Giftabfälle im Meer: Treibgut des Schreckens
Das Meer glänzte, er dümpelte in der Flaute dahin. Plötzlich sah er etwas, und es war ein Albtraum: ein riesenhafter Strudel aus Plastikmüll. Seitdem kämpft Charles Moore gegen die Giftabfälle unserer Zivilisation in den Ozeanen. Manchmal scheint ihm dieser Kampf vergeblich: Noch immer verenden eine Million Tiere pro Jahr.
Dumpf knallt das Wasser gegen die Aluminiumrümpfe des Katamaran „Alguita“, zehn Knoten macht der, es fühle sich jedes Mal an, als fahre man mit dem Auto über einen Baumstumpf, sagt Captain Charles Moore, 62. In seinem Logbuch notiert er: „Aber hey, diese Geschwindigkeit ist das wert.“ Zehn Knoten, das sind gut 18 Stundenkilometer.
Zum neunten Mal macht sich Moore mit fünf Mann Besatzung – Meereswissenschaftler, Biologen, Chemiker, Studenten – auf den Weg in die gigantische Plastiksuppe, die bei Honolulu rund 1000 Seemeilen vor der kalifornischen Küste vor sich hin dümpelt und ein Meeresgebiet vergiftet, das mindestens so groß ist wie Deutschland.
Moore inspiziert diesen Müllstrudel seit 1998 regelmäßig, mehr als 75 000 Seemeilen hat er mit der „Alguita“ zurückgelegt und dabei Tonnen von Plastikmüll eingesammelt: Bälle, Bojen, Kleiderbügel, Kanister ohne oder mit gefährlichen Chemikalien, Verpackungen und immer wieder gewaltige Knäuel aus synthetischen Netzleinen und Trossen. Nichts davon baut sich biologisch ab. Vielmehr zerfallen die größeren Objekte durch Sonnenlicht, Wellen und Reibung in immer kleinere Partikel, die bis auf eine Tiefe von 30 Metern das Leben im Meer bedrohen.
1998 fand Moore ein Plastik-Plankton-Verhältnis von 6:1 vor – auf ein Kilogramm Plankton kamen sechs Kilogramm synthetische Reste. Zwei Jahre später lag das Verhältnis bereits bei 46:1, und derzeit „deutet alles daraufhin“, sagt Moore, „dass sich die Situation dramatisch verschlechtert hat“. In einigen Stichproben, die sein Team 2009 dem Müllstrudel entnommen hat, fanden sie hundertmal mehr Plastik als Plankton.
Charles Moore sieht damit bedroht, was sein Leben formte. Er ist Kalifornier, wurde im Süden von Los Angeles groß. Sein Vater, ein Chemiker, war Segler, nahm den Sohn schon früh mit aufs Wasser. Das Hobby bewahrte der Sohn, es prägte ihn, und als 1994 der Großvater, ein Ölunternehmer, starb und dem Enkel ein Vermögen hinterließ, gründete der davon die Algalita Marine Research Foundation, eine Organisation zur Rettung der Meere mit Sitz im kalifornischen Long Beach. 1997 bekam die dann einen konkreten Auftrag. 1997 nämlich entdeckte Charles Moore den „Garbage Patch“.
Er war unterwegs von Los Angeles nach Hawaii. Sein Boot dümpelte in der Flaute vor sich hin – und plötzlich war es umgeben von Müll. Wo zuvor blaues Meer glänzte, trieben nun dicht an dicht in albtraumhaften Ausmaßen Abfälle der Industriegesellschaft. Charles Moore überkam das Gefühl, dass hier etwas Schreckliches passiert, und seitdem ist er unterwegs, die Menschen aufzuklären, aufzurütteln.
Nur ein Fünftel des Plastiks stammt von Schiffen oder Bohrinseln, die weitaus größte Menge wird von Land aus in die Ozeane getrieben. Und es ist nicht die eine große Katastrophe – wie etwa im Dezember 1994, als der Frachter „Hyundai Seattle“ manövrierunfähig vor den Aleuten-Inseln trieb und in schwerer See Zehntausende von Hockeyhandschuhen über Bord gingen. Es ist der Plastikbecher beispielsweise, der am Strand von Santa Monica achtlos fallen gelassen und ins Meer gespült wird. Den trägt der Kalifornienstrom zunächst nach Süden, in Richtung Mexiko, wo ihn der Nordäquatorialstrom übernimmt und auf die lange Reise nach Westen, nach Asien schickt. Dort kommt der Becher allerdings nie an, denn der Kuroshio-Strom schnappt ihn sich kurz vor Japan und schickt ihn auf den Rückweg – ostwärts hinein in den Nordpazifikstrom, der das Treibgut schließlich in einem Riesenstrudel, dem „Garbage Patch“, ablegt.
Tatsächlich gehen Experten davon aus, dass jedes einzelne Plastikteil, das in den vergangenen 60 Jahren des Kunststoffzeitalters hergestellt worden ist und in den Pazifischen Ozean gelangte, dort noch immer ist. Über Menge und Gewicht der Kunststoffmasse wird spekuliert. Die Schätzungen reichen von drei Millionen bis 100 Millionen Tonnen, Letzteres entspräche dem Gewicht des gesamten Kraftfahrzeugbestands der Bundesrepublik. Aber: „Wir können keine dieser Zahlen bestätigen“, sagt Holly Bamford, Leiterin des „Marine Debris Program“ bei der US-Behörde National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) und somit zuständig für den großen pazifischen Müllstrudel.
