Hirnforscher Manfred Spitzer: "Kinder lernen besser ohne Computer"
Prügeleien auf dem Pausenhof, verzweifelte Lehrer, apathische Schüler. Manfred Spitzer wundert das nicht: Moderne Elektronik lasse die Jugend verblöden.
Manfred Spitzer, 49, ist Professor für Psychiatrie in Ulm und Ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik. In Fällen von Jugendgewalt tritt der Hirnforscher vor Gericht als Gutachter auf. Er kämpft gegen übermäßigen TV-Konsum, auch sein letztes Buch warnt: „Vorsicht Bildschirm!“
Herr Spitzer, von Ihnen stammt die Aussage, dass wir Westeuropäer in 30 Jahren die T-Shirts für China nähen werden. Was treibt einen Hirnforscher zu solcher Panikmache?
Das ist keine Panikmache, sondern die absehbare Folge unbestreitbarer Fakten. Der wirtschaftliche Erfolg eines Landes hängt letztlich vom Bildungsniveau ab, und das Bildungsniveau steht in direktem Zusammenhang mit dem Fernsehkonsum. Der massiv gestiegene Fernsehkonsum unserer Kinder bedroht – nach allem, was wir wissen – unsere wirtschaftliche Zukunft.
Was soll die Glotze mit der Bildung zu tun haben?
Es gibt Untersuchungen, die den Zusammenhang belegen. Eine der besten kam aus Neuseeland: Dort hat man mehr als 1000 Menschen vom Babyalter an 30 Jahre lang begleitet und auch ihren TV-Konsum dokumentiert. In der Gruppe, die im Alter von fünf Jahren weniger als eine Stunde täglich ferngesehen hat, haben heute mehr als 40 Prozent einen Hochschulabschluss; knapp zehn Prozent sind Schulabbrecher. In der Gruppe mit über drei Stunden Fernsehen täglich sind nur knapp zehn Prozent Hochschulabgänger, aber 25 Prozent Schulabbrecher.
Das sagt doch nur, dass die Dummen häufiger fernsehen und dadurch auch nicht klüger werden.
Man kann individuelle Faktoren wie den IQ oder die finanzielle Situation von Familien herausrechnen, und trotzdem bleibt der Zusammenhang zwischen TV-Konsum und Bildungsabschluss bestehen. Wenn man jetzt weiß, dass der TV-Konsum deutscher Kinder heute bei etwa drei Stunden am Tag liegt, dann sind diese Kinder vergleichbar mit jener „Verlierer“-Gruppe in Neuseeland. Sie können also leicht ausrechnen, wo wir in 30 Jahren mit unserem Bildungsniveau und unserer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit stehen.
Warum ist Fernsehen so schädlich?
Weil es die Gehirnentwicklung behindert. Als Metapher benütze ich dafür gerne die Spuren im Schnee: Im Gehirn laufen ständig Impulse über die Synapsen der Nervenzellen; das passiert schon im Mutterleib, wenn das Ungeborene seine Umwelt ertastet oder Geräusche hört. Wenn solche Impulse immer wieder ähnlich ablaufen, entstehen quasi Spuren, zunächst in den einfachen Arealen, dann in den komplexeren, und je öfter diese Spuren benutzt werden, umso mehr verfestigen sie sich, wie bei einem Trampelpfad im Tiefschnee. Diese Spurenbildung nennen wir Lernen.
Wäre da nicht gerade das Fernsehen mit seiner Überfülle an Geräuschen und Geschehen ein wunderbares Stimulans zur Spurenbildung?
So denken viele, aber das ist nicht der Fall. Denn aus dem Gerät quillt nur ein schlecht koordinierter Bild- und Ton-Brei. Der Ton kommt aus versteckten Lautsprechern und stimmt oft nicht mit dem Bild überein. Ein erwachsenes Gehirn kann diese Lücken von selbst füllen, weil schon genügend Spuren gelegt sind. Aber stellen Sie sich ein Babygehirn vor, das gerade erst dabei ist, den Tastsinn, den Hörsinn, den Geruchsinn zu kalibrieren, um überhaupt erst mal zu begreifen, was ein Objekt ist. Im Gehirn entstehen dadurch nur unscharfe Spuren.
