Aufstand im Warschauer Ghetto: Mut der Verzweifelten
An Sieg denken sie natürlich nicht, doch wenigstens über ihren Tod wollen sie frei entscheiden. Kazik Ratajzer kämpft als Aufständischer im Warschauer Ghetto gegen die Deutschen. Als alles verloren ist, rettet er 40 Kameraden. Mit der Kraft eines 18-Jährigen, der lebte, als ob er unsterblich sei.
Dünne, schmutzige Menschen klettern aus dem Abwasserkanal ans Licht, einer nach dem anderen, 40 insgesamt. Sie riechen nach Gosse und wanken vor Erschöpfung. Kazik Ratajzer treibt sie an. Es ist zehn Uhr morgens. Der Schacht, durch den sie nach oben gekrochen kommen, liegt in der Prosta-Straße, nur 100 Meter von der deutsche Wache entfernt. Menschen, die auf der Straße laufen, halten an und schauen neugierig. „Wenigstens verdecken sie uns vor den Wächtern“, denkt sich Ratajzer. Er ist ein paar Stunden zuvor aus dem Kanal gestiegen, hat einen Lastwagen organisiert, in den sie nun klettern.
40 schmutzige Juden fahren in einem Lastwagen durch ein Viertel, das nur für Deutsche ist, raus aus der Stadt Warschau, rein in den Wald.
Es ist der 10. Mai 1943. SS-General Jürgen Stroop muss in seinem Bericht vermerken, dass ein paar der Aufständischen, Banditen, wie er sie nennt, geflohen sind. Stroop, der den Aufstand im Warschauer Ghetto, begonnen am 19. April, schließlich am 16. Mai 1943 niederschlägt, notiert, dass die Männer trotz einer intensiven Verfolgungsjagd entkommen konnten. Unter ihnen auch Aufstandsanführer: Marek Edelman, Cywia Lubetkin, Hersz Berlinski.
Nun, 70 Jahre später, befindet sich der Eingangsschacht zum Kanal immer noch an derselben Stelle. Als Kazik Ratajzer hineinschaut, stinkt es genauso wie damals. Es ist auch genauso beängstigend eng und dunkel. Nur oben, auf der Straße, stehen keine Wachmänner mehr, sondern moderne Bürohäuser. Wenige Meter weiter erinnert ein Denkmal an das, was hier 1943 geschah. Ein Messingrohr, das aus dem Bürgersteig herausragt, als Symbol für den Kanal. Im Inneren Dutzende Hände, die sich an den Stufen einer Leiter festklammern, so wie damals.
Der schlanke, 89-jährige Kazik Ratajzer steht vor dem Rohr und einer Gedenktafel, kerzengerade aufgerichtet, wie ein Soldat. Sein Blick wandert über die eingravierten Namen derjenigen, die es damals aus dem Kanal herausgeschafft haben, und derjenigen, denen diese Flucht nicht gelang. Sein eigener steht ganz oben: Simcha Kazik Ratajzer-Rotem. Eigentlich sind es zwei Namen – für zwei Leben.
Als Simcha Rotem ist er erst nach dem Krieg, in Israel „neugeboren“ worden. Es sollte ein neuer Anfang sein, den neuen Namen wählte er symbolisch aus. Rotem war ein Baum, der dem Prophet Elias Schutz und Ruhe bot. Im früheren Leben, in Polen, hieß er Szymon „Kazik“ Ratajzer. Kazik war ein Pseudonym, ein populärer polnischer Name, den ihm seine Kameraden aus der Kampforganisation verliehen. Dieser Name wurde zu seiner Identität und bis heute nennt ihn beinahe jeder so.
In Israel sprachen die Menschen ungern über den Aufstand
Im Jahr 1943 war Kazik Ratajzer eines der Stabsmitglieder der Jüdischen Kampforganisation ZOB. Er kämpfte im Ghetto-Aufstand. Heute ist er der Letzte aus diesem Kreis, der noch lebt. Zum Jahrestag des Aufstandes am 19. April verlieh ihm der polnische Präsident kürzlich einen Orden für seine Tapferkeit. Er wurde gefeiert, mit Applaus begrüßt und scheint doch selber alles nicht so ernst zu nehmen. Er sagt: „Ein Orden macht aus mir keinen anderen Menschen.“
Nach dem Krieg, in Israel, sprachen die Menschen ungern über den Aufstand. Niemand interessierte sich für die überlebenden Kämpfer. Schließlich endete der Aufstand mit einer Niederlage. Kein Grund zum Stolz. In Israel ist Kazik Ratajzer bis heute nicht ausgezeichnet worden.
