Freispruch: Kachelmann: Freier Mann zweiter Klasse
Jubel nach dem Urteilsspruch: Jörg Kachelmanns Schuld ist nicht zu beweisen, es steht Aussage gegen Aussage. Doch nachdem Richter Seidling seine Begründung vorgetragen hatte, wurde es sehr still im Saal. Es ging um Wahrheit – und den Schmerz, sie nicht zu finden.
Am Ende lässt er sich seine Spannung nur durch das anmerken, was er nicht tut. Verzichtet auf die in über 40 Prozesstagen eingeübte Charmegeste, seiner Verteidigerin Andrea Combé in die Robe zu helfen. Spart sich Freundlichkeiten mit Anwalt Johann Schwenn, die ihn zwängen, die ernste Miene aufzulösen. Gefasst will Jörg Kachelmann sein, ernst, respektvoll, den Rücken gerade, wie stets in Anzug und Krawatte. So betritt er kurz nach neun Uhr am Dienstagmorgen den Saal, so lässt er sich fotografieren. Dann müssen die Kameras raus, die Nebenklägerin und Zeugin Claudia D. kommt, jene Frau, von der Kachelmanns Anwälte sagen, sie habe eine Lügenfalle zuschnappen lassen.
Zwei Minuten später ist Kachelmann freigesprochen. Zuschauer jubeln, es gibt Applaus. Claudia D. dreht ihnen den Rücken zu, kauert sich in ihren Stuhl; schließlich fließen Tränen. Der Vorsitzende Michael Seidling ärgert sich ein letztes Mal. „Ich will meinen Tenor in Ruhe verkünden.“ Dann folgt die Abrechnung eines Richters, wie sie in einem deutschen Gerichtssaal selten erlebt wird. In der jeder sein Fett wegbekommt, Kachelmann, Anwalt Schwenn, die Nebenklägerin, die Medien. Nur die Staatsanwaltschaft und Anwältin Combé, die verschont er.
Ausgerechnet Seidling. Der freundliche Herr mit Glatze und Schnauzer, der, die Pensionsgrenze im Blick, im Verfahren so oft unsouverän wirkte. Dem man Voreingenommenheit vorwarf, weil er Kachelmann in U-Haft lassen wollte. Der sich von Anwälten und Medien verprügeln lassen musste, weil er im Namen der Wahrheitsfindung ein Dutzend von Kachelmanns Freundinnen vorlud – die in der fraglichen Tatnacht erwiesenermaßen an anderen Orten weilten und nicht in der Schwetzinger Wohnung, wo sich, nach Darstellung der Ankläger, zwischen Küche, Couch und Bett eine brutale Vergewaltigung abgespielt haben soll.
„Es gibt viel zu sagen, ich will mich auf Wesentliches beschränken“, leitet Seidling die Urteilsbegründung ein, kommt dann auf den Grundsatz „in dubio pro reo“, spricht von der Begrenztheit menschlicher Erkenntnis, der hilfreichen, aber ebenfalls beschränkten Einsicht, die Gutachter vermitteln könnten. Aber es ist etwas anderes, das ihn treibt: „Der Kammer zu unterstellen, sie sei nicht bestrebt, die Wahrheit herauszufinden und sie stattdessen mit dem Vorwurf zu überziehen, sie verhandle, bis Belastendes herauskomme, ist schlicht abwegig. Im Ergebnis wird damit meinen Kollegen und mir jegliche Professionalität und jedes Berufsethos abgesprochen. Es bleibt der ungerechtfertigte, dem Ansehen der Justiz schadende Vorwurf im Raum stehen, Richter seien bei Prominenten bereit, zu deren Lasten Objektivität, richterliche Sorgfalt und Gesetze außer Acht zu lassen.“
Es ist jetzt still geworden im Saal. Seidling wendet sich den Staatsanwälten zu, allen voran Lars-Torben Oltrogge, dem man nachsagt, er habe sich ehrgeizig in den Fall verbissen und von einer verleumderischen Nebenklägerin auf die falsche Fährte führen lassen. „Gerade der vorliegende Fall steht in seiner Komplexität exemplarisch dafür, dass mit vertretbaren Erwägungen unterschiedliche Sichtweisen denkbar sind.“ Den Staatsanwälten deshalb aber pflicht- oder gesetzeswidriges Verhalten zu unterstellen sei eines Strafprozesses unwürdig.
