Panorama: Ihr Silbenrätsel
Allein verreisen, das traut sie sich nicht – aus Angst, den falschen Zug zu nehmen. Im Lokal bestellt sie, was die anderen haben. Die Post vom Amt beantworten Freunde. Denn sie kann kaum lesen, kaum schreiben. Alltag in einem Land, das über den Bildungsgipfel diskutiert
Hoffentlich Mau-Mau, hatte sie gedacht. Oder Mensch-ärgere-dich-nicht. Nichts Kompliziertes jedenfalls. Irgendein Spiel, das sie kennt. Bitte.
Als ihr Freund erzählte, dass sie beide zu einem Spieleabend eingeladen waren, hatte sie überlegt, sich mit einer Ausrede aus der Affäre zu ziehen. Nur ihm zuliebe hat sie sich dann doch überreden lassen.
Jetzt zittert die Hand, mit der sie die Karte hält. Nadine Walters Befürchtungen sind wahr geworden. Kein Mau-Mau, kein Mensch-ärgere-dich-nicht, kein Spiel, das sie beherrscht. Trivial Pursuit. Vier Augenpaare starren sie an. Nadine Walters Wangen glühen vor Scham.
Sie konzentriert sich auf die Buchstaben, versucht zu lesen. Sie kennt und hasst diese Momente. Sie ärgert sich über ihren Freund, der sie hierhergebracht hat. Sie ärgert sich über sich selbst, dass sie mitgegangen ist. Sie ist wütend über die ungeduldigen Blicke. Sie starrt auf die Karte. Sie erkennt Silben. Ein einzelnes Wort. Ihr Mund öffnet sich, doch sie spricht nicht. „Wird’s bald?“, sagt ein Mitspieler. Die Karte fällt auf den Tisch. Nadine Walter steht auf. „Ist deine Freundin blöd, oder was?“, fragt einer aus der Runde, während sie geht.
Nadine Walter ist Analphabetin. Eine von Millionen in Deutschland. Ihre genaue Zahl kennt niemand. Offiziell rechnet man mit vier Millionen, je nach Studie reichen die Schätzungen jedoch von zwei bis zu sieben. Kürzlich hat eine Untersuchung ergeben, dass alleine in Berlin 164 000 Menschen leben, die nicht richtig schreiben und lesen können.
Wirklich große Studien sind aber nie gemacht worden. Auch auf Angela Merkels Bildungsgipfel am Mittwoch war Analphabetismus „kein explizites Thema“, wie eine Sprecherin des Bundesforschungsministeriums es ausdrückt. Kein Wunder, sagen Experten. Da diese Menschen weder wirtschaftlich noch sozial einflussreich sind, fallen ihre Bedürfnisse schnell unter den Tisch. Gerade mal 1500 Plätze in Alphabetisierungsmaßnahmen gibt es in Berlin. „Alarmierend“, findet Özcan Mutlu, bildungspolitischer Sprecher der Grünen. Der Senat solle eine Arbeitsgruppe einrichten. Es müsse endlich etwas getan werden.
Das macht der Neuköllner Verein „Lesen und Schreiben“ schon seit 25 Jahren; so lange gibt es die gemeinnützige Einrichtung in einer ruhigen Nebenstraße der Karl-Marx-Straße. In einem Klassenraum kippelt Nadine Walter auf dem Holzstuhl. Ein paar Schultische stehen im Raum. Am Kopfende hängt eine grüne Tafel. Seit die 34-Jährige wieder einen Aushilfsjob verloren hat, lernt sie hier. Täglich von 8 bis 15 Uhr 30. Das Jobcenter zahlt die Kurse.
Nadine Walter ist, was die Forschung einen funktionalen Analphabeten nennt: jemand, der ungefähr die Lesekompetenz eines Zweitklässlers hat, aber von der Lektüre einer Tageszeitung überfordert ist, von Amtsschreiben, Bewerbungsbögen oder Mietverträgen ganz zu schweigen. Sie sind die größte Gruppe unter den Analphabeten in Deutschland. Menschen, die nicht einmal die Buchstaben kennen, weil sie nie eine Schule besucht haben – primäre Analphabeten – sind hierzulande fast ausschließlich unter geistig Behinderten oder Ausländern zu finden.
Gerade hat Nadine Walter Pause. Sie trägt einen grauen Fleece-Pulli, die glatten rotbraunen Haare als Pferdeschwanz, kein Make-up. Ihre schlanken Beine stecken in hellen Jeans. Ins Café wollte sie nicht. Sie will nicht, dass Fremde mitbekommen, dass sie Probleme mit dem Lesen hat. Reaktionen wie beim verunglückten Spieleabend bekommt sie oft zu spüren. Deshalb möchte sie ihren wirklichen Namen auch nicht in der Zeitung sehen.