„Auf einen Sieg haben wir nie gehofft“, sagt Kazik Ratajzer heute. Auch wenn sie mehr gewesen wären oder mehr Gewehre gehabt hätten – gegen Bomber und geschulte Truppen hätten sie keine Chance gehabt. Wenn sie nichts gemacht hätten, wären sie ins Vernichtungslager Treblinka geschickt worden. So oder so stand der Tod bevor. „Alle hatten die Hoffnung aufgegeben, dass die Deutschen uns erlauben würden zu leben.“ Er spricht langsam, artikuliert genau, als ob er sichergehen möchte, dass man ihn versteht.
Es ging nicht um den ehrenhaften Tod, wie viele es heute glauben wollten, erklärt er. „Mutig waren auch die Menschen in Treblinka, die ums Leben gekommen sind. Oder diejenigen, die früher im Ghetto verhungert sind. Wir wollten nur die Art des Todes wählen – eine leichtere, als die in einer Gaskammer in Treblinka.“ Am besten erinnert sich Ratajzer an den ersten Tag des Aufstandes. Sein Posten befand sich unweit eines Eingangstors zum Ghetto. Als sie die deutschen Truppen sahen, sprengten sie eine Mine, die sie vorher vor dem Tor versteckt hatten. Nach der Detonation sah er einige tote Soldaten und andere, die wegrannten. „Ich habe zum ersten Mal gesehen, wie die Deutschen vor den Juden flüchten!“
Dann senkt Ratajzer plötzlich die Stimme. Seit Jahren quäle ihn eine Frage, verrät er. Ob sie recht hatten, auch für die anderen zu entscheiden. „Am Ende hat uns alle der Tod erwartet, aber vielleicht wollte jemand noch einen Tag länger leben? Ein Tag kann viel bedeuten“, sagt er nachdenklich. „Wenn die Kämpfe nicht ausgebrochen wären, hätte jemand in dieser Zeit vielleicht eine Möglichkeit gehabt, aus dem Ghetto zu flüchten und ein Versteck zu finden?“ Er schaut seinem Gegenüber direkt in die Augen, als ob er eine Antwort erwarte. „Es ist eine Frage, mit der ich leben muss.“
Damals dachten sie über so etwas nicht nach. Die Gedanken kamen mit der Zeit. Dann, als sie wieder wie Menschen denken konnten.
Er hätte nicht ins Ghetto gemusst. Er hätte draußen eine Chance gehabt
„Die Deutschen haben uns beinahe unserer menschliche Würde beraubt“, sagt Kazik Ratajzer. Kein einziges Mal sagt er „die Nazis“. Zum ersten Mal sah er die Deutschen auf einer Siegesparade in Warschau, im Herbst 1939. Nach der Parade holten sich einige Soldaten einen alten, frommen Juden, traditionell gekleidet und mit Schläfenlocken. Sie stellten ihn in ihre Mitte, schrien und glucksten. Bald musste jeder Jude den Bürgersteig verlassen und seine Mütze abnehmen, wenn er einem Deutschen begegnete. „Einen SS-Mann oder Soldaten machte seine Nationalität zum Herrn über Leben und Tod. Der Jude war wie ein Wurm, den man niedertreten konnte. Es war demütigend. Ich weiß nicht, ob das nicht schwerer zu ertragen war als der Hunger im Ghetto“, erzählt Ratajzer. „Jemand, der es nicht erlebt hat, kann sich weder dieses Gefühl vorstellen noch das Leben im Warschauer Ghetto.“
Schon im Herbst 1939 hatten die deutschen Besatzer mit dem Bau des Ghettos angefangen. Bis zu 540 000 Juden wurden schließlich im Norden der Stadt eingesperrt, auf drei Quadratkilometern Fläche. Wer das Ghetto verließ, auf den wartete die Todesstrafe. „Die gleiche Strafe trifft diejenigen, die diesen Juden wissentlich Unterschlupf gewähren, oder in anderer Weise (z. B. durch Gewähren von Nachtlagern, Verpflegung, Mitnahme auf Fahrzeugen aller Art usw.) den Juden behilflich sind“, und zwar samt Familien. Das gab der deutsche Gouverneur von Warschau bekannt.
