem Körper zurückgibt und auf den Organismus wartet, bis dass er hoffentlich die Lungen heilt) – wenn Sie das sehen, ist Ihre Ruhe angesichts Ihres eigenen, jungen Alters vorbei.“

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Macchini geht es in seinem Post vor allem darum, den Menschen die Existenz der „epidemiologischen Katastrophe“ klarzumachen; den Menschen, die in sozialen Netzwerken immer noch ihren Stolz zeigten und vorgäben, keine Angst zu haben, und die dagegen protestierten, dass sie in ihren Lebensgewohnheiten eingeschränkt würden.

Er beschreibt die Situation im Krankenhaus in Bergamo wie folgt: „Es gibt keine Chirurgen, Urologen, Orthopäden mehr, wir sind nur Ärzte, die plötzlich Teil eines einzigen Teams werden, um diesem Tsunami zu begegnen, der uns überwältigt hat. Die Fälle nehmen zu, wir haben 15 bis 20 Krankenhauseinweisungen pro Tag, alle aus dem gleichen Grund. Die Ergebnisse der Tests kommen einer nach dem anderen: positiv, positiv, positiv.“

Unter dem Ansturm bricht die Notaufnahme zusammen, schreibt Macchini. Das Krankenhaus organisiert erneut um. „Es werden Notfallbestimmungen erlassen: In der Notaufnahme wird Hilfe benötigt. Ein kurzes Treffen, um zu erfahren, wie die Erste-Hilfe-Management-Software funktioniert, und einige Minuten später befinden Sie sich bereits unten, neben den Kriegern an der Front. Der Bildschirm des PC mit den Gründen für den Zugang zeigt immer das gleiche: Fieber und Atembeschwerden, Fieber und Husten, Ateminsuffizienz usw.“

„Krankenschwestern mit Tränen in den Augen“

Macchini schreibt von der Erschöpfung bei den Ärzten im Ausnahmezustand: „Es gibt keine Schichten mehr, Zeitpläne. Das soziale Leben ist für uns ausgesetzt.“ 

Er erzählt aber auch von Solidarität des Personals miteinander. Davon, dass niemand es versäume, zu den internistischen Kollegen zu gehen und zu fragen, was man für sie tun könne. Er beschreibt Ärzte, die Patienten von A nach B bringen und Medikamente verabreichen, was ansonsten die Arbeit von Pflegern wäre. Und „Krankenschwestern mit Tränen in den Augen, weil wir nicht alle retten können“.

Seine Schilderung kulminiert in einem Aufruf an die Menschen draußen, die sich eingeschränkt fühlen: „Haben Sie also auch Geduld, wenn Sie nicht ins Theater, in Museen oder ins Fitnessstudio gehen können. Versuchen Sie, sich dieser Vielzahl älterer Menschen zu erbarmen, die Sie töten könnten“, schreibt er drastisch, als Erinnerung daran, dass das Virus für jüngere Menschen meist harmlos verläuft, nach der Ansteckung für Risikogruppen aber tödlich sein kann.

Der Assistenzarzt aus Bergamo ruft die Menschen in Italien auch dazu auf, nicht zu versuchen, Profi-Atemschutzmasken zu kaufen. „Diese sollten uns Ärzten dienen, und wir haben langsam Schwierigkeiten, welche aufzutreiben.“

Einige seiner Kollegen seien trotz aller Vorsichtsmaßnahmen bereits infiziert. Familienmitglieder ebenfalls. Manche von denen kämpften bereits um ihr Leben. „Sagen Sie Ihren Verwandten, die älter sind oder an anderen Krankheiten leiden, dass sie drinnen bleiben sollen. Kaufen Sie bitte für sie ein“, schreibt Macchini.

Er schließt mit dem Appell an die Menschen draußen: seine Nachricht zu teilen, um zu vermeiden, dass das, was in Bergamo passiert, in ganz Italien folgt.

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