Panorama: Später Schule? Ganz schön ausgeschlafen
Wissenschaftler sagen: Kinder sind in der Frühe noch nicht leistungsfähig genug – wegen ihrer inneren Uhr
Fragt man ältere Kinder und Jugendliche, warum sie sich auf die Ferien freuen, dann kommt mit ziemlicher Sicherheit in ihrer Antwort der Stoßseufzer vor: „Dann kann ich endlich mal wieder ausschlafen!“ Zumindest einen kleinen Zipfel dieses Vergnügens stellt ihnen Baden-Württembergs Ministerpräsident Oettinger nun auch für die Schulzeit in Aussicht. Der CDUPolitiker setzt sich dafür ein, die Schule morgens nach dem Vorbild anderer Länder eine halbe oder ganze Stunde später beginnen zu lassen. Er will den Familien ein gemeinsames Frühstück ermöglichen und so ihren Zusammenhalt stärken.
Wenn auch mehrere Lehrerverbände den Vorschlag als „unpraktikabel“ verwarfen: Des Beifalls der Wissenschaftler darf sich Oettinger sicher sein. Chronobiologen, die sich wissenschaftlich mit der „inneren Uhr“ des Menschen beschäftigen, kritisieren den frühen Beginn in Deutschlands Klassenzimmern schon seit längerem. Die Arbeitsgruppe Chronobiologie am Institut für Medizinische Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München hat in einer Erhebung bei mehr als 30 000 Menschen aller Altersstufen ermittelt, dass die Mehrheit der Bevölkerung heute am liebsten zwischen Mitternacht und acht Uhr morgens schläft. Etwa jeder fünfte Bundesbürger ist sogar ein ausgesprochener Abendtyp. Am Wochenende, wenn sie sich den Wecker nicht stellen müssen, nehmen aber die meisten anderen eine kleine persönliche Zeitverschiebung vor.
Jugendlichen fällt der Start in die neue Woche mit dem Schulbeginn um acht Uhr besonders schwer, denn von der Geburt bis zum Alter von 20 Jahren werden Menschen immer mehr zu Spätaufstehern. Die Verschiebung der inneren Uhr ist aus der Sicht der Chronobiologen geradezu ein Merkmal der Adoleszenz. Heranwachsende schütten später am Abend das Schlafhormon Melatonin aus, sie können erst später einschlafen und sind dafür morgens gegen sieben Uhr immer noch auf Schlaf eingestellt. „Unsere Schüler werden heute praktisch mitten in ihrer subjektiven Nacht unterrichtet“, spitzt der Leiter der Münchner Arbeitsgruppe, der Biologe Till Roenneberg, Leiter der Münchner Arbeitsgruppe, die Lage zu. Vor allem Schüler, die einen weiten Weg haben, müssen oft schon vor sechs Uhr aufstehen, gibt auch sein Regensburger Kollege Jürgen Zulley zu bedenken. Weil sie abends nicht früh genug ins Bett finden, ist bei vielen ein chronisches Schlafdefizit die Folge. Eine Studie der University of Philadelphia zeigte, dass die Schulleistungen darunter messbar leiden.
Erst nach der Pubertät betten sich die jungen Erwachsenen früher in den äußeren 24-Stunden-Tag ein. Zeitlebens bleiben allerdings große individuelle Unterschiede zwischen Nachtschwärmern und Frühaufstehern. „Deshalb widerspricht es eigentlich der Chancengleichheit, in der ersten Stunde eine Mathearbeit zu schreiben“, kritisiert der Schlafspezialist Dieter Kunz von der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus. Der persönliche, nach neueren Erkenntnissen auch von „Uhrengenen“ bestimmte „Chronotyp“ ist möglicherweise auch bei der Berufswahl zu bedenken.
Allerdings ist die innere Uhr des Menschen keineswegs starr und unbeeinflussbar. „Zeitgeber“, zu denen nicht allein das Licht zählt, sondern auch soziale Kontakte und Mahlzeiten zur gleich bleibenden Stunde, helfen dabei, sich einen sozialverträglichen Tagesrhythmus anzugewöhnen. Ein häusliches Frühstück wäre ein Zeitgeber, der Kindern den Einstieg in den Schulalltag erleichtern könnte. Viele Kinder kommen aber Berichten von Lehrern zufolge heute „ungefrühstückt“ in den Unterricht. Vielleicht, weil sie früher losgehen müssen als die Eltern. Ob das besser würde, wenn den Familien eine halbe bis eine Stunde länger Zeit bliebe, steht aber dahin.
Adelheid Müller-Lissner
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