zum Hauptinhalt
Kurz vor der Festnahme ihres Mannes flüchtete Ensaf Haidar nach Kanada.
© picture alliance / dpa

Die Familie des Bloggers Raif Badawi: Leben im Ausnahmezustand

Die Kinder fragen nach ihrem Vater. Der Vater fragt nach den Kindern. Dazwischen steht sie, versucht die Sehnsüchte aller zu bedienen, die eigenen zu ignorieren. Ensaf Haidar, Frau des Bloggers Raif Badawi, ist froh über jeden Anruf ihres Mannes. Der Versuch eines Alltags im Ausnahmezustand.

Als das Telefon klingelt, steht Ensaf Haidar in der Küche und kramt eine Packung Reis aus dem Eckschrank. Auf der Herdplatte steht ein Topf voll Wasser, im Ofen brät Hähnchen. Es ist kurz vor 17 Uhr, die drei Kinder sind gerade von der Schule zurück. Drei leere Mägen. Haidar klemmt ihr Smartphone zwischen rechte Schulter und Ohr und steht einen Moment still. Er ist es.

Dann läuft sie vom Herd zum Kühlschrank und wieder zurück. Dabei redet sie ruhig ins Telefon, den Kopf geneigt. Nach nur zwei Minuten ruft sie ihren Sohn Dudi, der im Flur spielt. Papa will Dudi sprechen. Während der Elfjährige mit dem Telefon in sein Zimmer verschwindet, öffnet Haidar die Ofentür und schaut nach dem Fleisch. Es braucht noch.

Die 35-jährige Ensaf Haidar führt ein Leben mit zwei Wirklichkeiten. Diese Wirklichkeiten sind sich mal ganz fern und mal verschwimmen sie. Auf der einen Seite hungrige Kinder, ein Backofen auf 180 Grad. Auf der anderen Seite ihr Ehemann, in einem Gefängnis fast 10 000 Kilometer von ihr entfernt. Die Kinder fragen nach ihrem Vater, der Vater fragt nach seinen Kindern. Und dazwischen Ensaf Haidar, die die Sehnsüchte beider Seiten bedienen und ihre eigenen ignorieren muss. Es ist der Versuch eines Alltages im Ausnahmezustand. „Die letzten drei Jahre zählen für mich nicht“, sagt Ensaf Haidar.

Unerschütterliches Engagement

Im Sommer 2012 wurde ihr Mann, der saudi-arabische Blogger Raif Badawi, verhaftet. Seither sitzt er in der Hafenstadt Dschidda im Gefängnis. Der 31-Jährige hatte sich auf seiner Website für eine liberale und säkulare Gesellschaft in Saudi-Arabien eingesetzt – und wurde dafür zu zehn Jahren Gefängnis, einer Geldstrafe von rund 250 000 Euro und 1000 Peitschenhieben verurteilt. Eine Todesstrafe auf Raten. In dem heute erscheinenden Buch „1000 Peitschenhiebe – Weil ich sage, was ich denke“ werden die mittlerweile gelöschten Blogeinträge des Aktivisten erstmals auf Deutsch zu lesen sein. In einem Vorwort schildert Badawi seine Erfahrungen aus dem Gefängnis und schreibt über die ersten 50 Schläge, die er Anfang Januar „auf wundersame Weise überlebte“.

Raif Badawi, 31, sah seine Kinder vor Jahren zum letzten Mal.
Raif Badawi, 31, sah seine Kinder vor Jahren zum letzten Mal.
© privat

Dass Raif Badawi heute einer der bekanntesten politischen Häftlinge der Welt ist, liegt auch am unerschütterlichen Engagement seiner Frau. Ensaf Haidar und ihre drei Kinder waren wenige Wochen vor seiner Verhaftung aus Saudi-Arabien geflüchtet. Erst in den Libanon, später nach Kanada. Dort leben sie seit Oktober 2013 im Asyl. Von hier aus kämpft Haidar für ihren Mann. Für eine Zukunft ihrer jungen Familie.

