Die Philippinen nach dem Taifun: Sturm und Drang
Ich kann nicht ewig auf ein Lächeln warten, sagt Kurt Behringer. Ich muss etwas herzeigen können. Seit 30 Jahren reist der Katastrophenhelfer von Krise zu Krise, rund um die Welt. Inzwischen weiß er: Hilfe ist auch ein Geschäft, das vor allem von Bildern lebt.
Zum Zopf gebundene blonde Haare, ergrauender Zauselbart, hagere Statur – man könnte meinen, die Katastrophe hätte Kurt Behringer aus einer anderen Zeit auf den Philippinen an Land gespült. Eine weltfremde Erscheinung, und doch: Der Kauz mit dem verschrammten schwarzen Trolley ist der Südostasienchef des Ananda Marga Universal Relief Teams (Amurt) und ein erfahrener sowie geschätzter Experte für schnelle Aufbauhilfe nach Katastrophen.
Seit einigen Tagen lebt der gelernte Jurist, der ursprünglich aus Nürnberg stammt, mitten im Chaos von Salcedo im Osten der Insel Samar. Dort ist der Taifun Haiyan am 8. November zum ersten Mal auf Land getroffen und hat besonders gewütet. Behringer baut dort im Namen der Kindernothilfe erst einmal zehn Kindergärten, danach auch Schulen und Häuser mit Einheimischen zusammen wieder auf.
Schon am Tag nach seiner Ankunft mietete er früh um halb sieben einen winzigen dunklen Raum ohne Strom – dafür aber mit vielen Mücken. Seine Basis, sein Büro, günstige 2200 Pesos Miete zahlt er der Wirtin pro Monat. Er kennt die Dynamik von Krisen. Schon bald werden die Preise kräftig steigen. Wie lange er bleiben wird, weiß der 60-Jährige noch nicht. Wenn er anfängt, zieht er ein Projekt auch durch. „Ich bin ein Macher, ich will Ergebnisse sehen“, sagt Behringer. „Wenn eine Schule steht, wenn ein Haus steht, kann ich das herzeigen. Ich kann nicht fünf Jahre auf ein Kinderlächeln warten.“
So lebt er nun beinahe wie ein Eremit, seine Welt sind Holz und Mörtel. Spricht er mit Menschen, dann geht es meistens nur um Arbeit – um mehr nicht. Ändern kann oder will er das offensichtlich nicht. Elf Jahre kümmerte er sich früher als „Schutzbrief-Manager“ um die kleinen und größeren Katastrophen von Urlaubern, holte sie und ihre Autos heim. Manchmal bearbeitete er 250 Fälle am Tag. „Ich hatte gedacht, allenfalls Museumswächter wäre eine Alternative“, sagt Behringer und grinst. Doch dann traf er einen brasilianischen Mönch, der sich der Hilfe für Bedürftige verschrieben hatte, und wurde selbst professioneller Krisenhelfer. Im Jahr 1997 schloss Behringer sich Amurt an.
Seit 30 Jahren reist er von einer Katastrophe zur nächsten. Er ging ins Nachkriegs-Kosovo, nach Banda Aceh, wo 2004 der Tsunami wütete, und nach dem Zyklon Nargis nach Birma. Das hat Spuren hinterlassen. In Menschen einfühlen und ihnen das zeigen, kann er nicht mehr. Den Kindern im Norden der Insel Cebu erklärt er, dass andere dringender Hilfe brauchen als sie. Der durstigen Alten, die ihn in Batang im Osten von Samar um Hilfe bittet, sagt er ins Gesicht: „Unsere Philosophie ist: Wir geben nicht für einen, nur für alle.“ Selbst seine Kollegen zucken bei solchen Sätzen zusammen. „Ich bin aber nicht der Seelentrampel, als der ich manchmal rüberkomme“, sagt Behringer. Er findet sich wohl eher ehrlich.