Sichtweisen? Die Öffentlichkeit erwartet klare Worte. Schuld oder Unschuld. Keine Sichtweisen, die hat sie selbst. Nur ist es genau das, worum es in einem Strafprozess gehen kann, zumal wenn Aussage gegen Aussage steht, wenn, allem voran, die Straftat einzig darin besteht, einen entgegenstehenden inneren Willen zu brechen und sonst nichts eine vollendete Vergewaltigung von einem alltäglichen Geschlechtsakt unterscheiden muss.
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Die Sichtweise, die die Staatsanwälte gerade „in der Gesamtschau“ von der Schuld Kachelmanns überzeugt, sie wird vom Gericht nicht geteilt. Außerhalb der Angaben von Claudia D. sei „kein Beweismittel objektiv geeignet, die Schuld des Angeklagten zu belegen“.
Auch wenn, das stellt der Richter ausdrücklich heraus, beide, Angeklagter und Zeugin, die Unwahrheit gesagt hätten. Claudia D. mit ihren Lügen und Ausflüchten rund um ihre Darstellung, wie sie von Kachelmanns Affären erfahren haben will. Auch Kachelmann habe falsch ausgesagt, als er vor dem Haftrichter erzählte, D. sei für ihn nur eine Art ritualisierter Sexkontakt gewesen. „Widerlegt“ nennt Richter Seidling das, er spreche hier bewusst „von einer Beziehung“. Kachelmann habe ein „seismografisches Gespür“ für Frauen gehabt und an ihnen seine „manipulativen Fähigkeiten“ erwiesen. Wie wohl auch an Claudia S.. Viel früher als ihren Geliebten Kachelmann muss sie ihren Stolz, den Respekt vor sich selbst verloren haben.
Mitte 20 war sie und bei einem Schwetzinger Lokalradio, als Kachelmann, damals ein Interviewpartner, ihr Plüschaugen machte. Zwölf Jahre ist das her. Er, damals der flotte Newcomer, der mit lockeren Sprüchen das verbeamtete Wetterritual aufbrach, machte Eindruck.
Dem ersten Date folgten leidlich regelmäßige Treffen. Kachelmann spielte den künftigen Ehemann, den Claudia D. sich so sehr wünschte. Dass sich das Ersehnte nicht erfüllte, muss sie bemerkt haben in all den Jahren. Trotzdem glaubte sie seinen Schwüren.
Intelligent, aufstrebend, aufgeschlossen, das waren die Adjektive, mit denen man Claudia D. rückblickend auf jene Jahre nun beschrieb. Unehrgeizig, häuslich, anspruchslos, das sei „die andere Seite“ der Frau, ätzte Andrea Combé in ihrem Plädoyer. Tatsächlich hatte sich die Frau in ihren Erwartungen eingerichtet. Die Wirklichkeit bog sie zurecht oder leugnete sie. Die Träume waren stärker.
Bis zu jener Nacht im Februar, als sie Kachelmann mit seinem Doppel- und Vielfachleben konfrontieren wollte. Als es den verhängnisvollen Streit gab.
20. März 2010, Flughafen Frankfurt. Jörg Kachelmann kehrt aus Kanada zurück, er hatte bei den Olympischen Spielen mitmoderiert. Eine Geliebte holt ihn ab, eine Studentin. Innige Küsse, dann klicken Handschellen. Zwei Tage später verkündet die Staatsanwaltschaft unter der Überschrift „Haftbefehl gegen Moderator“, einem Journalisten werde Vergewaltigung vorgeworfen, der Tatverdacht habe sich erhärtet. Jörg Kachelmanns Name ist längst bekannt, er ist erledigt.
So sieht er es jedenfalls. Und so wird er sich gefühlt haben in der Untersuchungshaft. Zwei Monate später erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage. Spricht vom „Moderator Jörg Kachelmann“, der seine langjährige Freundin mit einem Küchenmesser „Klingenlänge 8 cm“ zum Geschlechtsverkehr gezwungen haben soll. Auch von Todesdrohungen ist die Rede.
Der Prozess hatte noch gar nicht begonnen, als er schon entschieden schien. „Der Spiegel“ durfte Einblick in Ermittlungsunterlagen nehmen, vermutlich hatte Verteidiger Reinhard Birkenstock zuvor erklärt, worauf es ihm ankam: das Gutachten der Bremer Psychologin Luise Greuel. Die Passagen, die sich mit dem Angeklagten beschäftigten, wurden im Bericht ausgespart, dafür publizierte man das Explorationsergebnis zur Glaubhaftigkeit der Belastungsaussage. Lückenhaft, nicht belastbar, hieß es, jedenfalls nicht mit der vor Gericht erforderlichen Zuverlässigkeit. Der Aussagefetzen einer forensischen Spezialwissenschaft, geschickt lanciert, wie er war, verfehlte die angepeilte Wirkung nicht. Kachelmann, der mutmaßliche Täter, könnte Opfer sein. Von Claudia D. Von der Justiz, die ihr bedingungslos zu folgen schien.