Fernsehen macht nicht nur dumm, sagen Sie, sondern auch gewalttätig.
Genau, und zwar wiederum dosisabhängig: Je höher der Fernsehkonsum in jungen Jahren, umso höher die Gewaltbereitschaft, umso höher die Wahrscheinlichkeit, im Knast zu landen.
Da konstruieren Sie aber sehr zweifelhafte Kausalitäten.
Überhaupt nicht, die Datenlage aus unzähligen Studien ist überwältigend. Nur ein Beispiel: In den neunziger Jahren untersuchte man in den USA 700 Familien aus dem ländlichen Milieu – also die heile, religiös geprägte Welt der weißen Mittelschicht. Man hat den TV-Konsum der Kinder ermittelt und das mit der realen Gewalt anhand von Polizeiakten in Beziehung gesetzt. Und siehe da: Wer mehr fernsieht, taucht auch öfter in den Akten auf; das gilt auch für Mädchen und für die ursprünglich ganz Friedlichen, selbst die treibt das Fernsehen zu Gewaltausbrüchen.
Warum steigert das Fernsehen die Gewaltbereitschaft?
Wenn ein Amerikaner 18 ist, hat er im Schnitt 32 000 Morde im Fernsehen gesehen, bei Kabelanschluss sogar mehr. Diese Sinneseindrücke werden im Gehirn nicht einfach ablegt, sondern ständig weiter verarbeitet. Dazu muss man wissen, dass von zehn Millionen Verbindungsfasern von Nervenzellen im Gehirn nur eine einzige hinein- oder hinausführt, also sozusagen auf Außenkontakte angelegt ist. Die anderen 9 999 999 Verbindungen sind gehirninterne Verbindungen, über die äußere Eindrücke weiterverarbeitet werden. Und wenn Sie 32 000 TV-Morde intus haben, beschäftigt sich Ihr Gehirn zwangsläufig damit, ob Sie es wollen oder nicht.
Nur weil ein Gehirn TV-Morde verarbeitet, wird der Mensch noch lange nicht zum Mörder.
Natürlich nicht, aber alles, was wirkt, hat Risiken und Nebenwirkungen, auch das Fernsehen. Und meine Aufgabe ist es, darauf hinzuweisen. Der Zusammenhang ist ein statistischer.
Also alle Fernsehgeräte auf den Müll?
Nein, aber auf jeden Fall außerhalb der Reichweite von Kindern und Jugendlichen, so dass sie nicht wahllos und unkontrolliert viel schauen.
Wie halten Sie es denn mit Ihren eigenen Kindern?
Als unsere fünf Kinder noch kleiner waren, gab es fast jeden Abend Streit darüber, wer was sehen durfte. Ich war dieses Thema irgendwann leid, und meine Frau und ich haben dann entschieden, dass der Fernseher weg kommt.
Ihre Kinder können nie mitreden, wenn Freunde über Sendungen sprechen, die gerade „in“ sind.
Meine Kinder schauen schon mal bei den Nachbarskindern fern. Und das verbessert nicht nur ihr Wissen über gewisse Sendungen, sondern auch ihr soziales Verhalten. Da müssen sie nämlich freundlich klingeln und fragen, und im Gegenzug kommen oft die Nachbarskinder zu uns.
Gilt Ihre Ablehnung auch für Computer?
Ja, auch die tun der geistigen Entwicklung der Jüngeren nicht gut. Ich rate davon ab.
Aber man sitzt nicht nur passiv davor wie beim Fernseher.
Da bin ich sehr skeptisch. Zeigen Sie mir den Zwölfjährigen, der auf dem Computer keine blutigen Ballerspiele spielt. Und den 16-Jährigen, der nicht zu LAN-Partys will, wo sie nächtelang vor dem Gerät sitzen. Was Kinder und Jugendliche lernen müssen, lernen sie viel besser ohne Computer. Ich selber nutze ja das Internet als Wissenschaftler und weiß genau, wo es mir helfen kann und wo nicht, weil ich Vorwissen habe. Wenn ich aber als Schüler ganz am Anfang des Wissenserwerbs stehe, nützt mir das Internet sehr wenig, weil ich da sehr viel ungefilterten Schrott bekomme.
