Sechzig Jahre Eurovision Song Contest: Nur die Liebe lässt uns leiden
Vor sechzig Jahren begann die Geschichte des Eurovision Song Contest. Damals gewann die Schweizerin Lys Assia. Die Deutschen hatten lange ein gestörtes Verhältnis zum Sängerwettstreit. Dann triumphierten sie mit Nicole und Lena Meyer-Landrut. Die Chancen für Ann Sophie am Samstag in Wien? Eher gering.
Wer hat Europa oder den – wie man früher sagte – europäischen Gedanken am meisten befördert? Konrad Adenauer, Charles de Gaulle oder Helmut Kohl? Wer sich für solche hehren politischen Gedankenspiele wenig interessiert und seine Geografiekenntnisse vor allem durch „Stadt-Land-Fluss“-Spiele geschärft hat, der fühlt zumindest einmal im Jahr den Traum vom zusammenwachsenden Europa pulsieren. Immer dann, wenn der – inzwischen zum Eurovision Song Contest anglisierte – Grand Prix Eurovision de la Chanson zum Sangeswettstreit aufruft.
Am 24. Mai 1956 im Kursaal von Lugano war Premiere; ganze sieben Nationen nahmen teil, und die Schweizerin Lys Assia siegte, nein, nicht mit „O mein Papa“, sondern mit dem längst vergessenen „Refrain“. So schön es war und ist, Europa an einem Abend zusammenzuführen und selbst Griechenland nicht auszugrenzen, so wenig hat der ESC in seiner Geschichte dazu beigetragen, ernsthafte politische Diskussionen auszulösen. Ja, gewiss, die Siege von Dana International oder Conchita Wurst verursachten in Ländern mit unterentwickelter sexueller Toleranz – vorhersehbare – Empörungswellen, und in letzter Zeit gehört es zum Bewusstsein politischer Korrektheit, Russlands Beiträge nur mit verhaltenem Applaus aufzunehmen.
Einmal verzichtete eine Sendeanstalt, die RAI in Italien, sogar darauf, das Finale live zu übertragen. Das wunderbare „Si“ der wunderbaren Sängerin Gigliola Cinquetti (die 1964 mit „Non ho l’èta“ gewann) hätte 1974 als Kommentar zu einer bevorstehenden Abstimmung über das italienische Scheidungsrecht missverstanden werden können.
Nein, der ESC, der sich von einer Nischenveranstaltung für Sängerinnen im Abendkleid und karajenesk auftretende Dirigenten zum Mainstreamact für sich selbst feiernde Menschen entwickelt hat, ist vor allem schillernde Pop- und Trashgeschichte. Natürlich werden Menschen, die mit einem durch Adorno-Lektüre geschulten Ohr an den ESC herangehen, selten auf ihre Kosten kommen. Als künstlich aufgemotztes Schnulzen- und Seichtpopgetöse, bei dem sich vor allem in Casting Shows gezeugte Eintagsfliegen tummeln, wurde und wird er abgetan – was seiner Popularität nicht schadet.
Der Grand Prix hat Weltkarrieren eingeläutet: 1974 mit Abbas historischem „Waterloo“-Triumph für Schweden oder 1988 mit Céline Dions („Ne partez pas moi“) für die Schweiz errungenem hauchdünnen Sieg. Auch Udo Jürgens verdankt dem Wettbewerb viel. Nachdem er 1964 mit „Warum nur, warum?“ auf dem sechsten Platz gelandet war, gelang ihm zwei Jahre später, als seine Karriere stockte, mit „Merci, Chérie“ der Durchbruch für sein Heimatland Österreich – ein Gefühl, das dort erst knapp fünfzig Jahre später dank Conchita Wurst wieder aufkam. Bitter für steirische oder burgenländische Kinder übrigens, die im Interregnum aufwuchsen und Siege Österreichs allenfalls bei Skirennen kennenlernten.
