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Jahr für Jahr wird am Neckartor in Stuttgart der Feinstaub-Grenzwert überschritten. Jetzt sollen 100 Meter lange Mooswände das Gift aus der Luft holen.
© Achim Zweygarth/dpa

Feinstaubbelastung: Moos gegen Mief

Sie sind keine zehn Zentimeter groß, uralt und unscheinbar – und doch könnten Moose Großstädte von Feinstaub befreien.

Etwa 400 Millionen Jahre bodenständige Evolution haben das Purpurstielige Hornzahn- und das Graue Zackenmützenmoos nun schon hinter sich. Aber jetzt hat Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn von den Grünen die wahre Bestimmung für Ceratodon purpureus und Racomitrium canescens gefunden: Die Urzeitpflänzchen mögen doch bitte die von Menschenhand binnen weniger Jahrzehnte verpestete Luft seiner Innenstadt vom lebensgefährlichen Feinstaub befreien. Und den Lärm der täglich etwa 71 000 vorbeirasenden Autos sollen sie gleich mitschlucken – sowie die vom Klimawandel befeuerte Sommerhitze im Stuttgarter Kessel abkühlen.

100 Meter Moos

Zu diesem Zweck wird ab heute eine einhundert Meter lange Mooswand entlang Deutschlands dreckigster Straßenkreuzung, des Neckartors, in der baden- württembergischen Hauptstadt aufgestellt. 388 000 Euro stellt die Gemeinde Stuttgart für dieses Projekt zur Verfügung, das Land weitere 170 000 Euro. Damit soll zum ersten Mal ein Jahr lang wissenschaftlich untersucht werden, ob Moos tatsächlich nennenswerte Mengen der gefährlichen Kleinstpartikel aus der Luft filtern kann, die in die Entstehung von lebensbedrohlichen Atemwegserkrankungen involviert sind.

2007 entdeckte der inzwischen verstorbene Bonner Forscher Jan-Peter Frahm die besonderen Eigenschaften der auch als Bryophyten bezeichneten Pflanzen. Da sie weder Wurzeln haben noch Blüten oder Samen bilden, bestehen sie zum Großteil aus Blättern, über deren Oberfläche sie Wasser und Nährstoffe aufnehmen. Anders als die meisten anderen Landpflanzen haben die Moos-Blättchen daher keine wasser- und schmutzabweisende Wachsschicht, sondern wirken im Gegenteil wie ein „Mikrofasertuch“, entdeckte Frahm: Die feinen Partikel, vor allem das Ammoniumnitrat im Feinstaub, bleiben hängen und werden vom Moos-Stoffwechsel direkt verarbeitet oder in den Zellen eingelagert. Andere Partikel werden erst von Bakterien und Pilzen aufgenommen, die dann nach ihrem Absterben von dem Moos verstoffwechselt werden.

Eine Moospflanze kann 1200 Blätter haben

Das allein macht das Moos aber noch nicht zum idealen Feinstaubfilter, dafür sorgt vor allem die enorme Blattoberfläche, über die die Stoffe aufgenommen werden können: etwa 23 Quadratmeter Blattfläche pro Quadratmeter Mooswand, bestehend aus etwa 120 000 Moospflänzchen mit jeweils mehr als 1200 Blättern.

Die große Oberfläche bietet auch den Speicher, mit dem Moose so viel Wasser aufnehmen können – mehr als das Zwanzigfache ihres Eigengewichts: Fast 14 Liter speichert ein Quadratmeter Moos. Wenn dieses Wasser an heißen Tagen verdunstet, wird die Luft in der Umgebung durch die entstehende Verdunstungskälte um bis zu fünf Grad heruntergekühlt. Ein Effekt, den man in Stuttgart in Kombination mit der lärmschluckenden Wirkung der Moospolster künftig auch an anderen Stellen in der Stadt nutzen will.

Email, wenn das Wasser knapp wird

Ob allerdings bald überall in Deutschland ehemals graue Wände grün bemoost sein werden, hängt nun vom Ergebnis des Stuttgarter Versuchs ab – und davon, ob sich die Pflänzchen auch außerhalb des Labors in den unwirtlichen Straßenschluchten der Städte behaupten können. So fand Frahm heraus, dass die Moose weder zu trocken noch zu feucht sein dürfen, wenn der Feinstaubfilter funktionieren soll.

Die Dresdner Start-up-Firma Green City Solution hat die Bewässerung ihrer etwa drei mal vier Meter großen Moos- und Blütenpflanzenwände mit einem Tank gelöst, der die Stadtverwaltung automatisch per E-Mail informiert, wenn das Wasser knapp wird. Ihre „City Tree“ genannten Wände, die bereits in Oslo, Paris, München und Hannover aufgestellt wurden, sammeln mit 73 Kilogramm jährlich so viel wie Feinstaub 275 Bäume. Auch in Berlin steht schon ein „City Tree“ – am Bahnhof Südkreuz. Weitere sind geplant.

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