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Weltraum-Mediziner Hanns-Christian Gunga im Sonntagsinterview: „Schlimm war’s in Ghana, im Goldbergwerk“

Ein Sturzflug im Airbus, arbeiten 1500 Meter unter der Erde oder im lodernden Feuer: Hanns-Christian Gunga erforscht, was Menschen alles aushalten können.

Hanns-Christian Gunga, 58, ist Deutschlands einziger Professor für Weltraummedizin und extreme Umwelten, aktuell ist er an Forschungsprojekten in der Internationalen Raumstation ISS beteiligt. 2010 bekam er den Life Science Book Award der International Academy of Astronautics. Gunga ist Mitglied im Wehrmedizinischen Beirat des Verteidigungsministeriums. Er lehrt an der Berliner Charité

Herr Gunga, Sie sind Professor für Weltraummedizin, und Ihr Thema ist Überleben unter extremen Bedingungen. Was finden Sie spannender: Wenn es knackig kalt oder brutal heiß ist?

Beides gleich. Bei Hitze kommen wir allerdings relativ schnell zum Ende. Wenn Sie etwa in einem Schutzanzug stecken, produzieren Sie schon bei 25 Grad so viel Wärme, dass Sie nach einer Viertelstunde Arbeit physisch sehr stark abbauen.

Von welcher Branche reden Sie gerade?

Eine Frage an unsere Arbeitsgruppe waren die Bedingungen in den Salzstöcken in der Umgebung von Gorleben, in Tiefen von 700 bis 1000 Metern. Dort können Temperaturen von mehr als 50 Grad herrschen. Wenn in Gorleben eines Tages Fässer mit Atommüll herausgeholt werden sollen, dann müssen Menschen in Schutzanzügen runter. Das sind genau die Grenzbereiche, die mich im Zusammenhang mit Hitze interessieren.

Haben Sie persönliche Erfahrungen mit sehr heißen Umgebungen?

Ich war schon in der Sahara. Doch schlimmer war es eigentlich in einem ghanaischen Goldbergwerk. Man ist 1500 Meter unter der Erde in einem Stollen von nur einem halben Meter Höhe. Die Luftfeuchtigkeit beträgt 100 Prozent, die Temperatur über 40 Grad. Unter diesen Umständen brauchen Sie sieben bis zehn Liter Flüssigkeit pro Tag.

Was macht ein deutscher Professor in einem ghanaischen Goldbergwerk?

Das war für die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit. Es ging darum, wie man den Bergwerksbetrieb so organisiert, dass die Arbeiter überhaupt leistungsfähig bleiben. Zum Beispiel, indem erst einmal eine vernünftige Kantine eingerichtet wird. Wir sind über den Markt in Kumasi gegangen und haben geschaut: Wie viel Cedi kostet eine Papaya, was kostet ein Huhn? Und haben festgestellt, die kriegen für ihren Lohn gar nicht genug Nahrung für diese schwere Arbeit.

Sie sehen auffallend sonnengebräunt aus. Kommen Sie gerade aus Afrika?

Ich komme aus Houston, Texas. Wir haben dort ein Versuchsprogramm im Rahmen der deutschen Beteiligung an der Internationalen Raumstation ISS. Es geht um Leistungsmessung.

Sie meinen, was Menschen im Weltraum zu leisten imstande sind?

Uns interessiert, wie die Körperkerntemperatur im Verlauf einer Belastung ansteigt. Und damit einher geht ein Nachlassen der Leistungs- und der Konzentrationsfähigkeit. Das Entscheidende ist: Unter Schwerelosigkeit haben Sie andere physikalische Bedingungen des Wärmeaustausches. Wir wissen jetzt, dass Astronauten nach einer körperlichen Belastung ungefähr dreimal so lange wie auf der Erde brauchen, um wieder abzukühlen.

Entschuldigen Sie, das ist doch eine sehr überschaubare Gruppe, für die das wichtig ist.

Die Leistungsparameter müssen Sie auch auf der Erde berücksichtigen. Es war immer unser Ziel, den Wärmesensor, den wir für Astronauten entwickelt haben, etwa auch in ein Helmsystem von Feuerwehrleuten zu integrieren, um sie zu überwachen und warnen zu können: Pass auf, Herzfrequenz ist zu hoch, Temperatur ist zu hoch, du kommst an deine Grenze und hast vielleicht noch fünf Minuten, bevor du kollabierst.