Im Gegenzug dazu gibt es Lebensläufe wie die des Iren Johnny Logan, dessen Strahlkraft – obwohl es ihm als Einzigem gelang, zweimal zu gewinnen (1980 mit „What’s Another Year“, 1987 mit „Hold Me Now“) – kaum über die ESC-Gemeinde hinausreicht. Wo Tränen der Freude, da auch der Tränen des Leids. Mancher Star musste mit Verbitterung hinnehmen, dass Reputation allein nichts nützt: Nana Mouskouri oder Patricia Kaas blieben im Mittelfeld hängen, und Cliff Richard empörte sich darüber, gleich zweimal mit den späteren Hits „Power To All Our Friends“ und „Congratulations“ knapp gescheitert zu sein. Im letzteren Fall, 1968, unterlag er der Spanierin Massiel, deren Lied „La La La La“, wie Erhebungen des statistischen Europa-Amtes in Brüssel ergaben, die titelgebende Silbe 138-mal wiederholt.
Deutschland tat sich anfangs schwer, eine ernsthafte Rolle in Europa zu spielen. Von den Liedern, mit denen man in den ersten Jahren beim ESC antrat, ist kaum eines in Erinnerung geblieben, obwohl man nichts unversucht ließ und anerkannte Künstler ins Rennen schickte: Freddy, Lale Andersen, die Kessler- Zwillinge, Heidi Brühl und Margot Eskens. Genützt hat das wenig. Wieder einmal wollte das Ausland deutsche Wertarbeit nicht anerkennen. Allenfalls Conny Froboess’ Gastarbeiterlied „Zwei kleine Italiener“ bildete 1962 eine Ausnahme und erreichte Platz 6.
Besser wurde es erst, als Willy Brandt Bundeskanzler war und der Muff der Talare auch aus den ESC-Garderoben wich. 1970 bis 1972 kletterte Deutschland dreimal hintereinander auf den dritten Platz – zweimal mit Katja Ebstein („Wunder gibt es immer wieder“) und einmal mit der unvergleichlichen Mary Roos, die Hymnisches zu sagen hatte: „Nur die Liebe lässt uns leben“. Und nicht zu vergessen 1975, als Joy Fleming mit „Ein Lied kann eine Brücke sein“ brillierte – was man in Europa nicht verstand und mit dem drittletzten Platz abstrafte.
Der erste Triumph stellte sich erst 1982 ein, kurz bevor Helmut Kohl Bundeskanzler wurde. Ein junges, blondes, mittelgescheiteltes Mädchen aus dem Saarland mit weißer Gitarre und dem Namen Nicole bewies 1982 mit „Ein bisschen Frieden“, dass Deutschland nun zu den Guten der Weltgeschichte gehörte. Platz 1. Und danach? Viel Elend und Mittelmaß bis 1998, als Stefan Raab den ungeordnet frisierten Sozialpädagogen Guildo Horn aus dem Hut zog und für ihn das menschenfreundliche „Guildo hat euch lieb“ schrieb. Deutschland nahm sich nicht mehr ernst, Deutschland machte Quatsch – unfassbar und doch bloß Platz 7.
Stefan Raab prägte den ESC mehr als ein Jahrzehnt. Er scheute sich nicht, selbst als Sänger mit „Wadde hadde dudde da?“ in die Bütt’ zu steigen, entdeckte Max Mutzke und sollte kurz darauf zum Steigbügelhalter der frisch-frechen Lena Meyer-Landrut werden, die mit „Satellite“ (2011) souverän in Nicoles Fußstapfen trat und vergessen ließ, was wir in den Jahren zuvor mit Gracia, Alex Swings Oscar Sings! und den No Angels gedemütigt worden waren.
Fassen wir in Zeugnisart zusammen: Deutschland hat sich in sechzig Jahren ESC-Geschichte stets bemüht. Bis hin zum Jahr 2015, wenn die eingesprungene Ann Sophie am Samstag in Wien ins Rennen gehen und – die wenig mutige Prognose sei gewagt – mit „Black Smoke“ nicht sehr viele Punkte einfahren wird. Angela Merkels forsche Europa-Politik wird uns eine bessere Platzierung kosten. Kein Problem, wir sind Leid gewohnt.
Der Autor leitet das Literaturhaus Hamburg und veröffentlichte soeben das E-Book „Lieder, die wie Brücken sind. Deutschland und der Eurovision Song Contest“ (Hanser Verlag).
Rainer Moritz[Hamburg]