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Zu Hause: Sommerhaus, Ost

Es ist ja eigentlich so etwas wie ein Blockhaus, eine Gartenlaube, eine Art Bungalow ... Großer Irrtum! Vom Geheimnis der russischen Datscha.

Kennen Sie den? Jahre nach einem Flugzeugabsturz wird auf einer einsamen Insel ein Engländer entdeckt. Seine Retter wundern sich über zwei identische Holzhütten, die der Mann am Strand errichtet hat – wozu? „Aber das liegt doch auf der Hand“, antwortet verwundert der Engländer. „Das eine ist der Club, in den ich gehe. Und das andere ist der Club, in den ich nicht gehe.“

Jemand hat diesen Witz vor Jahren Marina Rumjanzewa erzählt. Sie musste lachen – und sich vorstellen, wie die Insel ausgesehen hätte, wenn dort einer ihrer Landsleute gestrandet wäre, ein Russe. „Der hätte auch zwei Hütten gebaut. Auf der einen Seite der Insel ein Wohnhaus, auf der anderen eine Datscha.“

Marina Rumjanzewa lächelt, eine feingliedrige Frau von 50 Jahren. Der Witz, sie weiß es, ist im Grunde kein Witz. Es ist nicht lange her, da fand sie sich selbst auf einer Art einsamer Insel wieder, 1993 war das, sie war aus Russland in die Schweiz emigriert, der Liebe wegen. Als kurz darauf ihre Tochter zur Welt kam, spürte Marina Rumjanzewa plötzlich ein merkwürdiges Sehnen in sich. Etwas fehlte in ihrem Leben. Bloß was?

Als die Tochter zu krabbeln begann, wurde das Sehnen stärker. Und plötzlich verstand Marina Rumjanzewa. Sie fragte ihre Zürcher Bekannten, wo denn die Kinder in der Schweiz den Sommer verbringen. Die Antworten waren interessant, vielfältig, aber zutiefst unbefriedigend. Marina Rumjanzewa begriff: Sie war in einem datschenlosen Land gestrandet.

Marina Rumjanzewa liebt die Schweiz. Aber dass ihre Tochter ohne die Freuden des Datschenlebens aufwachsen sollte, ohne diese zutiefst russische Idee von Kinderglück, das durfte nicht sein. Also richtete sich Marina Rumjanzewa in einem Doppelleben ein. Den Herbst, den Winter, den Frühling verbrachte sie mit ihrem Mann in der Schweiz. Im Sommer aber fuhr sie nach Russland. Mit ihrer Tochter. Auf die Datscha. Und staunend traf sie dort Russen, denen es ganz ähnlich ging, die über die ganze Welt verstreut lebten, um im Sommer regelmäßig auf ihre Datschen zurückzukehren.

Nun mag mancher einwenden, dass doch in den Tälern der Schweiz durchaus das eine oder andere Wochenendhaus ... Aber das ist ein Missverständnis! Eine Datscha ist kein Wochenendhaus, und sie ist auch, um weitere Missverständnisse auszuräumen, keine Ferienwohnung, kein Cottage, keine Gartenlaube, keine Berghütte, kein Blockhaus und kein Bungalow. Eine Datscha ist eine Datscha – und sonst nichts. Selbst mit der ostdeutschen Datsche teilt sie lediglich den Wortstamm, nicht aber die Philosophie.

Es ist Marina Rumjanzewa nicht immer leicht gefallen, diese Philosophie zu vermitteln, den Schweizern zu erklären, was eine Datscha von westeuropäischen Zweitdomizilen unterscheidet. Äußerlich nur wenig: Eine typische Datscha hat ein oder zwei Stockwerke, sie hat Wände aus Holz, ein Dach aus Blech, eine Terrasse, einen Garten. Überhaupt, sagt Marina Rumjanzewa, sei das Geheimnis der Datscha nicht das Haus selbst, sondern die Art, wie es bewohnt werde. Nie käme zum Beispiel ein Russe auf die Idee, sich wie der Schweizer ein Zweithaus zu halten, in dem man im Laufe des Jahres ein paar Wochenenden verbringe. Auf der Datscha verlebt man den kompletten Sommer. Sie ist kein Zweitwohnsitz, sondern ein saisonaler Erstwohnsitz.

Sobald der letzte Schnee gefallen ist, in Moskau im Mai, in Sibirien im Juni, sobald übergangslos und explosionsartig der russische Sommer eingesetzt hat, verwaisen die Städte, bilden sich lange Staus an den Ausfahrtstraßen, beginnt die Datscha-Saison. Ganze Familien verlassen dann ihre Wohnungen, um bis in den September hinein als „Datschniki“ zu leben. Kinder und Großeltern setzen monatelang keinen Fuß in die Stadt, die Eltern pendeln, wenn sie arbeiten müssen, zwischen Firma und Datscha. Dort tun sie: möglichst wenig. Zwar ist für viele Russen bis heute der Gemüseanbau im Datscha-Garten eine lebenswichtige Quelle der Selbstversorgung, ansonsten aber frönt man hier dem Müßiggang. Man genießt die Nähe zur Natur. Man trifft sich mit anderen „Datschniki“, man isst, trinkt, philosophiert, über Gott, die Welt, das Gedeihen der Gurken.

