„Hurra, wir sind geimpft“: Tel Aviv tanzt wieder
Ausgehen, feiern, Spaß haben – in Israel ist das Leben zurück. Nach einem schweren Jahr sagen die Menschen in der Partyhauptstadt: „Yallah, wir sind geimpft!“.
Es ist noch früh am Abend, keine acht Uhr, doch die Weinbar in einem Vorort von Tel Aviv füllt sich bereits mit Leben. Junge Menschen sitzen an hohen Holztischen unter Lichterketten, stecken die Köpfe zusammen, plaudern und lachen.
Eigentlich müssten sie Nase-Mund-Schutz tragen, sobald sie das Haus verlassen. Doch hier hält sich kaum noch jemand daran. Nur ein einzelner Kellner trägt eine schwarze Maske. Sie baumelt lose unter seinem bartstoppeligen Kinn.
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Die Covid-19-Pandemie hat auch Israel schwer getroffen. Über 6000 Tote hat das Land zu beklagen, drei strenge Lockdowns hat es hinter sich. Es gab Zeiten, da durften die Menschen sich nicht weiter als hundert Meter von ihrer Wohnung entfernen.
Einige Wunden, die der Kampf gegen das Virus ins Straßenbild geschlagen hat, sind noch offen: Der Weg zur Weinbar führt an mehreren leeren Schaufenstern vorbei, beklebt mit handgeschriebenen Zetteln: „Sofort zu vermieten, für jeden Zweck.“
Doch wie die meisten Krisen bringt diese auch Neues hervor. Wo einst Schuhläden und Schlüsseldienste waren, öffnen nun Friseure und Cafés. Auch die Weinbar gibt es erst seit wenigen Wochen. „Und es läuft gut“, sagt die zierliche Kellnerin mit russischem Akzent.
Dröhnende Musik in den Straßen
Ein paar Kilometer entfernt, am Rabin-Platz im Herzen Tel Avivs, erinnert kaum noch etwas an die Pandemie. In Israel beginnt das Wochenende am Freitag, wegen des jüdischen Ruhetags. Am Schabbat wird geruht, am Donnerstag gefeiert.
In den Bars rund um den Platz sind schon früh alle Stühle besetzt, glücklich ist, wer reserviert hat. Aus einer Bar dröhnt House-Musik, die Konkurrenz daneben beschallt die Straße mit hebräischen Hits, doch das Lachen der Männer und Frauen, die hier eng beieinander sitzen, übertönt jedes Lied.
Im April herrschen am Mittelmeer schon milde Temperaturen, die Menschen tragen T-Shirts und Flipflops, auch zum Ausgehen: Tel Aviv ist Party-Hauptstadt, ist die Stadt, die keine Dresscodes kennt, selbst zum Tanzen gehen viele Israelis noch in ausgefransten Trekkingsandalen. Auch die Nachtclubs haben den Betrieb wieder aufgenommen, manche von ihnen so erfolgreich, dass man im Vorfeld Tickets bestellen muss.
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In einer Bar am Rabin-Platz sitzt David Averbach, ein 33-jähriger Israeli im Polo-Shirt, Zigarette in der Hand, großes Bier auf dem Tisch. Er arbeitet als Softwareingenieur bei Intel. Insgesamt habe er die Coronakrise „sababa“ überstanden, das ist arabischstämmiger Slang für „in Ordnung“ oder „super“, je nach Betonung. „Aber es gibt Dinge, die ich vermisst habe“, fügt er hinzu. „Es ist nett, wieder auszugehen. Und diese Woche war ich zum ersten Mal bei einem Fußballspiel.“
Ihm gegenüber sitzt Wladimir Stolbow, 32, geboren in der Ukraine. Seine Schwester lebt in Dresden, studiert dort Architektur. „Ich erzähle ihr, wie wir hier ausgehen und Spaß haben“, sagt er. „Und die können sich da nur in kleinen Gruppen treffen.“ Ein Jahr lang hat er seine Schwester nicht gesehen. „Sobald es geht, will ich ins Flugzeug steigen und sie besuchen. Yallah, wir sind doch geimpft!“
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Zumindest 56 Prozent der Israelis sind es. Seit Monaten schon können sich alle Bürger im Alter von mindestens 16 Jahren die Spritze geben lassen. Zuletzt hat das anfangs atemberaubende Tempo der Aktion etwas nachgelassen; auch hier gibt es Menschen, die sich vor der Impfung fürchten. Dennoch liegt Israel mit seiner Impfrate noch immer weit vor jedem anderen Land der Welt. Und der soziale Druck, sich impfen zu lassen, wächst.