Nadine Walters Leben ist ein ständiger Kampf zwischen Selbstbestimmung und Abhängigkeit. Doch sie will sich nicht kleinkriegen lassen: „Ich mache einfach“, sagt sie. Wenn sie Rezepte nicht versteht, improvisiert sie. Beim Kochen ist das einfacher als beim Backen. Weil sie die Uhr nicht richtig lesen kann, macht sie nur Verabredungen zur vollen Stunde. Sie schreibt auch SMS. Wenn die Empfänger dann sagen, sie bräuchten ein Wörterbuch, um die Nachricht zu entziffern, ist sie nicht sauer. „Manchmal kann ich ja selbst nicht mehr lesen, was ich geschrieben habe.“ Sie lächelt scheu. Dann zieht sie ein kleines Ringbuch aus der Umhängetasche, schlägt eine Seite auf und reicht es zögernd über den Tisch. Sie wird ein wenig rot. Mit blauem Kuli gemalte Buchstaben stehen dort. Ein Gedicht.
„Ein Leben ist
so sin los wie es
trenen flisen werden
oder wis es Becher
flisen werden wen
das ales auhört
zu flisen ist es
vor bei mit der Liebe
und Schmerzen“
Während sie auf eine Reaktion wartet, spielt sie mit einem silbernen Ring an ihrer linken Hand. „Ich war mal verlobt“, sagt sie. „Wir haben zusammengewohnt, aber er ist schon vor zehn Jahren gestorben.“ Den Ring hat sie nie ausgezogen.
Heute lebt sie mit dem Vater ihrer siebenjährigen Tochter. Wie alle Analphabeten braucht sie einen Vertrauten.
Sie war gleich ehrlich zu ihm. „Setz dich, ich muss dir was sagen“, hatte sie ihm nach ein paar Tagen gesagt. Er setzte sich. Schweigen. „Ich kann nicht lesen“, sagte sie schließlich. Wieder Schweigen. „Wenn du ein Problem damit hast – da ist die Tür.“ Er blieb. Und er half.
Als ihre Tochter noch ein Baby war, malte er Markierungen aufs Fläschchen, weil sie die Milchpulververpackung nicht lesen konnte. Heute hilft er ihr, wenn Post kommt, macht ihre Überweisungen. Er kauft auch ein. Nadine Walter traut sich nicht in den Supermarkt. Außer einfachen Plus- und Minusaufgaben kann sie nicht rechnen. Geht sie doch einmal, zahlt sie alles mit einem 50-Euro-Schein, damit es garantiert reicht. Ob das Wechselgeld stimmt, kann sie nie sagen. Sie packt alles schnell ein und verlässt den Laden. Eine kleine Flucht. Jedes Mal.
„Manchmal ist es schön, dass sich jemand so um einen kümmert“, sagt Nadine Walter. „Manchmal ist es aber auch belastend.“ Kürzlich sind Freunde nach Polen gefahren, da ist sie mit. Alleine hätte sie das nicht gekonnt. Sie hat kein Auto und auch keinen Führerschein.
Sie würde mit ihrer Tochter auch gerne mal ans Meer fahren. „Ich wünsche mir, dass die Kleine sieht, wie Muscheln aussehen“, sagt sie. Doch sie macht sich Sorgen, bei der Reise in den falschen Zug zu steigen, hat Angst vor der Hotelsuche, vor Restaurantbesuchen in einer fremden Stadt. Geht sie mit Freunden essen und versteht die Speisekarte nicht, kann sie immer sagen: „Das hätte ich auch gern.“ Alleine geht das nicht.
„Fast alle Analphabeten sind in gewissem Maße von Bezugspersonen abhängig, die ihnen im Alltag helfen“, sagt Urda Thiessen, eine der Leiterinnen von „Lesen und Schreiben“. Sie sitzt im Lehrerzimmer. In der Mitte steht ein dunkler Holztisch, in den Regalen stapeln sich bunte Schulbücher. Sie trägt eine braune Strickjacke, raucht eine selbst gedrehte Zigarette. Sie wirkt müde. „Manche nutzen diese Abhängigkeit aus“, sagt sie. Sie erzählt von Ehemännern, die ihren Frauen das Lernen verbieten wollen, damit sie nicht zu selbstständig werden.
