Interview: "Positives Denken macht uns alle dumm"
Arbeitslosigkeit und Krankheit als Chance? Unsinn, sagt Barbara Ehrenreich. Warum das Predigen von guter Laune ein hochprofitables Geschäft wurde.
Frau Ehrenreich, Barack Obama hat mit dem Slogan „Yes we can“ Wahlkampf gemacht. Sie müssen das gehasst haben, oder?
Nein. Ich fand das großartig!
Wie bitte? Sie lehnen doch penetranten Optimismus ab, wie Sie in Ihrem Buch sehr genau erklären. Es hat den Titel „Smile or Die. Wie die Ideologie des positiven Denkens die Welt verdummt“.
Es gibt einen großen Unterschied zwischen Obamas „Yes we can“ und dem traditionell-amerikanischen „Yes I can“. Obamas Slogan kommt aus der Gewerkschaftsbewegung, den habe ich schon vor 30 Jahren gesungen: Wir alle haben die Kraft, etwas zu verändern, wenn wir zusammenstehen. „Yes I can“ ist dagegen individualistisch: Ich brauche niemanden, um etwas zu ändern, ich kann das selbst – allein durch meine Willenskraft. Obama ist auf eine ganz andere Art optimistisch als es zum Beispiel George W. Bush war.
Inwiefern denn?
Bush konnte keine Zweifler oder Bedenkenträger in seiner Nähe ertragen. Condoleezza Rice traute sich nicht, kritische Bemerkungen zum Irakkrieg zu machen, wie sie in einem Interview gestanden hat. Denn der Präsident verabscheute Pessimisten zutiefst! Es ist kein Zufall, dass Bush im College Cheerleader war.
Obama ist inzwischen von vielen seiner Plänen abgerückt. Klingt das „Yes we can“ jetzt hohl für Sie?
Es scheint, als ob wir von der „Yes we can“-Nation zur „We can’t do“-Nation geworden sind. Nichts gelingt mehr, angefangen vom Krieg in Afghanistan über unsere Unfähigkeit, neue Jobs zu schaffen, bis hin zur Gesundheitsreform, von der nicht viel übrig geblieben ist. Dann kam noch die Ölkatastrophe im Golf.
Das alles wird doch dem Optimismus der Amerikaner nichts anhaben können, oder? Schließlich gilt Amerika als Land, in dem man alles erreichen kann.
Der Optimismus ist zwar angekratzt, aber längst nicht gebrochen.
Wenn die Zinksärge aus Afghanistan zurückkommen, hilft wohl auch positives Denken nicht mehr.
Sie machen sich ja keinen Begriff: Das Pentagon hat gerade den Erfinder der positiven Psychologie mit viel Geld ausgestattet, damit er Optimismus unter den Soldaten verbreitet. Diese Psychologen konzentrieren sich nicht mehr auf die seelischen Probleme der Menschen, sondern darauf, wie man noch glücklicher und reicher werden kann.
Glücklich und reich sein zu wollen – was soll an diesen wesentlichen Teilen des amerikanischen Traums eigentlich so schlimm sein?
Nichts. Optimismus ist ja auch per se nichts Schlechtes – aber er sollte auf Fakten beruhen und natürlich auf der realistischen Analyse der Umstände. Ich wende mich gegen den grundlosen Optimismus, der oft zwanghafte Züge annimmt. Und dagegen, dass den Leuten eingeredet wird, sie könnten alles erreichen, wenn sie nur fest genug daran glauben und sich die Welt schönreden.
Sie als Amerikanerin wurden doch auch sicher so erzogen, in allem das Gute sehen?
Meine Mutter ist bei ihrer Großmutter aufgewachsen, weil ihre Eltern so arm waren. Da gab es nicht viel zum Schönreden. Außerdem steckte meiner Großmutter der Calvinismus noch sehr in den Knochen: Arbeiten war das Wichtigste im Leben. Sich auszuruhen war suspekt. Der Lieblingsspruch meiner Mutter war: „Wenn es dir dreckig geht und du ganz unten bist, putz den Boden.“
Sie finden, dass das positive Denken eine Reaktion auf den freudlosen Calvinismus war.