Eintritt mit grünem Pass
Zwar stehen Kinos und Konzerthallen, Fitnessstudios und Fußballstadien wieder offen. Betreten darf sie jedoch nur, wer den Grünen Pass vorzeigen kann, jenes digitale Dokument, das seine Träger als geimpft oder von Covid-19 geheilt ausweist. Gerechtigkeitsdebatten, wie manche sie in Deutschland führen, kommen in der israelischen Öffentlichkeit kaum vor; nur im Privaten grollen Impfgegner über „Zwang“ und „Diskriminierung“. Bei den meisten Menschen jedoch überwiegt die Freude über die Wiederkehr lang vermisster Freiheiten.
„Das ist ein tolles Gefühl“, sagt eine Frau mit grauem Dutt, die auf dem Vorplatz einer Pizzeria sitzt und sich als Rachel vorstellt. „Es war ein schweres Jahr. Wir sind erleichtert, wirklich erleichtert.“ Ihr gegenüber sitzt ihre Freundin Tal, auf dem klapprigen Metalltisch zwischen ihnen liegt ein halbleerer Pizzakarton.
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Die beiden kennen sich, seitdem sie als junge Frauen gemeinsam eine Weile in Guatemala lebten, „vor 25 Jahren“, sagt Rachel und lacht, „wie lang das her ist!“ Nun sind die beiden Anfang 50 und genießen das Leben nach dem Lockdown. Fröhlich zählen sie auf: Sie waren schon im Kino, in Tanzshows, letzte Woche auf einem Weingut, und gerade kommen sie vom Tel Aviver Kunstmuseum. Eine äthiopische Künstlerin habe dort ausgestellt, sehr begabt.
Nur ein paar Monate ist es her, da herrschte am Rabin-Platz noch eine ganz andere Atmosphäre. In mehreren großen Zelten hatte die Stadt provisorische Impfzentren eingerichtet, die zu Spitzenzeiten Tausende Menschen pro Tag abfertigten. Inzwischen sind die meisten Zelte abgebaut, nur ein einziges steht noch; dort können Passanten sich tagsüber auf Corona testen lassen. Die blauen Stahlgeländer davor erinnern an die Menschenmengen, die sich noch vor kurzem in langen Schlangen vor dem Zelt stauten. An diesem Abend jedoch steht dort niemand mehr.
Wenige Dutzend Meter entfernt, auf dem Vorplatz der Pizzeria, herrscht dagegen ein ständiges Kommen und Gehen, kein Tisch bleibt länger als wenige Sekunden frei. Ein halbes Dutzend Menschen drängen sich vor dem Eingang, Kellner gibt es nicht, bestellt wird an der Theke.
Dahinter arbeiten schwarz beschürzte Frauen und Männer im Studentenalter auf Hochtouren. Kommt eine Pizza aus dem Ofen, ruft eine von ihnen die Namen der Empfänger über den Platz: „Udi!“, „Omer!“, „Rima!“ Sie muss brüllen, um das Stimmengewirr zu übertönen.
Von ihrem kleinen Tisch aus blickt Tal herüber zu dem Spektakel. „Ja, es nervt, in der Schlange zu stehen“, sagt sie. „Aber es ist schön, die Stadt wieder so lebendig zu sehen.“