Panorama: Sie zeigt ihr Gesicht
In Frankfurt (Oder) hat der Prozess gegen Sabine H. begonnen. Sie ist die Mutter, die neun ihrer Kinder getötet haben soll
Der Richter hätte die Frau vor den Fotografen und Kameraleuten schützen können. Doch die „Monstermutter“, wie die 40-jährige Sabine H. aus Frankfurt (Oder) von der Boulevardpresse getauft wurde, will sich vor den Objektiven nicht verstecken. Sabine H. ließ zum Prozessauftakt am Donnerstag vor dem Landgericht in Frankfurt (Oder) ein langes Blitzlichtgewitter über sich ergehen. „Sie wollte zeigen, wie sie wirklich aussieht“, erklärte ihr Anwalt Mathias Schöneburg diese Szene. „Die in den Zeitungen vorher abgedruckten Fotos gefielen ihr nicht.“
Neun ihrer 13 Kinder soll Sabine H. gleich nach der Geburt getötet und in Blumenkübeln, Eimern, einer Plastikwanne und anderen Behältnissen verscharrt haben.
Das Entsetzen über diese beispiellose Verbrechensserie ergriff im Sommer des vergangenen Jahres das ganze Land. Neun Kinder, getötet von ihrer Mutter, das hatte es noch nie gegeben, nicht in Deutschland, nicht in Europa, nirgendwo sonst auf der Welt ist ein solcher Fall bekannt. Experten fielen Erklärungen schwer. Und manche Erklärung stieß auf heftige Kritik. Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm sagte damals im Tagesspiegel einen Satz, der eine große Debatte auslöste: „Ich glaube, dass die von der SED erzwungene Proletarisierung eine der wesentlichen Ursachen ist für Verwahrlosung und Gewaltbereitschaft." Nach heftiger Kritik nahm er die Aussage wenig später zurück und entschuldigte sich, da er viele Menschen gekränkt und verletzt habe, wie er erklärte.
Der Gerichtssaal, für dessen 70 Plätze die ersten Besucher schon im frühen Morgengrauen angestanden hatten, verstummte beim Erscheinen der Angeklagten. In Handschellen wurde die Frau mit ihren schwarzen, halblangen und gelockten Haaren, dem weißen Pullover und den blauen Jeans auf ihren Stuhl geführt. Seit dem 1. August 2005 sitzt sie in Untersuchungshaft im südbrandenburgischen Duben. Einen Tag zuvor waren die ersten menschlichen Knochen in Blumenkübeln auf dem elterlichen Grundstück in Brieskow-Finkenheerd, zehn Kilometer südlich von Frankfurt (Oder), zufällig gefunden worden. Ihr Cousin, der als einer von rund 70 Zeugen gehört werden soll, hatte den Garten des Elternhauses an jenem Sonntag aufgeräumt. Die vielen Behälter, die Sabine H. wegen eines Umzuges innerhalb von Frankfurt vom Balkon ihrer Hochhauswohnung vor einigen Jahren zu den Eltern gebracht hatte, standen auf dem Grundstück schon lange im Weg. Als der Cousin und ein Freund die Erde vor einer Garage auskippten, fiel ihnen eine Reisetasche auf. Sie öffneten den Reißverschluss und entdeckten einen skelettierten Babykopf.
Die sofort verständigte Polizei durchsuchte das ganze Grundstück und stieß auf immer neue grausige Details. Zwischen verfaulten Tüchern und Binden fanden die Beamten Leichtenteile von insgesamt neun Babys. Gerichtsmediziner stellten später das Geschlecht der Opfer fest. Es handelte sich um zwei Jungen und sieben Mädchen, die zwischen 1988 und 1998 zur Welt gekommen waren. Und sie machten eine weitere Feststellung: Alle getöteten Kinder stammen von Sabine H. und ihrem damaligen Ehemann Oliver H.
Trauer und Unverständnis herrschten damals in Brieskow-Finkenheerd und in Frankfurt. Hier wollte niemand etwas von den neun Schwangerschaften der Frau bemerkt haben. Selbst ihr drei Jahre älterer Ehemann Oliver H. gab gegenüber der Polizei und einer Richterin an, nichts über die Schwangerschaften und die mutmaßliche Tötung der Kinder gewusst zu haben.
