ISS-Astronaut Alexander Gerst: „Jeder Mensch braucht einen Rückzugsraum“
Viele Menschen leiden unter der Isolation angesichts des Coronavirus. Ein Gespräch mit Astronaut Alexander Gerst über „social distancing“ auf der ISS.
Alexander Gerst, 43, geboren im baden-württembergischen Künzelsau, ist Geophysiker und Astronaut bei der Europäischen Raumfahrtagentur ESA. Von Mai bis November 2014 und von Juni bis Dezember 2018 verbrachte er insgesamt 362 Tage auf der Internationalen Raumstation ISS.
Herr Gerst, hier in Berlin können wir noch in den Park gehen, wenn uns die Decke auf den Kopf fällt. Im Weltraum konnten Sie das nicht so einfach. Was haben Sie gemacht, wenn das Hüttenfieber kam?
Auf der ISS hatten wir diese Momente zum Glück nicht. Wir waren freiwillig dort und gut vorbereitet. Es gab aber Momente, die kritisch waren. Zum Beispiel als die Rakete, die neue Crewmitglieder bringen sollte, fehlstartete. Jede Vorfreude auf unsere neuen Kollegen löste sich in Luft auf. Es war unklar, wie lange sich unsere Mission verlängern würde. Es herrschte eine ähnliche Ungewissheit, wie wir sie im Hinblick auf Corona auch erleben.
Ich habe damals versucht, Unsicherheiten aufzufangen und noch mehr nach meinen Crewmitgliedern zu schauen. Wir haben darauf geachtet, Mittag- und Abendessen zusammen einzunehmen. Ich habe auch ein paar Überraschungen eingebaut, zum Beispiel eine Halloweenparty. Jeden Samstagabend machten wir einen Filmabend.
Viele Menschen in diesem Land und weltweit fühlen sich derzeit isoliert angesichts der Ausgangsbeschränkungen und der Einschränkungen, andere Menschen zu treffen. Können Sie das nachempfinden?
Das kann ich sehr gut. Wir konnten die Isolation auf der ISS gut auffangen, weil wir wussten, dass sie eine Gefahr ist. Ich bin ein Mensch, der gerne Zeit mit anderen Menschen nutzt, wenn er sie hat. Derzeit arbeite ich von zu Hause und habe eine Liste mit Dingen, die ich erledigen muss. Ich habe auch viele private Projekte, die für Wochen reichen. Was auf der ISS wirklich entscheidend war, ist die Kommunikation. Deswegen finde ich den Begriff „Social Distancing“ auch so unglücklich.
Wir sind zwar körperlich voneinander getrennt, aber umso wichtiger ist es, dass man dies auffängt. Zum Beispiel, indem man häufig telefoniert, ob nun mit Freunden oder Familienmitgliedern. Man weiß nicht, wie lange diese Situation anhält, deswegen sollte man sich mit ihr einrichten und schauen, dass man das Beste draus macht. Und wenn es bedeutet, die Terrasse neu zu streichen.
Auf der ISS haben Sie gemeinsam mit Serena Auñón-Chancellor und Sergej Prokopjew in einer Dreier-WG gelebt. Wie sind Sie und Ihre Mit-Astronauten mit Meinungsverschiedenheiten umgegangen?
Wir waren auch mal unterschiedlicher Meinung. Aber wir haben es nie in Streit ausarten lassen. Wenn man von Anfang an den Standpunkt des anderen als Bereicherung ansieht, kann man auch über kontroverse Dinge reden. Natürlich birgt das Leben im Orbit Probleme, die auch auf der Erde auftreten würden. Da lässt jemand vielleicht etwas liegen, was dem anderen im Weg ist. Dann kann man es beim nächsten Mal anders machen.
So geht es mir auch hier mit meiner Familie in der Wohnung: Wenn man lange zusammen im selben Raum ist, muss man aufeinander aufpassen. Zum Beispiel sollte man sein Geschirr nicht einfach stehen lassen und wenn man es stehen lässt, dann sagt man, dass es einem leidtut. Oder man räumt auch mal Dinge weg, die nicht einem selbst gehören. Eine Einstellung nach dem Motto „Tust du mir das an, tu ich dir das an“ wäre der falsche Weg.
Würden Sie sagen, der Aufenthalt auf der Raumstation hat Ihnen etwas gebracht für das Familienleben, besonders jetzt in der Quarantäne?
Das würde ich so nicht behaupten. Aber ich habe davor als Student zehn Jahre lang in Wohngemeinschaften gewohnt. Das hat mich mit Sicherheit sehr gut vorbereitet für das Leben im All – und für das auf der Erde.
Wie sind Sie im All mit der Situation umgegangen? Entwickelt man bestimmte Routinen oder Strategien, um sich abzulenken?
Für mich war der Sport sehr wichtig. Zweieinhalb Stunden war ich täglich aktiv, auf dem Laufband, Fahrrad oder einem Crosstrainer, hörte Serien oder guckte dabei Serien und konnte gut abschalten. Was aber genauso wichtig war: die Möglichkeit, sich zurückziehen zu können. Jeder Mensch braucht einen Rückzugsraum. Für uns waren das die Schlafkabinen. Das Interessante ist: Fast nie hat sie jemand geschlossen. Denn wenn man um die Möglichkeit weiß, sich zurückziehen zu können, ist die Notwendigkeit gar nicht mehr so groß. Das halte ich auch derzeit für wichtig, wenn man in Quarantäne oder von Ausgangssperren betroffen ist.
Wie sah denn Ihr Tagesablauf auf der Raumstation aus?
Wir haben versucht, den Tagesablauf so ähnlich wie auf der Erde zu gestalten. Wir lebten in einem 24-Stunden-Tag – auch wenn die Sonne in dieser Zeit 16 Mal auf- und wieder untergeht. Wir arbeiteten von 7.30 bis 19.30 Uhr, montags bis freitags. Danach aßen wir und hatten dann jeweils eine Stunde für uns selbst – um E-Mails zu schreiben, mit der Familie zu telefonieren oder um einfach nur aus dem Fenster zu schauen. Am Samstag wurde geputzt, der Sonntag war relativ frei. Ich hatte die Angewohnheit, immer die „Shutter“, eine Art Außenvorhang, zu schließen, wenn die Raumstation auf der dunklen Seite der Erde war, ebenso, wenn ich ins Bett ging. Der Mensch ist eben ein Gewohnheitstier.
Am Donnerstag nehmen Sie am Programm des Asteroid Days teil. Welche Tipps können Sie den Menschen mitgeben?
Die Tipps für Jugendliche und Kinder sind denen für Erwachsene nicht so unähnlich. Ich finde es wichtig, Zeit sinnvoll zu nutzen, sich Neues anzueignen – zumindest mir hat das immer viel gegeben. Zum Beispiel über die Asteroiden, die im Weltall fliegen. Gerade war ich drei Monate in der Arktis, habe insgesamt 346 Asteroiden gesammelt, Bruchstücke größerer Himmelskörper. Dabei geht es letztlich darum, Methoden zu entwickeln, dass größere Asteroiden später nicht Kurs auf die Erde nehmen und dieser gefährlich werden. Dafür sind wir auf die nächste Generation von Ingenieuren angewiesen, auf ihre Kreativität.
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