Kann man sich an extreme Bedingungen anpassen?

Ja, bei Hitze ist das möglich. Bei einem Normalbürger rechnet man mit acht bis zwölf Tagen, bis die Schweißmenge, die er produziert, angepasst ist.

Spielt die Psychologie auch eine Rolle, wenn wir mit extremen Bedingungen fertig werden müssen?

Sie ist entscheidend. Nehmen wir das Thema „Überleben auf See“. Die Leute sitzen in ihrem Rettungsboot, und noch gibt es keinen akuten Mangel, keine physiologisch lebensbedrohliche Situation. Trotzdem stirbt da einer, weil er sein Leben aufgibt. Und wir müssen uns fragen, warum tut der das, während andere noch kämpfen?

Der Optimist ist im Vorteil.

Zunächst ist derjenige im Vorteil, der aktiv wird, die Situation angeht. Das ist jedoch nur in einer akuten Phase sinnvoll. Wenn ich mehrere Wochen eingeschlossen bin, wie die Bergarbeiter 2010 in Chile, muss ich zunächst jemanden haben, der sagt: Wir sammeln uns jetzt in diesem Stollen. Nach ein, zwei Tagen sehen alle, weiter geht es nicht – dann brauchen die eine andere Psychologie, weg von dem egozentrischen Typ, der am Anfang wichtig ist. Dann braucht es Einfühlungsvermögen, der Zusammenhalt ist wichtig. Am besten ist eine Gruppe, in der es alle diese verschiedenen Typen gibt. Wirklich gefährlich wird es, wenn die Gruppe auseinanderbricht.

Bei Studien wie dem Mars-500-Projekt, wo in Russland eine Gruppe über 500 Tage isoliert wurde, um eine Marsmission zu simulieren, wird da auch einer reingesetzt, der für die Empathie zuständig ist?

Ja, und am liebsten hat man eine Frau dabei für diese Empathierolle. Es hat sich gezeigt, dass Frauen für die Gruppendynamik förderlich sind.

Bei Mars 500 war keine Frau dabei.

Mars 500 steht für eine ganze Reihe von Isolationsexperimenten seit 1990. Und das waren immer unterschiedliche Gruppen. Nur sechs Männer am Anfang, dann drei Männer und eine Frau, dann drei Männer, dann zehn Männer und eine Frau. Da traten dann auch solche Probleme auf, dass man die Isolation vorzeitig beenden musste.

Es wurde um die Wette gebalzt?

Es gab Imponiergehabe, Eifersüchteleien, schließlich brach Gewalt untereinander aus. Das Experiment musste unterbrochen werden.

Gibt es eine Konstellation, die sich als besonders erfolgversprechend herauskristallisiert hat?

Die Psychologen sagen, vom Ablauf her klarer zu beurteilen sind rein männliche Gruppen. Wenn Frauen dazukommen, wird die Leistungsfähigkeit der Gruppe gesteigert, dafür kommt ein Gefahrenmoment hinein, das man bisher noch nicht so beherrscht.

Sie haben einmal gesagt, Humor sei wichtig in Grenzsituationen.

Da fällt mir ein Beispiel aus der Zeit der großen Antarktisexpeditionen vor 100 Jahren ein. Ernest Shackleton hat sehr großen Wert darauf gelegt, dass der Einzelne viel Humor hat. In seinen Originalaufzeichnungen finden wir Kommentare wie „It’s becoming interesting to see that we don’t have enough food.“ Das ist sehr euphemistisch angesichts der Gefahr zu verhungern.

Humor hilft, den Moment hinauszuzögern, an dem der Mensch sich aufgibt.

Richtig. Normalerweise werden Herzfrequenz und Atmung vegetativ gesteuert. Offensichtlich gibt es eine Fähigkeit des autonomen Nervensystems, sich von einem Moment zum nächsten aufzugeben. Daran sehen Sie, wie stark Psyche und Organismus miteinander korrespondieren.

Seit einiger Zeit wird darüber diskutiert, Menschen in Grenzsituationen mit Psychodrogen leistungsfähiger zu machen.

