Geschichte: Sein Herz blieb in Afrika
David Livingstone durchquerte als erster Europäer das südliche Afrika – im 19. Jahrhundert ein unfassbares Abenteuer. Er rang mit einem Löwen, seine Frau starb an Malaria. Und jahrelang suchte er die Quellen des Nils. Eine Würdigung zum 200. Geburtstag des Forschers.
Die Umstände waren denkbar ungünstig. Heutzutage hieße es wohl: Der kleine David, ein Arbeiterkind von vielen im schottischen Blantyre, gehörte einer bildungsfernen Schicht an. Schon mit zehn Jahren musste er lange Stunden in einer Baumwollspinnerei malochen. Seine Familie kam mehr schlecht als recht über die Runden – was der Vater als Teehändler nach Hause brachte, reichte für die sieben Kinder nicht zum Überleben.
Man könnte annehmen, dass David damals, in jenen entbehrungsreichen Tagen der 1820er Jahre, froh war, wenn er abends im Bett lag. Doch in dem Jungen, der sich selbst als schmal und schmächtig bezeichnete, züngelten Flämmchen namens Hartnäckigkeit und Wissensdurst, die sich von den widrigen Umständen nicht ersticken ließen. Im Gegenteil: Sie sollte sich schon bald zu einem Flächenbrand ausweiten. Was Alexander von Humboldt für Südamerika war, war David Livingstone für das südliche Afrika.
Es fing damit an, dass David einen Teil seines Einkommens abzweigte und sich ein Latein-Lehrbuch kaufte. Später ging er zur Abendschule, die sein Arbeitgeber eingerichtet hatte. Die Mutter, so schreibt Livingstone-Kenner Heinrich Pleticha, habe ihm häufig gegen Mitternacht die Bücher gewaltsam entreißen müssen. Um sechs sollte der Teenager schließlich wieder ausgeschlafen in der Spinnerei stehen.
David las alles, was er in die Finger bekam, vor allem Reiseliteratur und Erdkunde. Nur mit den zeitgenössischen religiösen Erbauungswerken hatte er es nicht so – sehr zum Missfallen der Eltern. Selbst der Rohrstock konnte ihm die Gottesfurcht nicht einprügeln.
Trotz seiner eher kritischen Haltung der Kirche gegenüber beschloss Livingstone im Alter von 19 Jahren, den Reisen im Kopf echte Abenteuer folgen zu lassen und als Missionar nach China zu gehen. Der kirchliche Etat für die Bekehrung von Heiden schien schier unerschöpflich, und so würde sein eigentliches Interesse – die ziemlich unchristliche Geografie – bestimmt nicht weiter auffallen, glaubte Livingstone.
Pragmatisch, wie er nun einmal war, hielt er es für angebracht, vor der Reise ins Ungewisse sicherheitshalber Medizin zu studieren. Er schloss mit einer Arbeit über das Hörrohr ab, noch heute benutzen Ärzte das „Livingstone-Stethoskop“.
Livingstone war schon auf dem Sprung, hatte eine Londoner Missionsgesellschaft für seine Zwecke gewonnen, da machte ihm der Erste Opiumkrieg einen Strich durch die Rechnung. Großbritannien hatte nun andere Interessen in China als die Verbreitung der Heiligen Schrift.
Als alternatives Reiseziel bot sich Südafrika an. Livingstone hatte den Missionar Robert Moffat kennengelernt, einen echten Experten des Landes. Moffat hatte 1830 in Kuruman am südlichen Rand der Kalahari eine Missionsstation aufgebaut. 1840, mit 27 Jahren, bestieg Livingstone dann endlich und zu allem entschlossen ein Schiff ans Kap. Vielleicht hat er ja geahnt, dass sein Leben von nun an auf schicksalhafte Weise mit dem Kontinent verwoben sein würde. Noch an Bord ließ er sich vom Kapitän erklären, wie man mit einem Sextanten navigiert.