Die Bewohner des Ghettos bekamen 229 Kalorien am Tag zu Essen. Ein Schokoriegel hat etwa doppelt so viel. Die Menschen waren so hungrig, dass sich Hunderte freiwillig meldeten, wenn die Deutschen fragten, wer zur Arbeit nach Treblinka fahren wolle – nur weil man ihnen etwas Brot und Marmelade versprach.
Eigentlich hätte Kazik Ratajzer nicht ins Ghetto gemusst. Er hätte draußen eine Chance gehabt. Ein altes Foto zeigt einen helläugigen Jungen mit blonden Haaren. Ein selbstbewusster Blick, ein schelmisches Lächeln. „Ich war ein Junge aus Czerniakow“, sagt Ratajzer heute, mit dem gleichen Lächeln. Ein „Czerniakower“ war ein Ur-Warschauer, ein selbstsicher Draufgänger. Ratajzer war ein assimilierter Jude. Er sah aus wie ein Slawe, verhielt sich wie ein Pole und sprach wie ein Warschauer. Er fiel nicht auf.
Die meisten Juden in Polen waren anders. Sie lebten nach der jüdischen Tradition und sprachen kaum Polnisch. Kazik Ratajzer sagt: „Ich war ein Glückspilz in einer schlechten Zeit.“
Es ist schön und sonnig in Warschau an diesem Tag Ende April. Genau so wie vor 70 Jahren. Auch damals, als das Ghetto in Flammen stand, war das Wetter frühlingshaft, erinnert sich Kazik Ratajzer. Im Lazienki-Park singen die Vögel. Dort wo der alte Mann nun sitzt und seinen Kaffee trinkt, befand sich zur Kriegszeit eins von zwei Warschauer Vierteln „nur für Deutsche“. Auf der anderen Seite, Richtung Weichsel, liegt der Czerniakow-Kiez, in dem Ratajzer vor dem Krieg mit seinen Eltern, drei Geschwistern und den Großeltern lebte.
Juden gab es dort kaum. Ratajzers besaßen ein Wohnhaus, in dem Polen wohnten, und einen Laden, in dem Polen einkauften. Die Mutter sah so slawisch aus, dass alle sie für eine Polin hielten. Von seinen Czerniakower Freunden lernte Kazik Ratajzer die Selbstsicherheit und den Dialekt. Während des Krieges war dies sein Passierschein ins Leben.
Auf der Straße konnte er einen Juden damals schon von hinten erkennen. „Er guckte fieberhaft herum, lief unsicher und schnell, wie ein gejagtes Tier. So fühlte man sich, wenn man die ganze Zeit im Versteck oder im Ghetto lebte.“ Ihm blieb diese furchtbare Erfahrung relativ lange erspart.
Er kommt immer wieder nach Warschau, es ist wie ein Zwang
Kurz nachdem die Ratajzers 1940 ins Ghetto ziehen mussten, flüchtete Kazik Ratajzer und arbeitete in einem Dorf bei Polen, die so taten, als ob sie nicht bemerkt hätten, dass er Jude ist. Erst als er zum ersten Mal sah, wie dort ein deutscher Soldat einen Juden erschoss, weil der sich nicht im Ghetto aufhalten wollte, kehrte Ratajzer Ende 1942 zurück. Da waren bereits viele Bewohner deportiert worden, von mehr als 500 000 waren nur rund 50 000 geblieben. Die meisten von ihnen waren junge Männer, Zwangsarbeiter.
