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Quälgeist. Tinnitus bedeutet, ein Geräusch zu hören, für das es keine äußere Quelle gibt. In Verhaltenstherapien können Betroffene lernen, ihre Hörwahrnehmung zu ändern.
© dpa

Tinnitus: Nie mehr Stille

Millionen Deutsche leiden an Tinnitus. Sie hören ein Geräusch, das andere nicht wahrnehmen. Das Phänomen gilt als nicht heilbar. Man kann sich aber im Laufe vieler Jahre daran gewöhnen.

Es begann 1993. Während einer Wanderung in der Märkischen Schweiz erlitt Edgar Wagner einen Hörsturz. Er spürte plötzlich ein wattiges Gefühl im linken Ohr und konnte nichts mehr hören. Das heißt, fast nichts mehr: Ein Pfeifen setzte ein, dass niemand außer ihm vernehmen konnte. Ein Geräusch, das ihn von da an Tag und Nacht begleiten sollte – bis heute. Inzwischen ist der 72-jährige Rentner. Die lange Leidensgeschichte, die er hinter sich hat, steht repräsentativ für viele Betroffene, die mit Tinnitus leben müssen.

„Ich besuchte Hals-Nasen-Ohrenärzte, Orthopäden, Neurologen – keiner konnte mir helfen. Ich fühlte mich auch von keinem ernst genommen“, erzählt Edgar Wagner. Er zog sich in sich selbst zurück, wurde misstrauisch und aggressiv gegenüber seiner Umwelt, auch seiner Frau. Keiner seiner Kollegen und Vorgesetzten in seinem Kabelwerk verstand ihn, sie sagten: „Was ist schon ein Piepsen, du brauchst doch nur wegzuhören.“ Als ob das so einfach gewesen wäre. Er verausgabte sich total, gab 150 Prozent, aus Angst, seine Stelle zu verlieren. Der Ton im Ohr blieb und quälte Edgar Wagner auch nachts. Er arbeitete Schichtdienst und fand zeitweise höchstens noch zehn Stunden Schlaf die Woche. Große Hoffnungen setzte er in einen Umzug ins ruhige Lichterfelde, doch auch das half nicht, im Gegenteil: Der Ton wurde noch lauter. Und nach der Verrentung 1998 hatte er noch mehr Zeit, sich mit ihm zu befassen.

Ein Tinnitus kann hunderte verschiedene Ursachen haben, darunter Lärmschäden, Durchblutungsstörungen, Erkrankungen der Halswirbelsäule oder des Zahn-Kiefer-Bereichs, chronische Mittelohrentzündung oder ein gutartiger Tumor am Hörnerv. Wie genau daraus allerdings der Tinnitus entsteht, ist bis heute nicht restlos geklärt. „Es handelt sich um eine Fehlfunktion bei der Verarbeitung von akustischen Signalen im Hirn“, sagt Birgit Mazurek, Leiterin des Tinnituszentrums in der Klinik für Hals- Nasen- und Ohrenheilkunde der Charité.

Akustische Reize in Form von Schallwellen nehmen einen komplexen Weg über Ohrmuschel, Trommelfell und Hörschnecke (Kochlea), wo die Reize in Nervenimpulse umgewandelt und ans Hirn weitergeleitet werden. Auf diesem Weg befinden sich mehrere Schaltstellen, die beim Tinnitus gestört sein können.

Millionen Deutschen leiden unter Tinnitus. Und ihre Zahl nimmt zu, sagt Birgit Mazurek. Gründe seien Stress, zu laute Musik, Arbeitsbelastung und ständige Erreichbarkeit, etwa durch Mobiltelefone. Einige Betroffene haben objektiven Tinnitus, den der Arzt mit einem Stethoskop selbst hören kann.

Die weitaus größere Zahl jedoch leidet unter subjektivem Tinnitus. Ihn kann man nur indirekt durch eine Vergleichsaudiometrie feststellten, bei der Frequenzen und Lautstärken vorgespielt werden und der Patient angibt, ob diese seinem Tinnitus entsprechen.

Ist der Tinnitus also eine Einbildung? „Definitiv nicht“, sagt Birgit Mazurek, „er ist eine Störung der organischen Aktivität. Allerdings wird er wissenschaftlich nicht als Krankheit, sondern als Symptom gewertet – also als Hinweis darauf, dass etwas an anderer Stelle nicht stimmt.“ Die eigentliche Krankheit entsteht meist infolge des Tinnitus, durch Schlafmangel oder Depression. Das leidige Ohrgeräusch kann verschiedene Formen annehmen: Pfeifen, Summen, Brausen, Klopfen, Pulsieren oder Hämmern. Häufig geht es mit einer Hörminderung einher. Dann besetzt es genau jene Frequenz, auf der der Betroffene schlecht hört – weil die Haarzellen in der Kochlea, die akustische Signale in Nervenimpulse umwandeln, genau an dieser Stelle geschädigt sind.

Birgit Mazurek leitet das Tinnituszentrum seit der Gründung 2001. Es ist einzigartig in Deutschland, weil es ambulante, tagesklinische und stationäre Behandlung und Forschung vereint. Die ersten drei Monaten nach dem Auftreten gilt ein Tinnitus als akut, in dieser Phase ist er, etwa durch Durchblutungsförderung, behandelbar. Birgit Mazurek rät dringend dazu, in diesem frühen Stadium einen Arzt aufzusuchen. Später wird ein Tinnitus chronisch und ist – nach heutigem Stand – nicht heilbar. Man kann sich aber an ihn gewöhnen, eine Strategie, die die sogenannte Retraining-Therapie verfolgt, bei der der Patient über mehrere Jahre hinweg dazu gebracht wird, seinem Tinnitus nicht mehr so viel Aufmerksamkeit zu schenken, Stille zu meiden und bewusst andere Geräusche zu hören.

Vor zehn Jahren hörte Edgar Wagner erstmals vom Berliner Tinnituszentrum. „Ich hatte endlich das Gefühl, dass man mir glaubt“, erzählt er. Seit er sich der Retraining-Therapie unterzogen hat, ist vieles für ihn besser geworden. Er trat der Selbsthilfegruppe Tinnitus bei (siehe Kasten), deren Sprecher er heute ist, vermeidet Streit, Ärger und psychische Labilität. „Ich habe gelernt, mit meinem Tinnitus zu leben. Darüber freue ich mich jeden Tag.“ Jetzt will er anderen helfen, es ebenfalls zu schaffen. Denn wer von Tinnitus betroffen ist, für den bedeutet friedliche Koexistenz schon sehr viel.

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