In und um Kuruman verbrachte er die erste Zeit mit dem Erlernen der einheimischen Sprachen und dem Werben um eine Partnerin. Beide Projekte verliefen erfolgreich: Livingstone verstand zum Erstaunen der Menschen vor Ort bald die wichtigsten Mundarten – und ehelichte Moffats Tochter Mary. In ihr hatte er, jedenfalls für gewisse Zeit, eine Verbündete gefunden. Von nun an reisten die beiden gemeinsam, zunächst zogen sie weiter nach Kolobeng, das knapp 200 Kilometer nordwestlich von Pretoria liegt. Mary sollte vier gesunde Kinder an vier verschiedenen Orten zur Welt bringen. Da es an Kochfleisch mangelte, ernährte sie die Kinder mit Raupen und Fröschen. Livingstone schrieb darüber in sein Tagebuch: „Ein anderes Nahrungsmittel, welches unsere Kinder mit Begierde verzehrten, war ein großer Frosch, der bei den Eingeborenen Matlametlo hieß. Diese gewaltigen Frösche, welche in gekochtem Zustand wie junge Hühner aussehen, fallen nach der Ansicht der Eingeborenen aus Gewitterwolken herab, weil nach einem schweren Gewitterregen die Tümpel, welche mit Wasser gefüllt sind, plötzlich von diesen laut quakenden streitsüchtigen Tieren wimmeln.“
Seine erste gefährliche Konfrontation mit der Wildnis, ein Gerangel mit einem ausgewachsenen, angeschossenen Löwen, überlebte Livingstone nur um Haaresbreite. Als Souvenir dieser Feuertaufe blieb sein linker Arm für den Rest seines Lebens unbrauchbar.
Bald lernte Livingstone die englischen Elefantenjäger Oswell und Murray kennen. Die beiden waren interessiert an einer Expedition, um so ihr Revier vergrößern zu können. Sie hatten das Geld, Livingstone eine Idee: Von einheimischen Jägern hatte er vom Ngami-See am Nordrand der Kalahari gehört, an dessen Ufer bislang noch nie ein Europäer gestanden hatte. Perfekt. Am 1. Juni 1849 marschierten sie los, mit 80 Ochsen, 20 Pferden und einer Handvoll Führern. Zwei Monate später erreichten sie den See, der südlich des Okawango-Deltas auf dem Gebiet des heutigen Botswana liegt.
Die Einstellung, die Livingstone gegenüber den Einheimischen an den Tag legte, war für das 19. Jahrhundert bemerkenswert positiv. In sein Tagebuch schrieb er: „Die kleinsten Freundschaftsdienste, ein verbindliches Wort und ein höflicher Blick sind nach Ansicht des heiligen Xaver ein nicht zu verschmähender Teil der Waffenrüstung eines Missionars. Auch soll man sich ja bemühen, selbst der Niedrigsten gute Meinung sich zu erwerben, wenn man sie mit Höflichkeit gewinnen kann.“ Und dies wohl nicht nur aus strategischen Gründen, sondern weil es seiner Überzeugung entsprach. Unterjochung und Sklaverei lehnte er ab.
Livingstone reiste noch zwei Mal mit seiner Familie ausgiebig durch die Kalahari. Entsetzt beschrieb er die von Mücken zerstochene Haut seiner Kinder und den Schlaganfall seiner Frau, von dem eine Gesichtslähmung zurückblieb. Dann beschloss er, Frau und Kinder nicht länger gefährden zu wollen, und schiffte sie nach England ein – Neuland für Mary, die in Südafrika geboren war. Seiner Abenteuerlust würden sie fortan nicht mehr im Wege stehen. Mit den nun folgenden, weitaus strapaziöseren Expeditionen sollte Livingstone Geschichte schreiben: Er hatte den Sambesi im Visier, den 2574 Kilometer langen, viertgrößten Fluss Afrikas.
Eignete er sich womöglich als Handelsweg? Das Erstellen von Landkarten erschien Livingstone mittlerweile endgültig wichtiger als das Bekehren von Heiden. Das Innere Afrikas war nach wie vor zum großen Teil von Europäern unentdeckt und galt gemeinhin als undurchdringliches Terrain. In London verfolgte man die Pläne Livingstones voller Interesse: Die Krone ließ ihm sogar ein Dampfschiff schicken.
Am 16. November 1855 stieß er auf riesige Wasserfälle, die von den Einheimischen „Donnernder Rauch“ genannt wurden. 110 Meter stürzte sich der Sambesi auf einer Breite von über einem Kilometer in die Tiefe. Livingstone taufte das Naturschauspiel kurzerhand „Victoriafälle“, so dankbar muss er seiner Königin für ihre Unterstützung gewesen sein. Begeistert schrieb er von den schönsten Fällen, die er je gesehen hatte. Im Frühjahr des folgenden Jahres erreichte er die Ostküste Afrikas bei Quilimane – damit war er der erste Europäer, der von Luanda aus das südliche Afrika komplett durchquert hatte.
1862 bekam Livingstone noch einmal Besuch von seiner Frau Mary. Drei Monate nach ihrer Ankunft starb sie an akuter Malaria.
