Nach dem Unglück: Noch ist Polen nicht verloren
Der Schock über den Tod des polnischen Präsidenten sitzt tief, aber das Amt hat an Bedeutung verloren. Seit der Wende wird das politische System immer deutscher und europäischer.
Die Architektur der Hauptstadt zeigt, wo das Herz der polnischen Staatlichkeit schlägt. Es ist der Sitz des Staatspräsidenten, das frühere Statthalterpalais in der Straße Krakowskie Przedmiescie (Krakauer Vorstadt) in Fußentfernung zur Warschauer Altstadt. Und nicht die Kanzlei des Ministerpräsidenten in den Aleje Ujazdowskie, einer sechsspurigen Ausfallstraße im Süden der Stadt. Der Präsident residiert in einem Palast mit Gemälden und Mobiliar im französischen Stil; an der Rückseite schließt sich ein großer, parkähnlicher Garten an, der zum Weichselufer abfällt. Der Premierminister regiert in einem Gebäudekomplex, der eine klassizistische Fassade hat und mit Quertrakten einen ganzen Straßenblock einnimmt. Aber die langen Flure, an denen die Amtszimmer der Ministerialbürokratie liegen, atmen Behördengeist.
In den gut 20 Jahren seit 1989, als die Gewerkschaft Solidarnosc den Sturz des Kommunismus in ganz Osteuropa anführte und das neue demokratische Polen die ersten freien Wahlen in der Region abhielt, hat sich die Machtverteilung zwischen Staatsoberhaupt und Regierungschef in mehreren Verfassungsänderungen immer weiter in Richtung Premierminister verschoben. Sozusagen vom Herzen zu den Händen und Füßen, die das Regierungswerk ausführen. Es ist das Ergebnis der Modernisierung Polens, seiner Europäisierung. Zugleich ist es ein enormer Vertrauensbeweis für das deutsche Vorbild der Kanzlerdemokratie nach zwei Jahrhunderten des Misstrauens gegenüber deutschen Einflüssen mit mehreren Kriegen. Je näher Deutschland und Polen sich seit 1989 kamen und je mehr Polen sich in die EU-Strukturen integrierte – der offizielle Beitritt erfolgte 2004 –, desto mehr ließ es sein traditionelles System hinter sich und passte sich an das parlamentarische Modell der meisten EU-Staaten an: mehr deutsch und weniger französisch.
Bis heute bleibt freilich spürbar, dass die französische und die amerikanische Präsidialdemokratie Pate standen, als Polen sein System erneuerte. Die drei Männer, die seither Präsidenten waren, sind allesamt starke Persönlichkeiten, die dem Land ihren Stempel aufgedrückt haben – was man nicht gleichermaßen von allen 14 Ministerpräsidenten seit 1989 behaupten kann. Lech Walesa, Aleksander Kwasniewski und Lech Kaczynski waren, jeder auf seine Art, ein Staatsoberhaupt. Nur in wenigen Fällen wagten es Regierungschef oder Parlament, den Vorrang des Präsidenten in Frage zu stellen.
Die Macht des Präsidenten liegt nicht allein in seinen Verfassungskompetenzen. Schon die sind beträchtlich und gehen weit über den Handlungsspielraum des Bundespräsidenten hinaus. Der ist auf repräsentative Rollen wie Staatsbesuche und notarielle Aufgaben wie die Ausfertigung von Gesetzen oder die Ernennung und Entlassung von Ministern beschränkt. Polens Präsident ist in Krieg und Frieden Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Er bestimmt mit in der Außen- und Sicherheitspolitik. Keine hohe militärische Personalentscheidung fällt gegen ihn, kein Botschafter wird ohne seine Billigung entsandt. Er hat das letzte Wort über Truppeneinsätze im Ausland. Er kann sein Veto gegen Gesetze einlegen, und nur selten findet das Parlament die Mehrheit, um sein Veto zu überstimmen. Er hat das Recht, Gesetze vorzuschlagen.
