Entführt von Piraten: Mit vollem Risiko ins Glück
Sie erlebten vergangenen Sommer die Hölle: Entführt von somalischen Piraten, 52 Tage in Gefangenschaft. Nun segeln die beiden Deutschen wieder los – und wenn diesmal Banditen angreifen, wollen sie kämpfen.
Es wird warm am heutigen Sonntag, 40 Grad im Schatten. Das geht noch für diese Jahreszeit, denn das Horn von Afrika gilt als eine der heißesten Gegenden der Erde. Ein leichter Wind aus Süden ist zu erwarten. Gegen 10 Uhr am Vormittag wollen Sabine Merz und Jürgen Kantner die Leinen ihres Segelbootes losmachen.
Der Hafen von Berbera ist durch eine natürliche Landzunge geschützt. Um die offene See zu erreichen, setzen die beiden Deutschen die Segel. Die 500 Liter Diesel an Bord sind zu kostbar, sie werden zum Laden der Batterien benötigt. Mit einem leisen Rauschen müssen sie die linkerhand gelegene Hafenmole umfahren, vorbei an drei festgezurrten Frachtschiffen, den rostigen oder blau gestrichenen Containern; einige Fregatten aus längst vergessenen Kriegen liegen hier auf Grund.
Nicht viel weiter draußen beginnt unsicheres Gebiet: Piraten in Schnellbooten, bewaffnet mit Kalaschnikows und Panzerfäusten. „Zwei, drei Meilen nach der Ausfahrt warten sie vielleicht schon auf uns“, sagt Skipper Kantner gestern am Telefon, „wer weiß?“ Er wird trotzdem die Segel setzen, sein erstes Ziel liegt westlich, eine Inselgruppe vor Dschibuti, drei bis vier Tage Fahrt bei günstigem Wind.
Sie haben Erfahrungen mit Piraten, Sabine Merz, 52, und Jürgen Kantner, 62. Vergangenen Sommer hat ihre Entführung Schlagzeilen gemacht. Vor der Küste Somalias war ihre „Rockall“ geentert worden, die beiden wurden in die Berge von Puntland verschleppt, Scheinerschießungen, angedrohte Vergewaltigung, Frau Merz durch Krankheiten abgemagert auf 42 Kilo – ein Albtraum von 52 langen Tagen und Nächten. Eine Million Dollar Lösegeld sollen geflossen sein, ehe die Deutschen am 4. August wieder freikamen.
Sie hatten die Welt umsegeln wollen, waren bei Marseille in See gestochen, Weihnachten auf Kreta, Suezkanal und Rotes Meer; plötzlich fanden sie sich in Neuhausen bei Stuttgart wieder, schliefen bei Kantners bettlägriger Mutter im Pflegeheim auf dem Fußboden, mittellos in geschenkten Kleidern: gerade mal zwei silberne Ohrringe waren geblieben und Tagebücher. Man konnte da später im Jahr zwei Verzweifelten begegnen. Frau Merz las in ihren Aufzeichnungen, zitternd, weinend. Herr Kantner kochte derweil Kaffee und haderte mit den deutschen Behörden.
Nun also Berbera, Hafenstadt in der Republik Somaliland, einem nicht anerkannten Staat Ostafrikas, gegenüber von Aden im Jemen; Luftaufnahmen zeigen karges Land, viel Wüste. Noch vor Weihnachten hatten sie den Tipp erhalten, die 16 Meter lange „Rockall“ sei hierher geschleppt worden, und Kantner war unverzüglich aufgebrochen. Er fand das Boot „mit Dellen im Rumpf, der Lack beschädigt, die Einrichtung gestohlen oder kaputt geschlagen, der Generator weg, Matratzen, Kissen, Konserven, alles. Die haben sogar den Motor ungekühlt laufen lassen, bis er platzte“.
Noch liegt das Schiff vor Anker, das Heck festgebunden an einem von zwei Dutzend Laubbäumen. 50 Meter entfernt steht eine große Halle mit Flachdach, in den letzten Monaten die Werkstatt der Deutschen. „Die Einheimischen reparieren hier Kräne und Gabelstapler“, erzählt Kantner lachend, „aber das meiste ist Schrott. Eine wackelige Drehbank, vergammelte Schweißgeräte … Sowjetische Entwicklungshilfe aus dem Kalten Krieg.“
Seit sechs Monaten schuftet er zehn Stunden täglich „mit meinen mechanisch geschickten Händen“, unterstützt von Sabine Merz, die im April nachkam. Ein Foto zeigt, wie sie den geschenkten Lkw-Motor feuerwehrrot anmalt. Der Schiffsrumpf wurde auf ihren Wunsch türkis gestrichen – „das alte Gelb hat Unglück gebracht“, meint sie. Wenigstens der Bordkompass war noch da, der Mast auch „und die angeschlagenen Segel, da waren die Räuber zu faul, die wegzumahen“, sagt Kantner. Die „Rockall“ sei reisefertig, wenn auch provisorisch; ein UKW-Funkgerät fehlt, mit dem auf Kanal 16 zur Not Hilfe gerufen werden könnte.
Die beiden wollen sich heute früh noch bei den Behörden in Berbera verabschieden, sich bedanken für die Hilfe, den Schutz. Sie waren auf Schritt und Tritt von Soldaten begleitet worden, „das hat der Präsident für uns angeordnet“. Kantner wird dann auch „um eine ausrangierte Waffe bitten, am besten eine Kalaschnikow, ich hab’ ja viele davon für ihr Militär repariert“. Wenn wieder Piraten angreifen, wollen die beiden kämpfen.
Eine Taktik haben sie sich auch schon ausgedacht, „aus den Erfahrungen unserer Entführung“, sagt der Skipper. Sie müssten die Schnellboote nah heranlassen, „denn wenn ich vorher schieße, knallen die uns aus 200 Metern mit der Panzerfaust weg“. Dann würde Sabine Merz einen von drei Molotowcocktails („die haben wir schon präpariert“) ins Boot werfen und er könnte „mit dem Gewehr ins Chaos halten, denn die haben hunderte von Litern Benzin in Kanistern an Bord, das geht schnell in Flammen auf“.
Doch erst mal ist am Samstag Proviant eingekauft worden. 25 Kilo Mehl und 15 Kilo Reis in Säcken haben die beiden an Bord geschleppt, Nudeln, Milchpulver, Kartoffeln und Öl. Zum Schutz gegen die Sonne tragen die zwei Segler verbleichte Baseballmützen. Sie wollen auf ihrer ersten Station selbst gefangene Fische einwecken, Gläser haben sie gesammelt.
Aden wäre das nächste Ziel, der jemenitische Hafen, um Konserven zu bunkern. Denn Malaysia ist weit, 30 bis 35 Tage über das offene Meer; einen Stopp auf den Malediven oder Sri Lanka lasse das knappe Budget nicht zu, die Häfen dort verlangen Gebühren.
Es ist der alte Traum: Im fernen Asien das Glück zu finden; Hotelgäste auf einen Törn mitzunehmen, Wochentouren anzubieten und damit etwas Geld zu verdienen; keinen Zwang, kein Büro. Kantner hat sein Leben auf Schiffen verbracht, er kennt nichts anderes. Merz hat mit ihrem bürgerlichen Leben gebrochen, sie wüsste gar nicht, wohin sonst.
Es könnte nur sein, dass wieder Piraten kommen in dieser nach wie vor gefährlichen Gegend. „Und ein zweites Mal“, sagt Kantner ohne zu zögern, „holt uns keiner mehr raus.“
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