Er weiß genau, dass gerade die Psyche der Menschen in solchen Krisen besonders leidet und nach einer Katastrophe auch schnelle psychologische Hilfe nötig ist. In Salcedo hat sich der erste Verzweifelte bereits umgebracht, erzählt Bürgermeister Melchor Mergal. Immer wieder sind am Straßenrand schrill lachende Frauen zu hören, die ihren Schmerz nicht verwinden können. „Entweder wir machen das sofort oder gar nicht. In zwei, drei Monaten müssen wir nicht mehr mit Psychologen anfangen“, sagt Behringer. Aber für den Part ist seine Kollegin Sylvia Cabanan zuständig.
Die 50-jährige Philippinin ist gelernte Agraringenieurin, aber die „Vollzeit-Freiwillige“ arbeitet seit Jahren bei Amurt als Lehrerin. Sie lebt von Spenden und ernährt sich von dem, was im Schulgarten wächst. Ihre Kollegen nennen sie Didi, ältere Schwester. Kurt heißt nur Dada, der ältere Bruder. Die beiden arbeiten die kommenden Monate zusammen. Cabanan wird im Büro schlafen, Behringer bezieht sein Lager unter freiem Himmel. Mehr als ein Zimmer war nicht zu bekommen, und die Regeln von Amurt verbieten, dass Frauen und Männer in einem Raum schlafen. Deren Mitglieder haben allem Weltlichen abgeschworen. Behringer nennt Amurt eine spirituelle Vereinigung, aber keine religiöse. „Wir haben auch einen Gott, die All-Seele. Aber das ist keiner auf ’ner Wolke.“ Sie haben sich voll und ganz der Hilfe für andere Menschen verschrieben. „Service to humanity is service to God“, lautet ihr Leitspruch.
Und so sitzt Behringer nachts um zwei vor seinem Laptop, auch der passt in sein Rollköfferchen. Er hat sogar Licht, denn es ist Vollmond. 15 Modelle für den Wiederaufbau von Kindergärten, Schulen, Häusern hat Dada Kurt sich in drei Jahren auf dem Computer zusammengestellt. In Salcedo hat der Sturm 31 Kindergärten zerstört, 600 Kinder wurden dort betreut. Behringer kalkuliert, wie viele Nägel, Hämmer, Zangen, Dachlatten und Balken nötig sind. Fünf lokale Bauingenieure will er anstellen. Dann berechnet er, welche Ausstattung er für die Kinder braucht und wie viele Psychologen. Ob Unicef Unterrichtsmaterial stellen kann? Die Kinder benötigen nicht nur Essen, sondern auch „Nahrung fürs Hirn“.
Um fünf Uhr früh meditiert Kurt Behringer wie jeden Tag für eine gute halbe Stunde. So sammelt er vor der Hektik des Tages Energie. Anderthalb Stunden später erläutert er seinen Tagesplan: „Wir könnten in der Nähe Baumaterial besorgen, es den Leuten vorbeibringen, dann fangen die an. Wenn wir heute Nachmittag zurückkommen, können wir schon ein paar Fotos vom Hausbau machen.“ Er denkt schon an die Bilder für die Spender, dabei kennt er noch nicht einmal die Einkaufsmöglichkeiten.
„Wir machen das hier ganz nebenbei auch für die Kinder“, bremst ein irritierter Kollege ihn väterlich. „Oh Gott, dass du mich daran erinnern musst“, sagt Behringer erschrocken. Er will helfen, aber er will der Kindernothilfe auch Fotos liefern, damit die ihren Spendern möglichst rasch Projekte präsentieren kann.