Ratajzer schloss sich der Jüdischen Kampforganisation im Ghetto an. Sein „gutes Aussehen“ war auch dabei viel wert, denn es erlaubte ihm, sich unauffällig auf den Warschauer Straßen zu bewegen. Er pflegte Kontakte zur polnischen Untergrundbewegung und kaufte Gewehre auf dem Schwarzmarkt. Das Geld erpressten er und seine Kameraden vom Judenrat, von jüdischen Kollaborateuren und reichen Juden im Ghetto. Der 18-Jährige lebte so, als ob er unsterblich wäre, risikoreich, wie er sich es heute nicht mehr trauen würde. Er gewinnt Freunde auf der „arischen“ Seite. Sie helfen ihm. Ihre Namen erwähnt er immer, wenn er nach seinen Erinnerungen gefragt wird. Als ob sie wichtiger wären als er selbst.
Viele verrieten die Juden, für Geld oder aus Hass. Aber viele halfen auch. Fast 30 000 Juden waren während der Besatzung in Warschau versteckt. Auch Kazik Ratajzer brachte seine Eltern und Schwestern bei Bekannten aus der Vorkriegszeit unter. Er selbst kehrte immer wieder ins Ghetto zurück. Nicht weil er ein Held sein wollte, sondern um seinen Kameraden zu helfen. Für ihn war das selbstverständlich.
Am 10. Mai, auf der Prosta-Straße, führt Kazik Ratajzer die letzte Gruppe der Kämpfer aus dem Ghetto.
Wenige Tage später schreibt der SS-General Jürgen Stroop: „Der jüdische Wohnbezirk existiert nicht mehr.“ Und: „Die Gesamtzahl der erfassten und nachweislich vernichteten Juden, Banditen, Untermenschen beträgt 56 065.“ Am 16. Mai 1943 um 20.15 Uhr sprengt er die große Synagoge in die Luft.
Für Kazik Ratajzer aber war der Kampf nicht zu Ende. Am 1. August 1944 stand er wieder, bewaffnet mit einer Pistole, beim Warschauer Aufstand den Deutschen gegenüber. An seiner Seite Marek Edelman, Icchak Cukiermann und andere Kameraden aus dem Ghetto, die noch lebten. Er wollte für alle seine getöteten Freunde kämpfen.
Er überlebte, wie auch seine Mutter, sein Vater und eine seiner beiden Schwestern. Die andere verschwand während des Aufstandes, als sie nach ihm suchte.
„Ich bin nicht rachedurstig“, sagt Simcha Rotem aus Israel. Doch als Kazik Ratajzer, nach dem Krieg, wollte er sich rächen. Mit einer Gruppe anderer Juden plante er, die inzwischen inhaftierten SS-Wächter zu vergiften. Sie fuhren mehrmals nach Deutschland, lebten dort mehrere Monate. Der Plan misslang. „Leider“, sagt Ratajzer heute hart. „Sie hätten die Todesstrafe verdient. Viele von ihnen lebten ruhig bis ans Ende ihres Lebens – während so viele Juden oder Polen von ihnen umgebracht wurden.“
Nach Polen reiste er erst wieder zum 20. Jahrestag des Ghetto-Aufstandes. Er flog hin, ohne Ankündigung. Und obwohl es zu dieser Zeit nicht einfach war, Kontakt nach Polen zu halten, waren sie alle zum Flughafen gekommen, um ihn zu begrüßen: Marek Edelman und die anderen Freunde aus Warschau. Seitdem kommt er immer wieder, es ist wie ein Zwang. Er hasst die Erinnerungen aus Warschau, und er kann ohne die Stadt nicht leben.
Ratajzer hoffte, dass die Juden in ihrem eigenen Land, in Israel, nie würden Angst haben müssen. Er wollte Ruhe. Und doch wurde er einberufen, kämpfte in israelischen Kriegen, genauso wie seine drei Söhne. Umso mehr hielt er sich als Manager einer Ladenkette an eine Regel: Alle seine Mitarbeiter wurden gleich behandelt, egal ob es Juden waren oder Araber, egal ob es einigen passte oder nicht.
Kazik Ratajzer erklärt, dass er eine einzige Lehre aus der Zeit des Krieges in Warschau gezogen hat: „Dass das Leben die wertvollste Sache auf der Welt ist, die niemand dem anderen wegnehmen darf. Ich hoffe, dass wir diese Lektion einmal begreifen.“ Er sagt: „Bisher ist das nicht passiert.“
Agnieszka Hreczuk