Der Calvinismus mit seiner ewigen Suche nach Sünde und der Perspektive, in der Hölle zu schmoren, hat viele Leute richtig depressiv gemacht. Im 19. Jahrhundert kamen Pfarrer dann auf die revolutionäre Idee, dass Gott gar nicht der Rächer ist, sondern die Menschen liebt, dass er will, dass es ihnen gut geht.
Das muss eine Erleichterung gewesen sein.
Sicher. Aber leider haben die neuen Optimisten von den Calvinisten das Zwanghafte übernommen: Wie die Calvinisten arbeiten auch sie ständig an sich selbst. Wo die einen nach der Sünde suchten, beobachten die anderen, ob sich nicht doch irgendwo ein schlechtes Gefühl verbirgt, das es zu eliminieren gilt. Im 20. Jahrhundert wurde das positive Denken dann auch mit finanziellem Erfolg verknüpft: Wer optimistisch in die Zukunft schaut, wird reich.
Wann ging Ihnen das positive Denken zum ersten Mal auf die Nerven?
In den USA ist das so gegenwärtig, dass es mir lange Zeit gar nicht aufgefallen ist. Dann, vor zehn Jahren, wurde bei mir Brustkrebs diagnostiziert. Mir ging es beschissen. Doch ich wurde ständig aufgefordert, die Krankheit positiv zu sehen. Das hat mich schockiert. Wo ich auch hinschaute, überall stieß ich auf diese rosa Schleifen.
Sie meinen die Kampagne zur Brustkrebs-Früherkennung?
Sie finden kaum ein Produkt in den USA, das nicht mit einem rosa Sticker, Bändchen oder Aufkleber der Brustkrebs-Gesellschaft markiert ist. Eine ganze Industrie ist das: Es gibt Bücher, Internetseiten, Foren, Vereine, die dir alle predigen: Nimm deine Krankheit als eine Art Geschenk an! Du lernst das Leben wertzuschätzen, du entdeckst dein wahres Ich. Das ist doch Wahnsinn!
Vielleicht missverstehen Sie die Kampagne. Macht es den Umgang mit der Krankheit nicht tatsächlich einfacher, wenn man sie akzeptiert?
Ich war einfach nur sauer und wollte wissen, warum ausgerechnet ich Krebs bekommen habe. Warum wird so wenig Ursachenforschung betrieben? Und gibt es wirklich keine Alternative zur Chemotherapie mit ihren Nebenwirkungen? Anstatt mir einzureden, ich sollte mich freuen, sollten Mediziner besser das mal herausfinden.
Sie fühlten sich einsam?
Ja. Auch viele Freunde kamen mir mit solchen Sprüchen: Hey, du verlierst deine Haare? Wie aufregend! Du hast so eine schöne Kopfform, jetzt sieht man die endlich mal.
Was wäre Ihnen lieber gewesen?
Wenn Sie einfach den Mund gehalten und mir zugehört hätten. Wir sind immer schnell dabei, den Leuten zu sagen, wie sie sich fühlen sollen. Nur: Mit so einer Diagnose klarzukommen, braucht Zeit. Das Schlimmste ist, dass einem auch noch gesagt wird, wenn du dich hängen lässt, hast du schlechtere Überlebenschancen. Wenn es dir also nicht besser geht, dann fehlt dir eben die positive Einstellung. Dabei gibt es überhaupt erst seit zwei, drei Jahren Untersuchungen zum Verhältnis zwischen Psyche und Heilung. Sie zeigen, dass die Einstellung überhaupt keinen Einfluss auf die Krankheit hat.
Wollen Sie damit sagen, dass psychosomatische Erkrankungen bloß Einbildung sind?
Nein, die gibt es natürlich. Ich habe zum Beispiel oft Rückenschmerzen. Wenn ich darüber jammere, wird es schlimmer. Am besten, ich ignoriere die Schmerzen. Natürlich gibt es auch negative Gedankenspiralen, die zu Depressionen führen. Aber das ist eben etwas grundsätzlich anderes als eine Krebserkrankung.