Da der Müll in internationalen Gewässern kreiselt, fühlt sich kein Land verpflichtet, ihn zu beseitigen. Allerdings dürfte die NOAA grundsätzlich Interesse an einer Säuberungsaktion haben, nicht zuletzt, weil der Meeresstrudel an seinen südlichen Rändern Plastikabfälle verliert, die dann an den Küsten des 50. Bundesstaates der USA, auf Hawaii, angespült werden.
Doch einfach abfischen kann man insbesondere die kleineren Partikel nicht, da sich am Plastikmüll Myriaden von Kleinstlebewesen angesiedelt haben, die man mit herkömmlichen Absaugmethoden zerstören würde. Und das Abfischen der größeren Teile ist teuer. „Ich kenne keine einzige Organisation, die die Mittel dazu hätte“, sagt Holly Bamford. Auch Charles Moore hält es für unwahrscheinlich, dass ein solches Vorhaben jemals wirtschaftlich zu realisieren ist. Reinigungsversuche seien sinnlos. Die einzige Lösung bestehe darin zu verhindern, dass neuer Plastikmüll in die Ozeane gelange.
Und so tingelt er durch die Lande, besucht Konferenzen, sucht Verbündete, hält Vorträge. „Let’s talk trash“, fängt er die an – lasst uns Müll reden –, dann lachen die Zuhörer, aber nicht lange. Moore hat Fotos von zugemüllten Stränden dabei, er erzählt von Albatrossen, die verhungern, weil ihr Magen voller Plastikmüll ist, von Fischen, deren Gedärm von Glassplittern aufgeschlitzt wurde. Mehr als eine Million Tiere sterben jedes Jahr durch Plastikmüll.
Auch an deutschen Küsten lässt sich beobachten, was die Folgen der Vermüllung sind. Hier sind es Eissturmvögel, nicht Albatrosse, aber die Diagnose ist dieselbe: verhungert mit vollem Magen – voller Plastikmüll. Nach UN-Angaben gelangen pro Jahr weltweit nahezu sechs Millionen Tonnen Plastikmüll ins Meer. Darunter auch Abfälle, die mit inzwischen verbotenen Weichmachern behandelt sind, aus denen sich also toxische Substanzen herauslösen, die von Mikroorganismen aufgenommen werden, die von Kleintieren gefressen werden, die von kleinen Fischen gefressen werden, die von großen Fischen gefressen werden, aus denen Fischstäbchen werden.
Die Dramatik der Lage ist mittlerweile auch von der deutschen Regierung erkannt worden. In einem erst vor einigen Tagen veröffentlichten Dokument heißt es, der internationale Meeresschutz sei auf ganzer Linie gescheitert. Obwohl die Entsorgung von Abfällen seit 1988 verboten ist, habe sich die Müllbelastung in der Nord- und Ostsee nicht gebessert.
Dass dringend etwas unternommen werden muss,zeigen auch die jüngsten Erkenntnisse zweier japanischer Wissenschaftler. Der Geochemiker Hideshige Takada aus Tokio fand heraus, dass sich an Plastikbruchstücken giftige Substanzen wie DDT und PCB in einer Konzentration anlagern, die bis zu eine Million Mal höher ist als die des Meerwassers.
Katsuhiko Saido, Umweltchemiker an der Nihon University in Chiba, wies vor kurzem nach, dass der Abbauprozess der Kunststoffe im Ozean nicht nur schneller verläuft als bisher angenommen, sondern auch erheblich giftiger: So setzten Teile der Plastikabfälle Verbindungen frei, die im Verdacht stehen, Krebs zu verursachen. In anderen Proben konnte der Wissenschaftler die Substanz Biphenol A nachweisen, die den Hormonhaushalt von Mensch und Tier beeinflussen kann.
Und diese toxischen Plastikpartikel werden fatalerweise von Millionen kleiner Laternenfische mit Plankton verwechselt, so gelangen sie in die Nahrungskette. „Seefisch ohne Schadstoffe gibt es nicht mehr“, behauptet daher der Geochemiker Takada. Wie sich die Stoffe weltweit verbreiten, erforscht der Japaner anhand von angeschwemmtem Plastikgranulat. Im Rahmen seines Studienprojektes grasen freiwillige Sammler rund um den Globus Strände ab. „In unserem Labor sind bis heute Proben von 90 Fundstellen aus 27 Ländern eingetroffen“, sagt Takada. Was den Nordpazifikwirbel angeht, hält Takada es für sinnvoll, die größeren Plastikteile mit großmaschigen, planktonschonenden Netzen abzufischen, bevor die Kunststoffbrocken immer weiter zerfallen, kaum noch greifbar sind und jahrelang das Meer vergiften.
Hinter seinem Haus in Long Beach hat Charles Moore einen Schuppen, in dem er den Plastikmüll aufbewahrt, sortiert nach Größe oder Farbe. Ein Einmachglas enthält eine Probe aus Hawaii, feinstes Granulat, aufgesammelt an palmengesäumten Bilderbuchstränden: Sandkörner und Plastikpartikel. Letztere sind in der Überzahl.
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