Sie würden alle Computer von der Schule verbannen?
Ich würde erst gar keine anschaffen und das Geld lieber für zusätzliche Lehrer ausgeben. Die Geräte veralten doch so schnell, dass man im Grunde in Müll investiert. In Baden-Württemberg haben wir letztlich mehr als 200 Lehrer-Stellen nur für die Administration der Computer, das ist ein Skandal. Die sollten besser mit den Kindern arbeiten.
Schule ohne Computer – damit ruinieren Sie die berufliche Zukunft vieler Kinder. Wenn die erst mit 18 anfangen, ist es längst zu spät.
Das ist nun wirklich Quatsch. Das Auto braucht man auch für viele Berufe, und trotzdem lernt man Autofahren nicht in der Schule. Aber Bill Gates hat es geschafft, dass seine Produkte Word, Powerpoint und Excel heute quasi zu Schulfächern erhoben wurden. Mein Sohn hat unlängst eine Note Abzug für ein Referat bekommen, nur weil er normale Folien zur Präsentation benützte und nicht Powerpoint. Wenn das nicht so skandalös wäre, müsste man Bill Gates dafür gratulieren.
Wenn Sie Schulminister wären, würden wir in 30 Jahren wirklich nur noch T-Shirts für China nähen.
Es ist genau umgekehrt: Wenn wir unsere Kinder schon mit zwölf so verdummen lassen, dann sind sie mit 19 gerade mal noch imstande, den nächsten Bildschirm aus China zu kaufen, weil sie kein Weltwissen mehr haben.
Was brauchen Kinder aus Ihrer Sicht als Hirnforscher?
Wir schauen den Gehirnen mit unseren Scannern ja bei der Arbeit zu, und am aktivsten sind sie, wenn Menschen mit Menschen zu tun haben. Ältere Menschen fragen mich oft, ob das tägliche Lösen von Kreuzworträtseln gutes „Gehirnjogging“ gegen Alzheimer sei. Meine Antwort lautet immer: Wenn Sie jeden Tag einen Enkel hüten würden, wär das für Ihr Gehirn besser, weil es stärker gefordert wäre.
Gilt das auch für Kinder?
Ja. Ein Beispiel: In einer Studie hat man Schüler gefilmt, die Bruchrechnen lernen sollen. In der US-amerikanischen Klasse erklärt der Lehrer, wie es geht und teilt dann Zettel mit Aufgaben aus, die jeder für sich allein lösen muss. In der japanischen Schule dagegen teilt der Lehrer die Klasse in zwei Gruppen, und jede Gruppe soll sich für die jeweils andere Gruppe Aufgaben ausdenken. Ist doch klar, was passiert: Die sind mit Eifer dabei, den anderen möglichst harte Nüsse zu geben – da laufen Impulse durch die Synapsen, dass es eine Freude ist.
Dass man mit Spaß besser lernt als ohne Spaß, ist doch eine banale Erkenntnis.
Ja, das ist banal, aber deshalb nicht falsch. Und wenn ich als Hirnforscher die Gelegenheit habe, diese Banalität durch neueste wissenschaftliche Erkenntnisse zu untermauern und wieder in Erinnerung zu rufen, dann mache ich das gerne. Die neurobiologische Forschung zeigt ganz klar, wie wichtig Aufmerksamkeit, Motivation und „affektives Mitschwingen“ sind. Wir wissen heute, dass die Lernfähigkeit unserer neuronalen Areale entscheidend mit dieser positiven affektiven Beteiligung des Lernenden zusammenhängt.
Warum schaffen es trotzdem so wenige Lehrer, diesen Spaß am Lernen in den Kindern zu wecken?