Beibringen könne sie jedem noch etwas, sagt sie. Man dürfe sich jedoch keine Illusionen machen. Dass jemand nach einem Jahr Unterricht plötzlich Verträge aufsetze, das gäbe es nicht. Sie drückt die Zigarette aus. Ein Erfolg wäre es aber schon, wenn sie es schaffe, den Leuten ein neues Selbstbewusstsein mitzugeben. Viele Analphabeten leiden unter ihrer Schwäche. Schämen sich, leben in Angst, mit Depressionen.
„Die Gründe, aus denen manche Menschen nie richtig Schreiben und Lesen gelernt haben, sind zahlreich“, sagt Urda Thiessen. Lernbehinderungen, Lehrer, die sich nicht kümmern, nicht entdeckte Hörprobleme, Klassen, in denen Schüler einfach mit durchgeschleift werden, Eltern, die das Problem ignorieren. Sie kenne auch Fälle, da verweigerten Kinder das Lesenlernen aus Trotz. Sei die Schulpflicht absolviert, verschlimmere sich das Problem häufig noch. Durch mangelnde Übung vergäßen sie dann das Wenige, das sie gelernt hätten.
Sie versteht, dass viele Leute sich fragen, wie das überhaupt gehen kann: dass jemand zehn Jahre zur Schule geht und trotzdem nicht Lesen lernt. Muss nicht jeder Tests schreiben? Klausuren? Diktate?
„Viele werden erfinderisch“, erklärt sie. Werden immer zur Prüfung krank. Fast alle Analphabeten landen deshalb früher oder später auf Sonderschulen. Nach zehn Jahren gibt es ein Abgangszeugnis. Häufig steht darauf die Note „o. B.“ – ohne Beurteilung. Was sollten die Lehrer auch machen? Jedes Mal Sechser verteilen?
Auch Nadine Walter war auf einer Sonderschule. Bei ihrer Geburt habe sie kurze Zeit zu wenig Sauerstoff bekommen, erzählt sie. Deshalb falle ihr das Lernen generell schwer. Sie guckt ein wenig trotzig. Ihr Ringbuch hat sie wieder an sich genommen und hält es fest in den Händen. Die erste Klasse auf einer normalen Grundschule hat sie zweimal besucht, bevor sie wechseln musste, sagt sie. Gab es Diktate, bereitete sie Spickzettel vor. Gab es Tests, schrieb sie einfach drauflos. Irgendwas. Die Lehrer konnten nichts lesen. „Ohne Beurteilung“ stand auch bei ihr darunter. Fast jedes Mal. Zehn Jahre lang.
Ihren ehemaligen Lehrern macht sie keinen Vorwurf. „Ich lerne halt langsam“, sagt sie. Und dass sie es nun trotzdem nochmal versuchen möchte. Vor allem für ihre Tochter. Wegen des Meeres. Weil sie ihr etwas vorlesen will. Sie erinnert sich noch genau, wie sie mit ihr und dem Kinderbuch dasaß und dachte, dass ihre Tochter wohl schon bald besser lesen kann als sie selbst.
Eine dauerhafte Arbeit zu finden, fällt ihr so sehr schwer. Unterstützung würde einem zwar häufig versprochen, aber dann passiere nichts, sagt sie. Mit 20 begann sie eine Ausbildung zur Garten- und Landschaftsbauerin. Am Anfang hieß es immer, bei den schriftlichen Prüfungen werde ihr jemand helfen. Als es so weit war, saß sie alleine am Pult. Sie fiel durch. Später fing sie eine Schreinerlehre an und musste abbrechen, weil sie mit den Bauplänen, den Maßen nicht umgehen konnte. Sie jobbte für 1,50 Euro die Stunde in Kitas, half in der Küche, konnte die Bedienungsanleitung des Ofens nicht lesen. Sie improvisierte wieder. Machte einfach. Klappe auf, Ofen an. „Das Essen war immer pünktlich gar“, sagt sie. Irgendwann wurde ihre Stelle gestrichen.
„Ist alles nicht leicht“, sagt sie und seufzt. Und demnächst könnte es noch etwas schwieriger werden. Ihr Freund will ausziehen, erzählt sie. Sie ist ein wenig ratlos. „Er will mit mir zusammenbleiben, aber wie soll das denn aussehen?“
Einfach aufgeben will sie trotzdem nicht. Sie will weiter zu Schule gehen. Ihr Freund hat versprochen, er hilft weiterhin, sagt sie. Und wenn nicht – irgendwo habe sie noch die alten Muster für ihre Überweisungen, sagt sie. Dann geht sie eben wieder alleine zur Bank und kopiert die Buchstaben und Zahlen auf die leeren Vordrucke. Monat für Monat. Zeile für Zeile. Einfach machen eben.
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