Panorama: Treue – ein dehnbarer Begriff
Bei einem Disput über den häufigsten Trennungsgrund der Deutschen siegte am Ende die Untreue.
Am Ende hat dann doch die Untreue gesiegt. Der Wunsch nach der Treue, vor allem der der anderen, ist zwar groß, aber das Fleisch ist schwach.
Um die „Wahrheit in der Liebe“ rangen in einem spannenden Disput am Donnerstagabend im Berliner Meistersaal zwei Teams aus Experten. Der These „Treue ist vergebliche Liebesmüh“ stimmten am Ende 49,1 Prozent der Zuhörer zu. Am Anfang waren es nur 29,2 Prozent gewesen, da hatten sich noch 61,1 Prozent der Zuhörer zur Treue bekannt. Wer also hat den Sieg errungen? Vielleicht war es der Anthropologe Eckart Voland, der argumentierte, dass Leidenschaft und Sex nicht rational regulierbar sind und deshalb sexuelle Moral immer eine Doppelmoral sein muss: „Wir sind nicht Herr im eigenen Haus.“ Man könne schließlich auch nicht beschließen, sich zu verlieben. Nur 16 Prozent der weltweit wissenschaftlich beschriebenen Gesellschaften hätten sich für eine monogame Lebensweise entschieden, legte er nach. Der Wissenschaftler bekannte sich zu der philosophischen These, dass das Wollen ans Können gekoppelt sein müsse und forderte: „Bleiben Sie skeptisch gegenüber den Moralaposteln.“ Auch Umfragen traut er in dieser Hinsicht nicht so ganz. Selbstauskünfte gelten Wissenschaftlern grundsätzlich als unzuverlässig. Teilnehmende Beobachtung freilich bietet sich bei diesem speziellen Thema auch nicht an.
Paarberater Michael Mary hatte gleich einen ganzen Katalog von Argumenten für die Untreue inklusive Fallbeispielen im Gepäck. Danach hilft der Seitensprung der Selbsterkenntnis und dem Selbstbewusstsein, heilt von Depressionen, rettet nebenbei noch erstarrte Beziehungen und „befreit von der Wahnvorstellung, untrennbar an einen Partner gekettet zu sein“. Für die Kabarettistin Désirée Nick ist Treue „eine bourgeoise Fantasie des Biedermeier“. Aus ihrer Sicht treibt Treue die Menschen in die Zweitfamilie, und die gesetzlich vorgeschriebenen ehelichen Pflichten „strotzen vor Zynismus“. Treue habe sich manifestiert in einer Zeit, da „die Menschen mit 35 Jahren starben und die abgewirtschafteten Omis in einem Alter waren, in dem Frauen heute erst anfangen, Kinder zu bekommen“. Zu einem realistischen Ansatz riet der grüne Politiker Volker Beck und warb für die Unterscheidung zwischen sozialer und sexueller Treue. Es komme doch vor allem darauf an, sich in schwierigen Lebenslagen wirklich auf den Partner verlassen zu können. Die Gestaltung des Sexuallebens werde nur zum Problem, wenn man sich darüber nicht einigen könne. Für ihn ist das Postulat sexueller Treue eine unnötige Überforderung, die vor allem dazu führt, dass sie den Partnern die Beziehung vermiest: „Leben Sie so, dass es Ihnen gut geht.“
Ob Sex nicht sowieso überbewertet sei, wollte eine twitternde Zuhörerin wissen. Das Bestseller-Ehepaar Eva-Maria und Wolfram Zurhorst, beide entschiedene Anwälte für die Treue, stimmte dem zu: „Sexualität wird von den meisten Menschen zu hoch angesehen und bewertet.“ In dieser Ehe waren beide Partner einander untreu und bekennen sich dazu. Die Erfüllung kam erst später, nach der Trennung und anschließenden versöhnenden Aussprache.
„Nach unserer Erfahrung ist Fremdgehen nur für Anfänger. Treue ist für neugierige Abenteurer.“ Sie störe es, dass Fremdgehen in kleinen, heimlichen Ecken stattfinde. „Treue Paare geben sich Raum, ihre eigenen Verletzungen zuzulassen und nicht voreinander wegzulaufen“, sagte Eva-Maria Zurhorst. Wer treu sei, entdecke ein riesiges Potenzial für Weiterentwicklung, die für mehr Nähe und Tiefe sorge. „Sexualität findet im Körper statt, aber sie geht vom Herzen aus.“ In ihrer Beratungstätigkeit habe sie noch nie einen Menschen getroffen, den Fremdgehen wirklich erfüllt, betonte die Ratgeber-Autorin.
Für den CSU-Politiker Norbert Geis zählt vor allem das Vertrauen, zu dem die Treue führt: „Ohne fliegt die Gesellschaft auseinander.“ Der Soziologe Hans Bertram schließlich sieht in der Treue eine willentliche Entscheidung für die Hingabe an eine Person. Die Hingabe an einen anderen Menschen als Voraussetzung, dass man sich auch im höheren Alter liebevoll unterstützen kann, funktioniert für ihn nicht ohne Treue. Neue Umfragen, nach denen 88 Prozent der Frauen und 62 Prozent der Männer Treue wichtig finden, drücken für ihn eine Sehnsucht aus, die „aus der Mitte der menschlichen Persönlichkeit kommt“. Treue habe eben auch etwas zu tun mit der Verantwortung für einen anderen Menschen.
Die Anwälte der Untreue waren, wie das Ergebnis deutlich zeigte, rhetorisch zwar stärker als die Treuen, aber wirkten wegen ihrer Härte und überzogenen persönlichen Anspielungen auf manche Zuhörer eher unsympathisch. Moderator Jörg Thadeusz unterband allerdings alle Versuche, das Thema anhand prominenter Zeitgenossen zu disputieren.
Beim anschließenden Sektempfang gab es noch reichlich Gelegenheit zum Erfahrungsaustausch. So eindeutig war der Sieg dann vielleicht doch nicht, wie es die Zahlen aussehen ließen. Ein inzwischen glücklich verheirateter Zuhörer bekannte, in seiner ersten Ehe ständig untreu gewesen zu sein. Daher wisse er: „Das Schönste am Seitensprung ist der lange Anlauf.“
Elisabeth Binder
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