Selbstvermesser: Neue Bewegung
Die „Selbstvermesser“ messen alles an sich, Blutdruck, Schlaf, Bewegung, Sex. Das kann der Gesundheit helfen, sagen Experten.
Es ist eine Zukunftsvision, aber nicht mehr lange: Nach dem Aufstehen sendet das Messgerät Daten über die Schlafqualität an den Computer. Kurz darauf empfängt dieser zudem die Messwerte, die die Toilette nach dem morgendlichen Gang ermittelt hat. Der Computer speichert die Daten zusammen mit dem Bewegungsprofil, der Zusammensetzung des Frühstücks, der Kreditkartenrechnung, dem Kalorienverbrauch und allen anderen Messdaten, die sich aus einem menschlichen Leben ermitteln lassen, auf einer Homepage ab. Um die Zahlen zu komplettieren, gibt der Gemessene zusätzlich sein Befinden, seine Laune und den jeweiligen Gesprächspartner über eine App auf seinem iPhone zu Protokoll. Die Daten werden dann zu Tabellen verarbeitet, die Aufschluss über Zusammenhänge zwischen Befinden, Gesundheit, Gewohnheiten, Ernährung, sozialem Leben und Arbeit geben.
Die Erfassung menschlichen Lebens, in all seinen Formen, in Zahlen, das ist das Ziel einer neuen Bewegung. Und wie viele Bewegungen kommt sie aus den USA. „Quantified Self“, „quantifiziertes Selbst“ heißt das Zauberwort. Diese Selbstvermesser wollen ihre Gesundheit verbessern, ihre Arbeit, ihre Laune, ihr Leben. Sie messen alles, was mit ihrem Leben zu tun hat, die Länge und Tiefe des Schlafs, den Blutdruck, die Kalorien, die Länge der sportlichen Betätigung und den Sex. Anhänger dieser Bewegung können genau sagen, wie viele Kilometer sie in der letzten Woche gelaufen sind, wie viele Stunden sie im Durchschnitt geschlafen haben, wie viele Minuten und Sekunden sie Sex hatten und wie gut Schlaf und Sex waren. Der Mitgründer der Bewegung, Gary Wolf, glaubt: „Alle Zahlen zu erfassen und in einen Zusammenhang zu bringen, ist wohl Fantasie. Aber es sind immer mehr Daten über uns messbar, etwa über Schlaf, Diäten, Bewusstsein, um nur einige zu nennen.“
Seth Roberts, ein Mitglied der Bewegung, schreibt im Forum von „Quantified Self“, dass er eine Tabelle angelegt hat, die seine Arbeitseffizienz beschreibt. Die Effizienz misst er, indem er die gearbeitete Zeit in Bezug zu der zur Verfügung stehenden Zeit setzt. „Die Tabelle zeigt, dass ich meine Arbeitseffizienz bereits kurz nach dem Beginn der Erfassung der Daten steigern konnte, einfach weil mich die Tabelle motiviert hat.“ Eine andere Bloggerin erzählt, dass sie an ihrem Bewegungsprofil und ihrem Essverhalten feststellen konnte, dass sie auf dem Weg zur Arbeit immer Donuts aß. Nachdem sie den Arbeitsweg änderte, verspeiste sie 40 Prozent weniger Donuts. Eine dritte Anhängerin zeichnete ihre Laune auf und setzte sie in Bezug zu ihren sozialen Kontakten. So hätte sie sich darauf einstellen können, welche Menschen bei ihr negative Emotionen auslösen würden und dann damit besser umgehen können.
Experten halten es für gut möglich, dass eine Selbstbeobachtung der Gesundheit förderlich sein kann. „Die Datenerfassung selbst ist im Prinzip unbedenklich und kann durchaus helfen“, sagt Frank Mayer, Direktor des Zentrums für Sportmedizin der Universität Potsdam. Das Institut misst im sportmedizinischen Bereich Daten, um zum Beispiel Leistungen von Profisportlern zu steigern. Mit den Daten könnten Ereignisse und deren Abfolge im Längsschnitt aufgezeichnet werden. Ob eine solche Vorgehensweise sinnvoll ist, hänge immer vom Einzelfall ab. Die Erfassung von Daten ist zum Beispiel auch bei Migräne-Patienten gängige Praxis. Sie führen eine Art Tagebuch über ihre Erkrankung und dokumentieren diese so. „Die Dokumentation an sich, wenn sie denn vollständig erfolgt, ist erst mal unproblematisch. Die Interpretation der Daten birgt aber Risiken. Gerade bei Krankheiten rate ich zur Vorsicht bei Interpretationen ohne professionelle Unterstützung“, sagte Mayer.
Die Daten der „Quantified Self“-Bewegung haben die Neugier der Pharma- und Technikindustrie geweckt. Pharmakonzerne zahlen sogar für gesundheitsrelevante Daten von Menschen. Gleichzeitig werden immer mehr technische Geräte zur Erfassung der Daten gekauft. Das Start-up-Unternehmen „Zeo“ verkauft beispielsweise ein Gerät, mit dem sich der Schlaf messen lässt. Während des Schlafes trägt der Nutzer ein Stirnband, das mit Sensoren die Gehirnaktivitäten erfasst. Die Daten werden dann kabellos übermittelt. Ein Armband von „Bodymedia“ misst die Körpertemperatur, Bewegungen und andere Werte und ermittelt so den Kalorienverbrauch. Der „Duo Fertility Monitor“ sagt der interessierten Frau bereits eine Woche im Voraus, wann sie ihre Menstruation zu erwarten hat. Die Firma „Green Goose“ plant, Aufkleber mit Sensoren auf den Markt zu bringen. Diese speichern Bewegungsdaten, die Rückschlüsse auf die Benutzung von Gegenständen erlauben und ein genaues Tätigkeitsprofil eines Menschen erstellen.
Schöne neue Welt.