Die Hilfe nach Katastrophen ist auch ein Geschäft. Wer spektakuläre Bilder von Opfern anbietet, bekommt höhere Spendengelder. „Die Hilfe ist wichtig, aber sie muss auch beeindrucken“, sagt Behringer und fügt hinzu: „womit der Hilfegedanke manchmal an zweite Stelle rückt“. Seine Philosophie ist es, möglichst abseits der Hauptrouten zu helfen, denn da ist die Not in der Regel am größten. So ist es auch in Ost-Samar, das schon vor dem Taifun eine vernachlässigte Region war. Wer von Guiuan Richtung Norden fährt, kommt normalerweise weder in Jagnaya noch in Asgad vorbei, aber da leben Menschen, deren Dörfer der Sturm „Yolanda“, wie er auf den Philippinen heißt, weggewaschen hat. Dort wird Behringer jetzt arbeiten. „Aber ich habe auch immer ein, zwei Projekte an der Hauptstraße, ein schönes Schild mit unserem Logo auf dem Weg zum Flughafen, wo es gut gesehen wird.“ Nur wen sie kennen, bedenken die Spender. Ohne Geld aber kann auch der Engagierteste nicht helfen. „Spendengelder sind kostbar, sie müssen effizient eingesetzt werden.“ Kurt Behringer nennt es „maximum utilisation“.
Um überhaupt arbeiten zu können, mehr noch: um den Einsatz überleben zu können, muss er aber zunächst ein paar Sachen besorgen. In Salcedo können Sylvia Cabanan und er kein Wasser kaufen, keine Lebensmittel, schon gar kein Papier oder einen Topf. In Borongan, rund 160 Kilometer nördlich, sollen Läden offen haben.
Der Weg dorthin ist beschwerlich. Fünf Stundenkilometer zeigt der Tacho des Minibusses, als er über den „national highway“ rumpelt, von dem nur noch ein paar Flecken Asphalt übrig sind.
Sie kommen in Garawon vorbei. Hier standen einmal 74 Häuser, es sind fast nur Trümmer übrig, die Menschen ernähren sich von ein paar verbliebenen Kokosnüssen. „Wir haben Reis aus den Hubschraubern bekommen, aber wir haben gar nichts, worauf wir ihn kochen können“, sagt Nica Alota, die gerade in einem Bottich gespendete Kleider wäscht. Selbst der lila BH, den sie am Straßenrand knetet, stammt von Fremden. „Wir haben nicht einen Peso gerettet. Das Wasser stand uns bis hier“, erzählt sie und hält die Hand quer vor den Brustkorb. Aber, sagt sie, fahren Sie weiter, da ist es noch schlimmer.
„Wir brauchen alles", sagt der Bürgermeister.
Weiter durch Batang. 182 Häuser im Ort sind weitgehend verschwunden, ein großes Gebäude steht noch windschief in der Gegend. Die Fischer hier besaßen 20 große Boote, alle sind weg. Von der Kirche sind nur mehr ein paar Statuen und die Glocke in einem windschiefen Türmchen übrig. Ein junger Mann sitzt darin, lacht und hält einen weißen und einen schwarzen Flipflop hoch. Hier warten alle auf Hilfe.
Weiter durch Carmen. Dort baumelt nur noch das Ortseingangsschild. Dahinter haben sich ein paar Familien aus blauen Planen und ein paar Stämmen provisorische Unterkünfte gezimmert.
Weiter durch Hernani. Die Kreisstadt hat 14 000 Einwohner. Bürgermeister Edgar Boco steht im brombeerfarbenen Poloshirt im Rathaus und ist dem Nervenzusammenbruch nahe. Er kam erst am Tag vor dem Sturm aus Manila zurück, er hat seine Leute nicht ausreichend vorbereitet. Jetzt wächst dem 36-Jährigen die Situation über den Kopf. In seinem Büro stapeln sich Trümmer, die von den Wellen hereingeschoben wurden, im Eingang hat nun endlich ein Ärzteteam aus dem Norden eine provisorische Station eingerichtet. Viele Menschen haben entzündete Wunden, die Wellen haben viele scharfe Gegenstände mitgeschleppt, andere haben Atemwegsprobleme und juckende Hautausschläge.