Das Landgericht Mannheim eröffnet Anfang Juli unbeeindruckt das Hauptverfahren und terminiert den Prozess auf September. Doch für Kachelmann nähert sich der Tag der Freiheit. Ende Juli ist Birkenstock am Oberlandesgericht Karlsruhe mit einer Beschwerde erfolgreich. Nach 132 Tagen Haft präsentiert sich ein Kachelmann in veränderter Verfassung. Sichtbar schlanker umarmt er seine Bewacher aus der JVA, lächelt in Kameras. In Interviews erzählt er rasiert und in gebügeltem Hemd vom sozialen Zusammenhalt im Knast, von Mitgefangenen, die sich bei ihm ausgeweint hätten.
Es geht sich leichter in ein Gerichtsverfahren als freier Mann. Es wird der Moment gewesen sein, in dem ihm sein Anwalt Birkenstock Hoffnungen auf einen Freispruch gemacht hat. Sollte Kachelmann ein Vorverurteilter gewesen sein, so fiel das Stigma jetzt langsam von ihm ab.
In keinem Moment der Verhandlung ließen die Richter erkennen, welcher Seite sie zuneigten. Bis gestern. Da zeigte Seidling, wie sehr ihn das Plädoyer von Kachelmanns Anwältin Andrea Combé beeindruckt hat. Er ist ihm bis in die Wortwahl gefolgt, als er sich abarbeitet an den Indizien, die sich bis zuletzt nicht zur Gewissheit formen wollen.
Da ist ein Tampon, am Rückholfaden die DNA Kachelmanns, nur konnte sich der daran nicht mehr erinnern. „Ohne Aussagekraft“, urteilt Seidling. Das Verletzungsbild beim angeblichen Opfer, Hämatome, Kratzer am Bauch, die Halswunde. Dafür aber keine Genitalverletzungen. „Das lässt nicht zwingend auf eine Fremdeinwirkung schließen, aber auch nicht zwingend auf eine Selbstbeibringung. Die Kratzspuren indes seien mit einem „dynamischen Ablauf“ nicht zu vereinbaren, die Nebenklägerin könne sie manipulativ erzeugt haben. Doch sage das auch nichts darüber aus, ob eine Vergewaltigung stattgefunden habe oder nicht.
Dann das Messer. Dass sich Kachelmanns DNA-Spuren befanden, habe „hohe Wahrscheinlichkeit“. Doch der Schluss, er habe es der Frau an den Hals gedrückt, sei „nicht zwingend“. Auch reinigt der Richter den Angeklagten vom Verdacht, er pflege sexuelle „Grenzüberschreitungen“. „Kachelmann beachtet die Grenzen“, auch wenn er sie auslote, das hätten andere Zeuginnen bestätigt. „Er hat keine Neigung zu Gewalt.“
Noch ein Dritter sollte bekommen, was er nach Meinung von Richter Seidling verdient. Anwalt Schwenn. Ende November war der für seine Streitlust bekannte Verteidiger mehr oder minder über das Verfahren hereingebrochen, nachdem Kachelmann die defensive Strategie seines Vorgängers Birkenstock zu viel geworden war. „Die Verdachtsmomente“, sagte Seidling, „haben sich auch ohne Zutun der Verteidigung im Laufe der Verhandlung abgeschwächt.“ Schwenn, der gemeint habe, allen auf die Finger klopfen zu müssen, habe es an Respekt missen lassen. Vor Gericht – nicht, wenn man sonst mit ihm spreche.
„Wir entlassen den Angeklagten und die Nebenklägerin mit einem möglicherweise nie mehr aus der Welt zu schaffendem Verdacht, ihn als potenziellen Vergewaltiger, sie als potenzielle rachsüchtige Lügnerin.“ Und dann wendet sich Seidling an alle, Verfahrensbeteiligte und Öffentlichkeit: „Unterstellen Sie die jeweils günstigste Variante für Herrn Kachelmann und für Frau D., und führen Sie sich dann vor Augen, was beide möglicherweise durchlitten haben. Nur dann haben Sie den Grundsatz ,in dubio pro reo’ verstanden“.
Kein Applaus, als Seidling nach einer Stunde die Verhandlung schließt. Stattdessen betroffene Stille. Schwenn sortiert schweigend seine Krawatten im Koffer. Gleich wird er rausgehen und das letzte Wort haben, wie immer.
Jost Müller-Neuhof
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