Zustand der ständigen Angst

Die Stadt Sherbrooke liegt 130 Kilometer östlich von Montreal, im Süden der französischen Provinz Québec. 150 000 Einwohner, kleine Siedlungen mit Mehrfamilienhäusern, hügelige Straßen mit Kiefern am Rand. Die Schneehaufen auf dem Bürgersteig sind mit einer Schmutzschicht überzogen. Ensaf Haidar sitzt im Wohnzimmer ihrer kleinen Souterrainwohnung auf einem Fußhocker mit blauem Lederüberzug. Auf der Couch neben ihr die Übersetzerin, auf dem Tisch drei Tassen schwarzer Tee. „Der Prozess gegen Raif könnte bald neu aufgerollt werden“, sagt Haidar. Die Informationen kämen von offiziellen Quellen des saudi-arabischen Königshauses. Ihr Gesicht verrät, dass es keine guten Nachrichten sind. „Mit einem neuen Richter ist auch ein härteres Urteil möglich. Raif droht jetzt die Todesstrafe“, sagt sie.

Ensaf Haidar ist erdrückende Sätze wie diesen gewohnt. Sie ist Sorge gewohnt. Ein Zustand der ständigen Angst, aus dem sie, wie auch immer, Energie zieht. „Ich gebe mein Bestes“, sagt sie, „treffe Politiker hier in Kanada, schreibe Politikern aus anderen Ländern, spreche mit Journalisten. Aber unterm Strich sitzt Raif immer noch im Gefängnis.“ Ihr Mann sei psychisch labil. „Es geht ihm gesundheitlich schlecht. Er leidet unter Bluthochdruck und hatte vor zwei Wochen starkes Fieber“, sagt Haidar. In unregelmäßigen Abständen darf der Familienvater in Kanada anrufen. Nie länger als ein paar Minuten. Seit Jahren.

"Ich bin froh, wenn er anruft. Sonst weiß ich nicht, was mit ihm ist."

„Er selbst spricht am Telefon kaum. Manchmal frage ich ihn: Was hast du gegessen? Und er antwortet nur: ,Was spielt das für eine Rolle?‘“ Die Gespräche seien oft tränenreich. „Als Raif festgenommen wurde, war unsere jüngste Tochter vier. Heute ist sie sieben. Alles an ihr hat sich in Raifs Abwesenheit verändert. Das macht ihn natürlich traurig“, sagt Ensaf Haidar. Die Kinder sind noch zu jung, um das ganze Ausmaß zu verstehen. „Aber sie kennen das große Bild. Sie wissen, dass ihr Vater ein Liberaler ist und deshalb im Gefängnis sitzt“, sagt sie. „Doch wenn sie ihn fragen, wann er wiederkommt, hat er keine Antwort. In solchen Situationen beendet er dann oft das Gespräch, weil er es nicht aushält.“

Sind die Telefonate die glücklichsten oder die schlimmsten Momente? „Ich bin froh, wenn er anruft“, sagt Haidar. „Sonst weiß ich nicht, was mit ihm ist.“

Das Telefon als einzige Verbindung. Es schließt sich ein Kreis. 15 Jahre ist es her, dass sich die beiden kennenlernten. Genauso zufällig wie romantisch. Die damals 20-jährige Ensaf Haidar sah eines Tages im Sommer 2000 eine unbekannte Nummer auf ihrem Telefondisplay. „Ich habe zurückgerufen. Da war Raif dran. Er hatte sich verwählt. Wir haben kurz nett geredet und dann aufgelegt.“ Badawi, damals 16, rief ein paar Tage später noch mal an. Und noch mal. Und noch mal. Er hatte sich in die Stimme der jungen Frau verliebt.

Bruch mit der eigenen Familie

Der Kontakt war verboten, das erste Treffen streng geheim. Haidar stand vor Badawis Wohnung in Dschazan, schaute zu dem jungen Mann mit den langen Haaren und dünnen Armen hoch. „Ich habe eine Blume durch sein Fenster geworfen“, erinnert sich Haidar und lacht vor allem mit ihren dunkelbraunen Augen. Dann steht sie auf, läuft zur TV-Kommode und holt ein Fotoalbum heraus, das neben den DVDs steht. Zwischen den letzten Seiten steckt eine vertrocknete Nelkenblüte. „Er hat sie aufgehoben. Es ist eine schöne Erinnerung“, sagt Haidar.