„Wir brauchen alles. Kindergärten, Schulen, Häuser, Essen, Benzin“, sagt der Bürgermeister verzweifelt. Was in den Kartons von USAID ist, die hinter ihm stehen, weiß er nicht. Er holt ein Messer, schneidet die Kiste auf, reißt eine Rolle raus: „Wir haben Klopapier, wir haben Seife, wir haben Waschpulver“, seine Stimme überschlägt sich fast. „Das ist doch nichts.“
Aber ja doch, auch so was brauchen sie, aber als Erstes? Kurt Behringer schreibt alles in sein Notizbuch. Würde er hier anfangen, könnten in zehn Tagen die ersten Kinder wieder in den Kindergarten gehen. Aber Hernani ist erst nach Salcedo dran. Es liegt an der Durchgangsstraße, da werden auch andere kommen.
Sie fahren vorbei am Friedhof, wo „Yolanda“ Knochen aus den Gräbern hochgespült hat. Vorbei an der windschiefen Hütte, an die jemand das Schild „Hero Headquarter“ genagelt hat. Vorbei an einem blauen Laster, der sich um einen Baumstamm gewickelt hat. Daneben steht ein grüner Plastikweihnachtsbaum, geschmückt mit einer roten Lichterkette und spiegelnden CDs. Den haben Kinder aufgestellt.
Dann ist die Straße plötzlich einwandfrei. Nach gut zwei Stunden ist Borongan erreicht. „Poster!“, ruft Kurt Behringer und zückt seine Kamera. Hier ist der Strand noch ein Urlaubsidyll. Der Verkehr wird dichter. „Ich werd verrückt, hier gibt es wirklich was zu kaufen“, ruft der Bauexperte und springt aus dem Wagen. Sylvia Cabanan hinterher. Mit fünf roten Plastikstühlen, Pfanne, Kocher und Plastiktellern kommen sie wieder. In der Uptown Mall kauft Dada Kurt Nudeln, Öl, Reis, Wasser und ein paar Gewürze. Das Eis von „Mr. Softie“ interessiert ihn nicht. Das Essen ist bei Amurt auch sonst spartanisch.
Jetzt müssen sie noch Geld tauschen. Doch da ist es vorbei mit dem vermeintlichen Shoppingparadies. Die Banken haben zu, auch in Borongan gibt es keinen Strom und keine Internetverbindung, also können sie keinen aktuellen Wechselkurs ermitteln, Bankautomaten funktionieren nicht. Ein Hotel nutzt die Lage und tauscht zum Wucherpreis, aber auch nur maximal 150 Dollar pro Person.
An der Tankstelle die nächste Enttäuschung. Es gibt kein Benzin. Er hat kein Fahrzeug, aber wenn er welches mitbringen würde, könnte er in Salcedo sicher einen Mopedfahrer anheuern. So nicht. Auch den eben erstandenen Kocher werden sie nicht anwerfen können. „Na“, sagt Behringer, „dann machen wir es wie in alten Zeiten. Es ist ja genug Feuerholz da.“ Dass er keine Ordner bekommen hat und kein A4-Papier, das wurmt ihn viel mehr. „Ich kann doch meine Verträge nicht auf Toilettenpapier schreiben.“
Dass manche sagen, die größte Hilfsorganisation hier sei die NPA, die Rebellenorganisation, die „Steuern“ erpresst und in der Nähe jüngst Leute überfallen, ausgeraubt und als Geiseln genommen hat, schreckt Kurt Behringer eher nicht. Alles was er hat, gibt er ohnehin anderen.
An diesem Abend wirkt Behringer entspannt, auf dem Rückweg hat er im Auto meditiert. Kein Vergleich zu dem Entsetzen am nächsten Morgen. Noch vor Sonnenaufgang geht es Richtung Jagnaya. Es schüttet, der Tag beginnt mit unwirklichem gelb-braunen Licht, das die toten Bäume rechts und links noch gespenstischer erscheinen lässt. Da sagt sogar jemand wie Kurt Behringer: „Weltuntergang ist da noch milde ausgedrückt.“
Dieser Text ist auf der Dritten Seite erschienen.