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Provozierender Titel. Das Cover des "Time"-Magazins hat eine Diskussion ausgelöst.
© dapd

Umstrittenes "Time"-Cover: Kampf um die Muttermilch

In den USA tobt ein Streit, ob Kinder noch mit drei Jahren gestillt werden sollten. Die Bewegung der "bindungsorientierten Elternschaft" hat vor allem einen Guru reich gemacht.

Der Junge trägt Tarnhosen und bunte Turnschuhe, steht auf einem Holzstuhl und nuckelt an der Brust seiner Mutter – das Cover des „Time“-Magazins sorgt in den USA für Furore, denn es ist nicht gestellt: Für Jamie Lynne Grumet, die 26-jährige „Mom“ ist es völlig normal, ihren Dreijährigen zu stillen. Amerika streitet mal wieder über die beste Art, Kinder aufzuziehen.

Interessanterweise widmet sich die Titelgeschichte des „Time“-Magazins in erster Linie einem Mann: Dr. Bill Sears, der 1992 „The Baby Book“ geschrieben hat, einen 767-Seiten-Wälzer, der ihn zum Guru einer ganzen Eltern-Generation gemacht hat.

Frauenthemen werden in den USA oft von Männern entschieden. In der Abtreibungsdebatte im Kongress hörten die Republikaner jüngst eine Expertengruppe, in der ausschließlich religiöse Männer saßen, und von Rick Santorums Wahlkampfspender Foster Friess gab es Verhütungstipps. Zu seiner Zeit hätten sich die Mädels „ein Aspirin zwischen die Knie geklemmt“, damit hätte es keine ungewollten Schwangerschaften gegeben, sagte der Alte und kam sich dabei unglaublich witzig vor.

Der 72-jährige Dr. Sears ist da bei Weitem seriöser, doch sorgt auch er für Aufregung. Seine Philosophie der sogenannten „bindungsorientierten Elternschaft“ hält einige Ratschläge bereit, die in eine moderne Welt nicht so recht passen. Das Stillen bis weit ins Kleinkindalter hinein ist eine Sears-Praxis, die auf Kritik stößt.

Zwar ist wissenschaftlich unstrittig, dass Muttermilch für Kinder am gesündesten ist. Auch ist klar und weithin akzeptiert, dass Babys im besten Falle in den ersten sechs Monaten ausschließlich an der Brust trinken. Doch danach sind medizinische Vorteile für Kinder nicht nachgewiesen. Mütter, die länger stillen, stoßen auf gesellschaftliche Probleme. Dr. Sears rät Müttern etwa, ihre Jobs aufzugeben, um sich über Jahre hinweg ausschließlich um die Kinder zu kümmern – das sei „von Gott geplant“, wie er 1997 in einem weiteren Erziehungsbuch schrieb.

Zu weiteren umstrittenen Vorschlägen des Gurus gehören das „child- wea ring“, das ständige körpernahe Herumtragen von Babys in Schlingen, oder das gemeinsame Schlafen in einem Bett, von dem viele Ärzte abraten. In Elternkursen wird regelmäßig vor der Gefahr gewarnt, dass sich schlafende Eltern etwa umdrehen und ihre Kinder versehentlich ersticken könnten.

Ein zentraler Punkt in der Philosophie des Dr. Sears ist die sofortige Reaktion der Mutter auf Babygeschrei. Längeres Weinen führe zu Hirnschäden, warnt der Kinderarzt, weshalb sich Mütter bei jedem Schrei umgehend um ihr Baby kümmern müssten. Tatsächlich sei das Panikmache, sagen Experten. Auch längere Schrei- und Weinperioden führen nicht zu Hirnschäden. Dr. Sears steht mit seiner Theorie nicht zuletzt im Widerspruch zu zwei Ratgebern, die im vergangenen Jahr für Furore gesorgt haben: „Die Mutter des Erfolgs“ von der chinesischstämmigen Amy Chua und „Bringing Up Bébé“ von Pamela Druckerman. Beide Bücher vertreten die Auffassung, dass Babys nicht ständig umsorgt werden müssen und so schneller selbstständig und später erfolgreicher sein können.

Abgeleitet sei die Sears-Theorie übrigens von einer Studie aus den fünfziger Jahren, wie Koautorin Martha Sears erklärt. Die Frau des Kinderarztes verweist auf „The Continuum Concept“ von Jean Liedlhoff, die bei einem Besuch in Venezuela beobachtet hatte, dass die Einheimischen ihre Kinder meist bei sich trugen und dass die Kinder weniger zu schreien schienen als zu Hause in den USA.

Erziehungsmethoden aus einer Gesellschaft auf eine andere zu übertragen, gilt wohlgemerkt als schwierig – nicht zuletzt in Bezug auf das Stillen. Dr. Sears verweist gerne auf Kulturen, in denen ausgedehntes Stillen bis ins Kindesalter normal ist. Das gilt allerdings überwiegend für Entwicklungsländer, in denen es keine gesunden Alternativen zur Muttermilch gibt. Mit den Gegebenheiten in der modernen Welt ist die Situation nicht vergleichbar.

Über die richtige Methode, Kinder aufzuziehen, gingen die Meinungen immer auseinander – das perfekte Konzept gibt es wohl nicht. Problematisch an Dr. Sears ist, dass er mit seiner Lehre Produkte verkauft, die ihn längst zum Multimilliardär gemacht haben. Sein Haus mit Pazifik-Blick ist der Sitz eines ganzen Imperiums, das längst nicht nur aus Büchern besteht. Gegen Bezahlung vergibt Dr. Sears sein Gütesiegel an Babyschlingen und alle möglichen Produkte, die das Stillen einfacher machen. Garantiert kein Gütesiegel gibt es für Produkte, die nicht in das Programm passen: Kinderwagen etwa, oder Babykrippen. Da kämen „Babys hinter Gitter“, schimpft der Arzt.

Finanziellen Erfolg an der Debatte hat indes nicht nur Dr. Sears, sondern auch das „Time“-Magazin. Mit der Geschichte hat man einen Nerv getroffen, mit dem provokanten Titel einer Auflagensensation geschaffen. An einem einzigen Tag habe man „so viele Abos verkauft wie sonst in einer ganzen Woche“, freut sich Chefredakteur Richard Stengel.

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