Fremd, sagt Marina Rumjanzewa, sei dem russischen „Datschnik“ auch der westeuropäische Gedanke, dass ein Ferienhaus so abgeschieden wie möglich liegen müsse. Die Datscha liegt vor der Stadt, und sie ist umgeben von anderen Datschen. „Was zählt, ist die Gemeinschaft“, sagt Marina Rumjanzewa. Sie selbst habe, wie viele andere Russen, nie eine eigene Datscha besessen, sondern von Sommer zu Sommer verschiedene Häuser gemietet – aber immer in derselben Datschensiedlung. Entscheidend sei, dass man stets von denselben Menschen umgeben sei – Menschen übrigens, mit denen man im städtischen Leben nicht unbedingt etwas zu tun haben müsse. „Die Datschenwelt ist eine Parallelkultur“, sagt Marina Rumjanzewa. „Sie hat ihre eigenen Gesetze.“

Dass es ihr lange nicht gelang, diese Besonderheiten zu vermitteln, lag nicht etwa an der Begriffsstutzigkeit der Schweizer. Es lag an ihr selbst. Zu vertraut war Marina Rumjanzewa die Lebensform Datscha, als dass sie sie hätte abstrahieren, hinterfragen, übersetzen können. Und als sie schließlich begann, ein Buch über die Datscha zu schreiben, merkte sie, dass es nicht nur ihr so ging. Kaum ein Russe hatte sich mit dem Phänomen auseinandergesetzt. Die Datscha war einfach nur da. Genau wie Russland selbst schien sie „mit dem Verstand nicht fassbar“, wie der Dichter Fjodor Tjutschew einmal über sein Heimatland schrieb.

Marina Rumjanzewa durchkämmte Geschichtsbücher, Romane, alte Zeitungen. Sie stellte eine Anthologie mit Datscha-Szenen aus der russischen Literatur zusammen, ergänzt durch eine Kulturgeschichte, die ganz Russland aus dem Geist der Datscha erklärt („Auf der Datscha“, Dörlemann, Zürich 2009, 288 Seiten, 21,90 Euro). Den Ursprung des Phänomens entdeckte sie bei Peter dem Großen, der Anfang des 17. Jahrhunderts die neue Hauptstadt Sankt Petersburg gründete. 30 Kilometer vor der Stadt ließ der Zar seine Sommerresidenz errichten, die Verbindungsstraße wünschte er sich als Paradeallee. Er vergab die angrenzenden Grundstücke an Höflinge, verbunden mit der Auflage, sie mit Sommervillen und Parks zu bebauen. Als „Datscha“ wurden solche Grundstücke bezeichnet – als „Gabe“ des Zaren.

Lange blieb die Datscha ein aristokratisches Phänomen. Erst Ende des 18. Jahrhunderts eignete sich das Bürgertum mit den adligen Privilegien auch die Datschen an: Zeugnis ist Anton Tschechows berühmtestes Drama, in dem eine verarmte Aristokratenfamilie gezwungen ist, ihren „Kirschgarten“ parzellenweise an bürgerliche Datschenbauer zu verkaufen. Überhaupt hielt das Phänomen nun verstärkt Einzug in die Literatur: Kaum ein Roman des 19. Jahrhunderts kommt ohne Datscha-Szene aus. Meist wird die Sommerresidenz dabei zur idyllischen Gegenwelt verklärt, mitunter aber ergießt sich auch Spott über das Lungerleben der „Datschniki“ – etwa in Maxim Gorkis gleichnamigem Drama, in dem eine Sommerfrischlerin verkündet: „Intelligenzija – das sind nicht wir! Wir sind Datschniki in unserem Lande. Wir tun nichts und reden widerlich viel!“

Mit Lenins Revolution geriet der Traum von der eigenen Scholle in Misskredit – und trotzdem wurde die Datscha in der Sowjetunion endgültig Teil der russischen Identität: In keinem Land der Welt nutzten ähnlich viele Menschen einen Zweitwohnsitz. Auch die russischen Staatsführer hielten sich seit Stalin repräsentative Luxusdatschen – eine Tradition, die bis heute fortlebt: Gerade erst empfing Wladimir Putin seinen Gast Barack Obama auf seiner Datscha an der Moskauer Prachtmeile Rubljowka.

Bei ihrer Recherche staunte Marina Rumjanzewa immer wieder, wie viel Zeit, Kreativität und Energie über die Jahrhunderte in das Projekt Datscha gesteckt wurde. „Das erklärt vielleicht auch, warum anderes auf der Strecke blieb“, sagt sie. „Der Straßenbau zum Beispiel.“ Ein Befund, an dem auch die Perestroika wenig geändert hat: Bis heute leidet Russland am „Datscha-Syndrom“. Zwar besitzen heute mehr Russen eigene Sommerresidenzen, in vielen gibt es jetzt Telefone und Fernseher. Im Grunde aber, sagt Marina Rumjanzewa, bleibe sich das Datschenleben verblüffend treu: „Es ändert sich nichts.“

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