Seine wahre Macht liegt aber darin, dass er das nationale Selbstbild und die Perspektive, wie Polen ihr Land und die Welt betrachten, stärker als jeder andere Politiker beeinflussen kann. Das gilt freilich nur, solange er umgekehrt die Stimmung in der Bevölkerung aufnimmt. Je größer der gefühlte Gleichklang, desto größer seine Macht. Wenn die Mehrheit der Bürger das Gefühl verliert, dass der Präsident sich im Einklang mit ihr bewegt, dann sinkt sein Einfluss. Solche Dynamiken haben gegen Ende der Amtszeit Lech Walesas, aber auch unter Lech Kaczynski dazu beigetragen, dass die Kompetenzen des Präsidenten eingeschränkt wurden. Durch Eigenmächtigkeiten und die einseitige Bevorzugung des Lagers, aus dem sie stammten, hatten beide ihre parteiübergreifende Autorität beschädigt.
Aleksander Kwasniewski dagegen, der Ex-Kommunist, der zum Marktliberalen wurde und sein Land aus voller Überzeugung in Nato und EU führte, war ein Meister darin, diesen emotionalen Gleichklang mit der Gesellschaft zu optimieren. Er entwickelte und modernisierte seine Positionen in dem Maß, in dem das Land sich aus seiner Vergangenheit löste und der Zukunft zuwandte – mit einem ziemlich verlässlichen Gespür, wie er der Dynamik so weit voraus war, dass er die Nation führen konnte, aber nicht Gefahr lief, das Volk mit seinen Bauchgefühlen hinter sich zu lassen und zu verlieren. Er hätte gute Aussichten gehabt, ein drittes Mal gewählt zu werden, wenn es in Polen nicht die Begrenzung auf zwei Amtszeiten gäbe. Walesa verlor nach den ersten fünf Jahren die Wiederwahl. Auch Kaczynski hätte bei der regulären Wahl im Herbst geringe Chancen auf eine zweite Amtszeit gehabt.
Im Wandel des Präsidentenamts spiegelt sich Polens Geschichte. Vereinfacht gesagt, war sie lange von vergleichsweise schwachen staatlichen Strukturen geprägt. Das machte starke Führungspersönlichkeiten umso wichtiger. Von 1795 bis 1918 gab es überhaupt keinen polnischen Staat – wohl aber polnische Eliten, die den Glauben an die staatliche Wiedergeburt und den Kampf um sie am Leben hielten. Die Zwischenkriegszeit wurde idealtypisch von einer autoritären Figur geprägt: Jozef Pilsudski, der zuvor als Feldherr in den Kämpfen um die Unabhängigkeit und im Krieg gegen Russland seinen Führungsanspruch gefestigt hatte.
Wenn Polen nun seinen nächsten Präsidenten wählt, wird dessen Schlüsselstellung nicht mehr so stark sein. Infolge der Verfassungsänderungen seit 1989 hat der aktuelle Regierungschef Donald Tusk mehr realpolitische Macht als der Präsident. Im Licht der phasenweise immer wieder tragischen Geschichte Polens ist das eine beglückende Entwicklung – ganz im Sinn des Wortwechsels in Brechts Leben des Galileo Galilei: Unglücklich das Land, das keine Helden hat! – Nein. Unglücklich das Land, das Helden nötig hat!
Polen ist für sein Wohlergehen weniger als früher auf starke Präsidenten angewiesen. Es muss schwache Institutionen nicht mehr durch überstarke oder gar autoritäre Führungspersönlichkeiten ausgleichen. Im Verlauf der jüngsten 20 Jahre hat es die Erfahrung gemacht, dass die demokratischen Strukturen tragen und auch auf die europäischen Strukturen Verlass ist. Selbst nach einem so tiefgreifenden Verlust wie jetzt kann die Nation erst recht Trost in ihrer Hymne finden: Noch ist Polen nicht verloren!