Im militärischen Bereich wird das schon lange gemacht. Solche Enhancer sind aber schwer zu kontrollieren. Wann weiß ich, dass dieser Pilot auszuwechseln ist? Das kann ich für eine Akutsituation machen, um an körpereigene Reserven heranzukommen. Es hat jedoch seinen evolutionären Grund, dass diese Reserven geschützt sind.

Herr Gunga, bevor Sie Mediziner wurden, waren Sie Geologe und Paläontologe, haben sich mit Dinosauriern beschäftigt. Können Sie uns drei Dinge aus Ihrem vielseitigen Forscherleben nennen, die Sie besonders verblüfft haben?

Die Shackleton-Expedition, wie der vor 100 Jahren versucht hat, die Antarktis über den Südpol zu durchqueren, das hat mich früher sehr beeindruckt. Ich meine, wie Ernest Shackleton dieses Unternehmen geführt hat…

… er ist dramatisch gescheitert!

Dafür hat er, wenn man von ein paar erfrorenen Zehen absieht, all seine Leute heil wieder rausgebracht. Und der Wagemut, sich in eine Nussschale zu setzen, über den Südatlantik zu kurven und genau auf einer Insel zu landen, die nur ein paar Quadratkilometer groß ist, das ist schon etwas sehr Besonderes. Dann natürlich die ganze Mondfahrt. Ich war selbst noch Schüler, als die Bilder von dort oben kamen, das bleibt nicht ohne Wirkung. Aber je älter ich geworden bin, desto mehr achte ich die alltäglichen extremen Bedingungen.

Nämlich?

Wenn heute eine Frau, berufstätig, ohne Partner, mit drei Kindern vor einer geschlossenen Kita steht, der Wagen springt nicht an, sie muss trotzdem zur Arbeit, sonst fliegt sie raus, das ist eine Situation, die müssen Sie erst einmal bewältigen und dabei nicht durchdrehen. Die ist kaum mit einem vergleichbar, der glaubt, er müsse aus 30 oder 40 Kilometer Höhe springen.

Sie meinen den Fallschirmsprung des Felix Baumgartner im vergangenen Jahr.

Ein Quatsch. Die Frage des Gasdrucks, wie die Beatmung sein muss, was für einen Anzug der haben muss, kennt man alles. Okay, der durchbricht als Erster die Schallmauer, er hat überlebt, nur sehe ich nichts, was wissenschaftlich neu wäre.

Wenden sich eigentlich oft Leute an Sie, die irgendetwas Spektakuläres vorhaben und sich beraten lassen wollen?

Ich kriege wöchentlich Anfragen, da will jemand durch die Antarktis oder zu Fuß über das grönländische Inlandeis und braucht noch eine Reiseapotheke. Oder irgendeine Rechtfertigung für sein Unternehmen, irgendetwas Wissenschaftliches. Je mehr ich damit zu tun habe, desto mehr respektiere ich extreme Bedingungen im Alltag.

Bedauern Sie es, dass Sie selbst nie in ein Raumschiff steigen werden?

Also die Parabelflüge, die ich absolviert habe, gaben mir ein Gefühl dafür, wie Schwerelosigkeit ist, wenigstens mal für 20 Sekunden. Sicher wäre so ein Raumflug ganz interessant. Allerdings müssten Sie dann Ihr Leben über zehn, 15 Jahre einer Sache widmen, die am Ende ein paar Tage oder vielleicht Wochen dauert. Als Astronaut sind Sie in einem sehr, sehr engen Feld unterwegs, das finde ich nicht so beneidenswert.

Bei einem Parabelflug gehen Sie mit einer Passagiermaschine in den Sturzflug.

Da ist ein leergeräumter, mit Matten ausgekleideter Airbus, der gibt Gas bis auf 5000, 6000 Meter Höhe, dann werden die Triebwerke abgeschaltet und das Ding segelt in einer Art Wurfparabel…

... erst geht es hoch und dann wieder runter. Das ist doch ein Moment, den man als Urlaubsflieger nicht haben will.