Die übliche Lehrerschelte in den Medien halte ich für ungerechtfertigt, es gibt sehr viele sehr gute Lehrer. Aber sie haben es auch nicht leicht. Früher mussten Kinder bei der Heuernte und beim Kartoffellesen helfen, da war Schule für sie eine spannende Alternative. Heute gilt alles andere als viel spannender und die Schule nur noch als langweilig. Für viele Schüler ist Schule heute eine unangenehme Unterbrechung ihrer Freizeit, und die besteht nun mal häufig aus Fernsehen und Computerspielen.
Allerschlechteste Lernvoraussetzungen also.
Ja. Freiburger Kollegen haben dazu vor einigen Jahren eine interessante Studie gemacht. An mehr als 200 Schülern maßen sie während 23 Stunden Herzfrequenz, Blutdruck und Hautwiderstand, also Größen, die über die emotionale Erregtheit Auskunft geben. Ergebnis: Während die Schüler immer wieder behaupten, sie hätten großen „Schulstress“, sind sie rein physiologisch kurz vor dem Tiefschlaf, ihre emotionale Beteiligung ist vollkommen am Boden. Am Nachmittag dagegen vor dem Bildschirm gehen die Emotionen rauf und runter, aber die Kinder sagen, sie würden sich dabei entspannen. Was können Lehrer noch tun, wenn sie vor dösenden, übermüdeten Kindern stehen, die erst wieder beim Computerspiel am Nachmittag richtig aufwachen?
Sie können doch Lehrer nicht pauschal von ihrer Verantwortung freisprechen.
Will ich auch nicht, die mit Abstand wichtigste Variable für den Lernerfolg ist der Lehrer. Aber die schwache Aufnahmebereitschaft und -fähigkeit der Schüler ist ein wichtiges Faktum.
Also?
An jede erziehungswissenschaftliche Fakultät einer Uni, an jede Pädagogische Hochschule gehört eine Schule, mittenrein, die Professoren und Studenten müssen täglich über Schüler stolpern.
Und dann würden die Lehrer besser?
In der Schule wird zu früh und zu schnell abstrahiert, es werden zu früh Regeln als Regeln vermittelt. Lernen heißt, Beispiele durcharbeiten oder selbst durch Handeln generieren, das Gehirn leitet daraus von selbst die Regeln ab. Die Grammatikregeln unserer Muttersprache lernen wir völlig unbewusst.
Ein Beispiel?
Meine Lieblingsregel der deutschen Grammatik lautet: Verben auf „-ieren“ bilden das Partizip ohne „ge-“: interessieren– interessiert; spazieren – spaziert. Das machen Sie richtig ohne nachzudenken.
Nun ja, diese Wörter haben wir halt als Kleinkinder gelernt. Das beweist noch nicht, dass unser Unterbewusstsein Regeln beherrscht.
Ich kann Ihnen beweisen, dass Sie die Regel beherrschen. Wie lautet das Partizip von „quangen“?
Gequangt.
Und von „patieren“?
Patiert.
Sehen Sie: Sie können Wörter beugen, die es nicht mal gibt. Ihr Gehirn hat nicht alle je gehörten Verben und ihre verschiedenen Formen in einer Excel-Tabelle gespeichert, sondern eine Regel gebildet, die Sie bei Bedarf richtig anwenden.
Fremdsprachen lernt man nicht so leicht. Wie unterrichtet man die am besten?
Falsch ist es, wenn man die Grundschullehrerin dazu zwingt, Englisch zu unterrichten, obwohl sie es nicht wirklich kann. Dann quält sie sich, was die Kinder nach fünf Minuten merken und die Regel verinnerlichen: Fremdsprache macht keinen Spaß. Und dann wird das natürlich auch mit dem Lernen nichts. Ganz anders, wenn man zum Beispiel einen Amerikaner hat, der den Sportunterricht auf Englisch macht.
Herr Spitzer, Sie schreiben Bücher, halten Vorträge, forschen, mischen sich in bildungspolitische Fragen ein. Ziemlich viel auf einmal.
Ich bin hoch motiviert, die Bildungslandschaft zu verändern, weil ich überzeugt bin, dass wir das Wissen der Hirnforschung noch viel besser nutzen können, nicht nur in den Schulen. Ich schaffe das alles auch deshalb, weil ich keine Minute vor dem Fernseher vergeude.
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