Wenn Leute ihre Arbeit verlieren, rät man ihnen auch in Deutschland heute oft, darin eine Chance zu sehen. Man könne neu anfangen oder sich einen noch besseren Job suchen.
Ich habe mich mal ein paar Monate als arbeitslose Akademikerin getarnt und am eigenen Leib erfahren, was das für eine Chance ist. Sehr deprimierend. In den USA verliert man seine Krankenversicherung und ist schnell ein Niemand ohne Arbeit. In den Selbsthilfegruppen dozieren dann Motivationsgurus über Selbstbewusstsein, dass alles von der Einstellung abhängt und man mutiger sein soll. Es wird so getan, als seien die Leute selbst schuld an ihrer Entlassung.
Hat das Coaching geholfen?
Nein. Es ist nämlich so: Auch wenn ich mich noch so jung und gut fühle, sieht jeder gleich, dass ich nicht in dem Alter bin, das für Arbeitgeber interessant ist. Ich habe auch gemerkt, wie anstrengend es ist, wenn man den ganzen Tag so tun muss, als sei man gut drauf. Das ist ein richtiger Übergriff auf die Seele. Das Gefühl kennen nicht nur Arbeitslose, sondern auch viele Angestellte.
Die müssen dann den ganzen Tag so tun, als sei alles großartig?
In vielen Firmen gibt es mittlerweile diesen Zwang. Wer nicht neun Stunden am Tag zeigt, dass ihm alles wahnsinnig viel Spaß macht, sondern vielleicht sogar Kritik äußert, der riskiert, gefeuert zu werden.
Als investigative Journalistin haben Sie undercover als Putzfrau und Kellnerin gearbeitet. Gibt es auch im Niedriglohnsektor den Druck, ständig gut gelaunt zu sein?
Nicht so sehr. Da muss die Arbeit gemacht werden, egal wie man sich fühlt. Da habe ich andere furchtbare Erfahrungen gemacht. Wie man sich selbst mit zwei und drei Jobs nicht über Wasser halten kann, zum Beispiel. Aber ich musste wenigstens nicht immer lächeln dabei.
Das positive Denken wurde zum ersten Mal in den 50er Jahren bewusst von Firmen eingesetzt – als Verkaufsstrategie für Vertreter.
Während der ersten Rezession in den 80er Jahren hat sich dieses Denken dann in der Unternehmenskultur immer weiter ausgebreitet. Auf einmal konnten die Manager ihre Angestellten nicht mehr mit der Jobsicherheit und Gehaltserhöhungen motivieren. Also wurden Motivationsgurus ins Haus geholt, Poster aufgehängt und Kaffeetassen mit Sprüchen bedruckt, die anspornen sollten.
Da stand dann etwas wie: „Die Tasse ist halb voll und nicht halb leer“?
Eine Einzelhandelskette wirbt gerade auf Tassen, T-Shirts und bedruckten Autoreifen: „Das Leben ist schön“ steht da. Was für ein Argument ist das denn? Das heißt ja wohl: Finde dich gefälligst ab mit der Welt, so wie sie ist.
Zugegeben, das ist eine simple Botschaft. Aber sind Sie nicht auch ein bisschen streng? Warum ärgert Sie das positive Denken so?
Weil es die Leute dumm macht und sie davon abhält, sich zu wehren. Den Leuten wird eingeredet: Es könnte dir besser gehen, wenn du anders an die Dinge herangehen würdest. Armut wird so zu einem persönlichen Willensakt. Da braucht man sich keine Gedanken mehr über die politischen Ursachen zu machen.
Das positive Denken in Amerika wirkt so ähnlich wie der Hinduismus in Indien?