Sie zogen noch im selben Jahr zusammen. Ende 2001 die Hochzeit. Flitterwochen in Damaskus. 2003 kommt Tochter Najwa zur Welt, ein Jahr später Sohn Terad, den alle nur Dudi nennen, und 2007 wird Miriyam geboren. Badawi arbeitet zunächst als Immobilienmakler, leitet dann eine Sprach- und Computerschule. Sie leben ein glückliches Leben in Dschidda. Auch wenn Haidars frei gewählte Liebe den Bruch zur eigenen Familie bedeutet.

Der Beamte schlägt routiniert

2008 gründet Badawi zusammen mit der Journalistin Souad al Shammari das Online-Forum „Freie Saudische Liberale“. In seinen Beiträgen fordert der mutige Blogger Rechte für Frauen und Minderheiten. Und vor allem wehrt er sich gegen den Überlegenheitsanspruch des Islam. „Der liberale Staat ist ein Staat ohne Religion. Was nicht heißt, dass er atheistisch ist. Sondern, dass er die Rechte aller Religionen bewahrt“, schreibt Badawi. Für die saudische Regierung eine schwere Beleidigung. Apostasie – Abfall vom Islam. So steht es später in der Anklage. 2009 frieren Behörden sein Konto ein, verhängen eine Ausreisesperre. „Wir haben damals Morddrohungen bekommen“, sagt Haidar. Sie erinnert sich an den letzten Augenkontakt mit ihrem Mann. „Es war im Mai 2012. Raif hat uns zum Flughafen von Dschidda gebracht. Er meinte, wir seien im Libanon sicherer. Er wollte nachkommen.“ Wenig später wird Raif Badawi verhaftet. Als einen Beweis führt der Richter später im Urteil an, dass Badawi bei Facebook eine Seite für arabische Christen mit „gefällt mir“ angeklickt hatte.

Am 9. Januar 2015 wird Badawi nach dem Mittagsgebet vom Gefängnis in Dschidda auf den Platz vor der Al-Jafali-Moschee geführt. Er trägt eine schwarze Stoffhose, ein weißes Hemd, seine Arme sind gefesselt. Hunderte Zuschauer stehen um ihn herum. Dann beginnt ein Mann in Uniform, mit einem flexiblen Stock zu schlagen. Auf seine Schenkel, auf seinen Hintern, auf seinen Rücken. 50-mal. Der Beamte scheint routiniert, bei manchen Schlägen schaut er gar nicht auf sein Opfer. Ein Zuschauer filmt das Prozedere heimlich. In dem Video hört man jeden einzelnen Hieb. Viele Gefolterte fallen in Ohnmacht. Badawi bleibt regungslos stehen. Als die Bestrafung vorbei ist, rufen die Zuschauer „Allahu Akbar“. Die Auspeitschung wurde seither nicht fortgesetzt. Badawi gehe es körperlich zu schlecht, so die Begründung.

Die Unterstützung aus Deutschland ist sehr groß

„Ich habe mir das Video angeschaut“, sagt Ensaf Haidar. „Ich würde es nicht noch mal tun.“

In Saudi-Arabien müssen Frauen einen Schleier tragen. In Sherbrooke trägt Haidar einen lilafarbenen Kapuzenpullover mit Sternen, eine gebleichte Jeans und Winterstiefel mit Leopardenmuster. Sie ist eine zierliche Frau, kaum größer als ihr elfjähriger Sohn. Sie sitzt mit den Beinen übereinandergeschlagen, die Hände auf ihr Knie gelegt. Manchmal krümmt sie sich beim Sprechen nach vorne, sodass sie noch kleiner wirkt. „Es gibt nichts, was mich so richtig glücklich macht. Etwas Großes fehlt“, sagt sie.

Nach der Flucht hatte die Familie in mehreren Ländern um Asyl gebeten. „Aus Kanada kam die erste Zusage“, sagt Haidar. Sozialarbeiter organisierten eine Wohnung, halfen den Kindern in der Schule. „Sie bekommen dort auch psychologische Betreuung“, sagt Haidar. Und sie selbst? Haidar lächelt. „Meine Probleme sind gelöst, wenn Raif wieder da ist. Ein Psychologe kann mir also nicht helfen.“