Noch heute liest man die detailreichen, aber nie langatmigen Aufzeichnungen mit Gewinn. Livingstone schrieb mit großer Begeisterung über seine Begegnungen mit Mensch und Tier, im Vereinigten Königreich machten sie ihn noch zu Lebzeiten zum Star. Schließlich trauten sie in der Heimat ihrem besten Entdecker zu, das große geografische Rätsel der Zeit zu lösen: die Suche nach den Quellen des Nils.
1865. Mit 52 Jahren, einem methusalemischen Alter für den bereits schwer vom Fieber, den vielen Entbehrungen und der unbarmherzigen Sonne gezeichneten Livingstone, machte er sich erneut auf den Weg, diesmal nach Ostafrika. Eigentlich war es ein Wunder, dass er überhaupt noch lebte. Wie viele seiner Begleiter auf der Strecke blieben, hat er nicht gezählt.
Irgendwo an den Ufern des Njassa-Sees erreichte ihn ein Suchtrupp – das Gerücht, er sei getötet worden, hatte sich bis nach England verbreitet. Und Livingstone machte Fehler. Er verirrte sich im Matsch verschiedener Quellflüsse und Seen, geriet in Unruhen und vermutete schließlich im Bangweulusee im Nordosten Sambias den Ursprung des Nils. Ausgezehrt strandete er in Ujiji am Tanganjika-See, der im heutigen Tansania liegt.
Diesmal hörte man sogar in New York monatelang nichts von ihm. James Gordon Bennett, seines Zeichens einer der mächtigsten Zeitungsverleger in den Vereinigten Staaten, witterte eine gute Geschichte. Auch einen geeigneten Reporter hatte er schon im Blick: Henry Morton Stanley. Geld spielte keine Rolle, Bennett war bereit, hohe Spesenrechnungen zu unterschreiben: „Draw a thousand pounds now, and when you have gone through that, draw another thousand, and when that is spent, draw another thousand … and so on; but find Livingstone!“
Das ließ sich Stanley nicht zweimal sagen. Livingstone nicht aufzustöbern, das wusste der junge Reporter, der schon aus Abessinien berichtet hatte, kam nicht infrage. Trotzdem berichtete er erst noch in aller Ausführlichkeit von der Eröffnung des Suezkanals und Ausgrabungen in Jerusalem.
Mit 190 Männern, die meisten von ihnen Träger, stieß er endlich nach Ostafrika vor, wo er seine Zielperson vermutete. Tatsächlich: Am 10. November 1871 erreichte Stanley Ujiji, traf dort auf einen weißen, vorzeitig gealterten Mann und stellte die legendäre Frage: „Dr. Livingstone, I presume?“
Es war das Aufeinandertreffen zweier Männer, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Königin Victoria kommentierte einen späteren Auftritt Stanleys jedenfalls mit den Worten: „Welch ein grässlicher, kleiner Mann!“ Und die einheimischen Afrikaner tauften den aggressiven Weißen mit dem Tropenhelm auf dem Kopf „Bula Matari“ – Mann, der Steine bricht.
Die überraschende Begegnung mit Stanley brachte Livingstone neuen Proviant und neue Mittel. Wieder setzte er seine Ochsenwagen in Bewegung, die Abenteuerlust nahm ein letztes Mal von ihm Besitz. Die Nilquellen finden – er wollte sein Lebenswerk doch unbedingt abschließen.
Stanley reiste eine Zeitlang mit ihm umher und wurde so etwas wie sein Schüler. Bald schon trennte sich der Reporter von ihm, nicht ohne das Versprechen, weiteren Proviant nachzuschicken.
Er erreichte ihn nicht mehr. Der letzte Eintrag in David Livingstones Tagebuch datiert vom 27. April 1873. Er schreibt, wie erschöpft er sei und dass er sich etwas ausruhen wolle. Völlig entkräftet legte er sich in eine Hütte, wo sein Leichnam bald darauf von zweien seiner Diener, Susi und Chuma, gefunden wurde.
Sein Herz entfernten sie und begruben es unter einem Affenbrotbaum. Dann ging Livingstone auf seine letzte große Reise: Susi und Chuma balsamierten den Leichnam ein und transportierten ihn an den Indischen Ozean, von wo aus Livingstones sterbliche Überreste zurück in die Heimat verschifft und an prominentem Ort in der Londoner Westminster Abbey beigesetzt wurden.
Als Entdecker der Nilquellen gilt der Brite John Hanning Speke.
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