Der gestrige Auftritt von Sabine H. im Gerichtssaal verstärkte eher noch die Fragen, warum niemand von den Schwangerschaften etwas bemerkt haben sollte. Denn die gelernte Zahnarzthelferin ist sehr schlank, so dass stärkere und vor allem regelmäßige Gewichtszunahmen infolge der Schwangerschaft sowohl ihrem Mann als auch ihrer Familie oder den Nachbarn hätten auffallen müssen. Gewiss haben die Untersuchungshaft und eine unlängst festgestellte Krebserkrankung den körperlichen Zustand beeinflusst, doch auch Anwalt Schöneburg steht in dieser Frage vor einem Rätsel. „Meine Mandantin ist auf Fotos aus der Vergangenheit meistens schlank – mit einem Körpergewicht von höchstens 60 Kilogramm.“
Sabine H. verweigerte gegenüber dem Gericht am ersten Prozesstag jegliche Aussage. So musste die Verlesung ihrer richterlichen Vernehmung vor einigen Monaten Aufschluss über die Umstände der Tötungen geben. Allerdings konnte sich die Frau, deren Schulzeugnis der 10. Klasse bis auf eine „2“ nur die Note „1“ zeigte, lediglich an die beiden ersten Fälle erinnern. Im Jahre 1988 hatte das Ehepaar bereits drei Kinder. „Mehr Kinder wollte mein Mann nicht“, sagte Sabine H. der Ermittlungsrichterin. Sie quälte sich mit der Angst vor Vorwürfen ihres bei der Stasi beschäftigten Mannes und fürchtete, von ihm verlassen zu werden. Die Pille nahm sie nur unregelmäßig ein. Als an einem Septembertag 1988 Wehen einsetzten, brachte sie einen Jungen auf der Toilette zur Welt. Der Kopf lag im Wasser. Sie wickelte den kleinen Jungen in ein Handtuch ein und betrank sich. Sie verscharrte den Leichnam in einem mit Erde gefüllten Aquarium. „Ich konnte mit niemandem reden. Wir hatten nur einen kleinen Bekanntenkreis“, sagte Sabine H. Die nächste Geburt passierte in einer Pension in Goslar. Ein Berliner Dentallabor, wo Sabine H. 1992 eine Beschäftigung fand, schickte sie zu einer Weiterbildung in den Harz. Die damals 26-Jährige teilte sich dort ein Zimmer mit einer Kollegin. Eines Tages im Mai 1992 klagte sie über Bauch- und Kopfschmerzen und blieb allein in der Pension zurück. Wieder hatte sie niemandem über ihre Schwangerschaft etwas erzählt. Sie brachte im Zimmer ein Kind zur Welt. Als die Kollegin vom Lehrgang zurückkehrte, legte sie eine Decke über das Baby. „Das geschah im Reflex. Ich weiß nicht, warum ich es gemacht habe. Das Kind wimmerte noch.“ Die Leiche dieses Kind nahm sie in der Reisetasche von Goslar zurück nach Frankfurt (Oder). Diese versteckte sie dann unter der Erde. Sabine H. wurde jedes Jahr wieder schwanger.
Abtreibungen kamen für sie nicht in Frage. „Dann hätte der Frauenarzt sicher meine früheren Schwangerschaften festgestellt. Das wollte ich nicht“, erklärte Sabine H. Sie flüchtete sich in den Alkohol, um nicht nachdenken zu müssen. Sie versuchte die Taten zu verdrängen. „Ich wollte einfach meine drei großen Kinder nicht verlieren und erzählte meinem Mann nichts von den Schwangerschaften. Ich hatte auch ein schlechtes Gewissen.“ Das Vergraben der Leichname wurde schon zur Gewohnheit. Allerdings wusste sie am Ende gar nicht mehr, in welchen Blumenkübeln und Eimern sie die sterblichen Überreste versteckt hatte. Sie bat ihre Familie nur, die einzelnen Behälter nicht wegzuwerfen – „wegen der Blumenzwiebeln“. Erst als sich ihr Ehemann 1998 von ihr trennte und mit den drei Kindern auszog, endete der Kreislauf aus Geburt und Tod.
Sabine H. begann eine neue Beziehung und wurde erneut schwanger. „Das war die glücklichste Schwangerschaft“, sagte sie später. Die dreijährige Tochter lebt inzwischen bei Pflegeltern. Ihr Ex-Ehemann Oliver berief sich vor Gericht auf sein Zeugnisverweigerungsrecht als damals enger Verwandter der Angeklagten. Nicht einmal dem Verlesen seiner polizeilichen und gerichtlichen Vernehmungen gab der ehemalige Angehörige des Stasi-Wachregiments seine Zustimmung.
Sabine und Oliver H. lieferten sich im Gerichtssaal einen viel sagenden Blickkontakt. Es hat den Anschein, als hätten sich beide darauf verständigt, den anderen nicht zu belasten. Auch gegen den arbeitslosen Ex-Ehemann waren anfänglich wegen des Verdachts der Beihilfe zum Totschlag ermittelt worden, die jedoch schnell eingestellt wurden. Anwalt Matthias Schöneburg sieht berechtigte Chancen, für seine Mandantin ein mildes Urteil durchzusetzen. „Zunächst gilt wie überall die Unschuldsvermutung“, sagte er dem Tagesspiegel. „Die Staatsanwaltschaft muss in allen acht Fällen den Totschlag nachweisen. Noch steht aber gar nicht fest, ob die Babys nach der Geburt überhaupt gelebt haben. Es dürfte der Staatsanwaltschaft nicht leicht fallen.“ Die Angeklagte Sabine H. verlor am Ende des ersten Prozesstages ihre versteinerte Miene. Sie lächelte sogar. Vor dem Gerichtsgebäude brannten neun Kerzen – für die toten Babys.
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