Hilfe versprach sich Haidar von Sigmar Gabriel, dem deutschen Wirtschaftsminister und Vizekanzler. Gabriel war Anfang März mit einer Unternehmerdelegation nach Riad gereist und traf dort König Salman, den Nachfolger des im Januar verstorbenen Königs Abdullah. Ensaf Haidar schrieb Gabriel vorher einen Brief: „Ich weiß, dass Sie ein großartiger Mann, ein hingebungsvoller Vater und ein Menschenfreund sind. Ich bitte Sie, bei den saudischen Behörden dafür zu plädieren, meinen Mann freizulassen. Er soll ausreisen und in Kanada ein neues Leben mit mir und unseren drei Kindern beginnen. Sie vermissen ihn so sehr, dass es mir das Herz bricht.“

Immer wieder Demonstrationen

Tatsächlich machte der Vizekanzler den Fall Badawi zum Thema. Bewirkt hat es nichts. Ensaf Haidar ist dennoch dankbar: „Ich weiß zu schätzen, dass Herr Gabriel über Raif gesprochen hat. Die Unterstützung aus Deutschland ist insgesamt sehr groß. Wir bekommen viele Dinge zugeschickt.“ Postkarten, Schokolade, zuletzt eine CD: Mozarts Meisterwerke.

In Saudi-Arabien ist die Scharia fest in der Verfassung verankert. Es gibt weder Parteien noch Parlament und auch keine Gewaltenteilung. Frauen waren bei der letzten Wahl nicht zugelassen. Homosexuelle werden verfolgt. Streiks und Gewerkschaften sind verboten. Kriminelle werden regelmäßig enthauptet, im Jahr 2014 gab es mehr als 60 öffentliche Hinrichtungen. Dennoch ist Saudi-Arabien Mitglied im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen. Dennoch ist das Königreich einer der wichtigsten Verbündeten der USA. Dennoch ist das Land einer der bedeutendsten Handelspartner für die Bundesrepublik. „Die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Saudi-Arabien sind traditionell eng und im Allgemeinen spannungsfrei“, heißt es auf der Website des Auswärtigen Amtes.

Es laufen zwar Petitionen für eine Freilassung Badawis, es finden immer wieder Demonstrationen statt – zuletzt auch vor der saudischen Botschaft in Berlin –, und Organisationen wie „Amnesty International“ verurteilen die Politik des Golfstaates. Doch die wirklich Mächtigen ziehen keine Konsequenzen. Nach den „Charlie Hebdo“-Morden in Paris durfte die saudische Regierung sogar an einer Demonstration der Staatschefs für Meinungsfreiheit teilnehmen, in einer Reihe mit Merkel und Hollande. Nur zwei Tage vorher war Raif Badawi zum ersten Mal ausgepeitscht worden.

"In stillen Momenten ist es am schwersten"

In Sherbrooke, Kanada, versucht seine Frau, ein Leben zwischen internationaler Politik und den Problemen einer alleinerziehenden Mutter zu stemmen. „Ich bin manchmal überfordert, weil ich für so viel verantwortlich bin“, sagt Haidar. Genauso weiß sie, dass Beschäftigung das Leid erträglicher macht. Sie bringt ihre Kinder zur Schule und holt sie ab, kümmert sich um den Haushalt und trifft die wenigen Freunde, die sie bereits hat.

„Wenn ich alleine bin und es nichts zu tun gibt, in diesen stillen Momenten ist es am schwersten“, sagt Haidar. Ihre Kinder sollen sie nicht traurig sehen. „Wenn sie über Raif sprechen, wollen sie manchmal nicht, dass ich mithöre.“ Manchmal beobachte sie, wie Dudi in die Rolle seines Vaters schlüpft. „Er sitzt dann am Schreibtisch und tut so, als würde er Artikel schreiben. Er spielt Raif.“

An dem Nachmittag Ende März, als Badawi bei seiner Familie anruft und schnell seinen Sohn sprechen will, geht es um dessen Verhalten in der Schule. „Dudi hat einen Lehrer beleidigt“, erklärt die Mutter später. „Papa hat gesagt, ich soll auf meinen Lehrer hören“, sagt Dudi, als er aus seinem Zimmer zurückkommt.

In wenigen Jahren ist der Junge mit den schulterlangen, dunkelbraunen Haaren in dem Alter, in dem sein Vater war, als er seine spätere Ehefrau kennenlernte. An Dudis 16. Geburtstag wird sein Vater im Gefängnis sitzen. Wenn das jetzige Urteil Bestand hat.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

Zur Startseite