In gewisser Weise, ja. Den Leuten wird zwar eingeredet, sie könnten alles durch ihren Willen erreichen, letztlich fixiert es aber den sozialen Status. Ein absurdes Beispiel ist Joe, der Klempner. Ein einfacher Handwerker, der im vergangenen Wahlkampf immer wieder auftauchte und sich aufregte, dass Obama angeblich die Steuern für Reiche erhöhen wolle. Diese Steuererhöhung hätte ihn überhaupt nicht betroffen. Aber er ging davon aus, dass er irgendwann so reich sein wird, dass ihn das betrifft. Da wollte er schon mal vorsorgen – anstatt gegen die reale Ungleichbehandlung zu kämpfen.
Allzu großer Optimismus ruiniert auch die Wirtschaft, schreiben Sie. Ist es nicht eher so, dass gute Laune den Konsum beflügelt?
Wenn Kritiker oder die Überbringer von schlechten Nachrichten in Firmen riskieren, entlassen zu werden, dringen kaum noch ernsthafte Warnungen bis ganz nach oben durch. Mir haben Manager erzählt, ihre wichtigste Aufgabe sei gewesen, den Boss bei Laune zu halten. Die Wirtschaftslenker leben deshalb in einer zunehmend abgeschotteten Welt und halten sich am Ende selbst für Gurus.
Ein Beispiel?
Joe Gregory, der frühere Präsident von Lehman Brothers. Den nannten seine Mitarbeiter „Mr. Instinct“, weil er sich damit rühmte, Entscheidungen nach seinem Instinkt zu treffen – und nicht nach der rationalen Analyse der Wirtschaftslage. Wenn es nur noch um Gefühle geht, wundert es einen kaum, dass Anzeichen für die Krise übersehen wurden.
Mit dem positiven Denken wird auch eine Menge Geld verdient.
Es gibt Schätzungen, wonach auf dem amerikanischen Coaching-Markt im Jahr 2005 bis zu 21 Milliarden Dollar Umsatz gemacht wurde. Auch die Prediger der evangelikalen Mega-Churches gehören dazu. Joyce Meyer zum Beispiel gibt gerne mit ihrem Privatjet und ihrer 23 000-Dollar-Toilette aus Marmor an.
Hat das noch was mit christlichen Werten zu tun?
Für Joyce Meyer ja. Sie predigt nämlich jede Woche vor 40 000 Leuten: Gott will, dass alle in Villen wohnen und dicke Autos fahren. Sie ist das leuchtende Vorbild. Aber in diesen evangelikalen Kirchen erinnert eigentlich nichts mehr an das Christentum, so wie man es kannte: Kein Altar, keine Bilder mit dem Lebensweg Christi, keine Kruzifixe. Das wäre ja viel zu depressiv. Die Leute werden auch nicht mehr zum Beten angehalten, es reicht, die Einstellung zu ändern, mit dem Zweifeln aufzuhören und an sich selbst zu glauben. Eigentlich ein total säkularer Ansatz.
Haben Sie selbst schon mal ausprobiert, ob das klappt?
Vor ein paar Jahren, als ich schon an dem Buch arbeitete, wurde meine Brieftasche gestohlen. Es war an einem Sonntag in London. Ich hatte großen Hunger, ich war umgeben von Hotels und Restaurants, wo man nur bar bezahlen konnte. Also habe ich genau das getan, was die immer predigen: Ich habe mir vorgestellt, dass mein Geldbeutel in der Tasche ist, wenn ich sie jetzt öffne, ich habe mich total darauf konzentriert.
Und?
Er war nicht drin.
Der Schriftsteller Milan Kundera lässt in einem Roman eine Figur sagen: „Optimismus ist das Opium des Volkes.“
Für die Amerikaner trifft das zu.
Dann hilft nur eines, Frau Ehrenreich: Kommen Sie nach Berlin! Die Berliner sind weltbekannt für ihre schlechte Laune.
Oh nein, vielen Dank, das würde ich auch nicht ertragen. Ich selbst bin ja auch nicht frei von Zwängen. Ich kann an keinem Kinderwagen vorbeigehen, ohne das Baby zum Lachen zu bringen. Aber viele meiner Landsleute lachen eben gar nicht wirklich, sondern verziehen ihr Gesicht zu einem gezwungenen Grinsen.