Man muss schon an einem der Fenster sitzen, um davon viel mitzukriegen. Das tut aber zumindest beim ersten Mal keiner, weil Sie sich sonst darauf konzentrieren würden, wie Ihnen schlecht wird. Und es wird einer ganzen Reihe von Menschen schlecht bei diesem Manöver, selbst wenn sie wie ich die entsprechenden Tabletten dabei haben.

Aber Ihre Arbeit hat Sie nicht in die Weiten des Weltalls geführt, sondern in ghanaische Bergwerke.

Aktuell machen wir in Chile in einem Tagebergbaubetrieb in den Anden oberhalb von 5500 Metern arbeitsmedizinische Untersuchungen. Da geraten Sie in Atemnot und denken schon nach kurzem Aufenthalt, wenn das mit den Kopfschmerzen den ganzen Tag so weitergeht, kann ich das nicht mehr lange machen, dann muss ich ins Tal.

Sind die Minenarbeiter an diese Höhe gewöhnt?

Nur ein verschwindend geringer Prozentsatz kommt aus der Region, die meisten sind von überall aus Südamerika angeworben. Das finde ich im Moment die spektakulärste Frage: wie man eigentlich Minen planen kann für mehrere tausend Leute, die auch schon teilweise in Betrieb sind, und der Faktor Mensch wird fein umgangen.

Und Ihr Auftrag ist es, mit Unterstützung durch das Bundesforschungsministerium eine Expertise zu erstellen, wie lange es da oben auszuhalten ist?

Ich komme aus der Höhenphysiologie. Im Augenblick wird in Chile ein Forschungszentrum gegründet, das sich auch mit dem Faktor Mensch beschäftigt. Weil inzwischen klar ist, man kann nicht Leute auf einen Berg schicken, höher als jeder Gipfel in Europa, sie dort drei Tage Kupfererz und Gold herausbrechen lassen, und nach kurzer Erholungspause im Tal geht es wieder nach oben. Im Augenblick wird das jedoch genau so gemacht.

Wenn man länger auf dieser Höhe bleibt, was droht einem dann?

Erst einmal schlafen Sie bereits auf 3800 Metern nicht mehr, wie Sie sollen. Wenn in der Atemluft nicht genug Sauerstoff ist, fangen sie normalerweise an, tiefer zu atmen. In dieser Höhe nicht, bei vielen Menschen setzt dann im Schlaf die Atmung für zehn, 15 Sekunden aus. Der Schlaf ist dann weniger erholsam. Auf über 5000 Metern haben Sie keine Herzfrequenz von 80 wie sonst, sondern 110 oder 120, und eine kleine Treppe bringt Sie außer Atem. Und einer von hundert kann innerhalb von Stunden ein Höhenlungenödem entwickeln, der muss sofort ins Tal.

Waren Sie nicht schockiert, dass in 5000 Meter Höhe Menschen körperlich schwer arbeiten?

Schockiert, weil es so wenig Wissen darüber gibt, und es trotzdem getan wird, ja. Nur, man muss da vorsichtig sein. Für die Minenarbeiter ist das ihre Lebensgrundlage. Das wird nicht weit führen, wenn Sie denen sagen: Besser, sie lassen das.

Wenn Sie solche Bedingungen sehen wie in Ghana oder in den Anden, hat das Folgen für Ihr eigenes Konsumverhalten?

Man wird aufmerksamer, in der Tat. Aber ich definiere meine Rolle im Moment so, dass ich dem Individuum helfen kann. Wenn ich den Bergmann unterstütze, das halbwegs gesund zu überstehen, ist das für mich ein wichtiger Punkt. Darum muss ich mich als Arzt zuerst kümmern.

Und diese Arbeit wird für Ihre Disziplin in Zukunft wichtiger sein als der Weltraum?

Ich würde sagen, jetzt wird deutlich, dass Weltraummedizin etwas Irdisches ist. Es geht darum, gesunde Leute unter schwierigen Bedingungen gesund zu erhalten. Das ist ultimative Prävention. Was die Zukunft betrifft: Deutschlands Wohlstand beruht auf hoch technologisierten Arbeitsplätzen. Die Maschinen, die in den Anden eingesetzt werden, kommen von hier. Und es geht natürlich auch darum, Kontakte mit Ländern zu halten, die Rohstoffe besitzen, die Deutschland nicht hat.

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