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Meißen: Hoch die Porzellantassen

Bringen Scherben Glück? In Meißen wurde kürzlich teuerstes Geschirr zerschlagen. Weil die weltberühmte Porzellanmanufaktur 300. Geburtstag feierte? Oder aus Kalkül?

Alles geht in Scherben, Tassen und Teller, ganze Tafelservice. Und das in der ältesten Porzellanmanufaktur Europas. Feiert sie so ihren 300. Geburtstag? Oder ist das Rambo im Porzellanladen? Lärmempfindliche Meißener holen die Polizei. Doch die wusste alles schon vorher: keine Angst, das sei gar nicht Rambo im Porzellanladen, sondern die Manufaktur selbst. Sie zerschlägt ihr eigenes Geschirr. So weit die Nachrichten dieser Woche.

Haben die noch alle Tassen im Schrank?

Der echte Rambo hingegen betrat kürzlich gedämpften Schritts die Berliner Meissenfiliale. Sylvester Stallone kaufte statt eines Elefanten im Porzellanladen zwei Löwen und vier Möpse mit Halskette, für mehrere zehntausend Euro. Vielleicht gehörten die Urmöpse einmal der Madame Pompadour, die ihre Hunde in Meissener Porzellan porträtieren ließ. Was einmal in Meissener Porzellan gebrannt wurde, ist unsterblich. Keine Form kommt weg. Aber Scherben bringen Glück?

Morgens um acht Uhr auf der Meißener Albrechtsburg, kurz vor dem Porzellanmassaker. Die kleine Stadt frühstückt gerade, doch Christian Kurtzke, 41 Jahre alt, steht schon in dunklem Abendanzug bei gedämpfter Musik in festlich beleuchteten, porzellanschimmernden Gemächern und breitet hausherrlich die Arme, bereits wacher als alle Meißener zusammen. Er ist der Herr des Porzellans und der Hüter des unverkäuflichen Porzellanbergs seines Vorgängers. Prosaisch gestimmte Geister nennen ihn den Meissen-Sanierer. Wie die fast 200 Entlassenen dieses Sommers ihn nennen, wagen wir nicht zu vermuten.

Die Musik und das Licht sind für die taiwanesische Delegation. Luxus ist keine Frage der Tageszeit, wohl aber der Präsentation. Der spätere Hauptscherbenverantwortliche überblickt zufrieden sein unendlich filigranes Reich und erklärt so ruhig wie bestimmt: „Meissen geht nicht auf die Ambiente!“ Die Ambiente ist die große Frankfurter Inneneinrichtungsmesse. Vielleicht glaubt Meissens erster Geschäftsführer, allein die Tatsache, dort Nachbarn zu haben, verzerre auf bedenklichste Weise die Realität.

Meissen steht ganz für sich und vollkommen allein. Kurtzke fasst seine Wettbewerbsfähigkeit so zusammen: „Wir sind konkurrenzlos!“ Es klingt gar nicht überheblich, eher wie das nüchterne Konstatieren eines Sachverhalts. Aber wie passt das zusammen: Meissen, seine 300 Jahre, der Polterabend und die drei großen „K“: Konkurrenzlosigkeit, Kurtzke, Krise? Und wieso kommen sogar die Ostasiaten in die Kleinstadt bei Dresden, um hier Porzellan zu kaufen? Schließlich haben sie das schon viel früher erfunden.

Kurtzke spricht über August den Starken, welcher sich einst ein „Porzellanschloss“ bauen ließ. Audienzsaal, Thron, Orgel, alles aus Porzellan. So war es geplant. Auch von außen: Meissener Porzellan! „Nun, was wollte der Kurfürst uns, den Spätgeborenen, den Erben, damit wohl sagen?“, fragt Kurtzkes triumphierender Blick. Vielleicht, dass die wahre Bestimmung des Meissener Porzellans gar nicht die Tasse, sondern die Außenwandverkleidung sowie die Inneneinrichtung ist?

„So ist es“, bestätigt der Vorsitzende der Geschäftsführung, und ein Ausdruck großer Befriedigung erscheint auf seinem Gesicht. In solchen Augenblicken kann er seinen ererbten Geschirrberg vergessen. Dabei seien Porzellanwandverkleidungen nur der Anfang. Künftig soll fast alles, was zur stark gehobenen Wohnkultur gehört, in Meissen gefertigt werden. Das ist Kurtzkes kurze Antwort auf die Tasse in der Krise.

Seit 2000 ist der Umsatz der Manufaktur eingebrochen, von 42 Millionen auf nur noch 31,5 Millionen acht Jahre später. Das Geschäftsjahr 2008 schloss mit minus sechs Millionen und vollen Lagern. Aber der Umsatzeinbruch traf bei weitem nicht nur die älteste Manufaktur Europas. Sprechen wir von der Porzellankrise!

Es handelt sich dabei um die Auswirkungen einer elementaren, in ihren Ausmaßen noch unbegriffenen Kulturrevolution: um den Untergang der klassischen Tisch- und Tafelkultur.

Je gehobener der Mittelstand, desto größer, wertvoller und unabdingbarer waren die Tafelservice. Ein Statussymbol. Der jung-dynamische Vertreter des Mittelstands heute dagegen weiß, dass er streng genommen nur eine Tasse und einen Teller im Leben braucht. Nicht einmal die dauerhafte Verwendung eines zweiten Gedecks ist mehr gesichert. So ganz allein am Tisch könnte ein Tafelservice für 24 Personen im Schrank ihn melancholisch stimmen. Das ist die Porzellan-Krise.

Noch 30 Minuten bis zur Ankunft der taiwanesischen Opulent State Life Corporation. Der Morgenkaffee wird gebracht, in den neuen Meissener Erfolgstassen „White Wedding“. Rein weiß, zartes Mäanderband, expressiver Henkel. Kurtzke will die jungen Leute erpressen. Mit Geschmack! Und Single-Tassen. Er hat auch schon aus einer Schreibschale August des Starken ein Sushi-Gefäß machen lassen. Dieses Weiß ist eine Revolution für Meissen, sagt Kurtzke, „und erschwinglich für Leute wie dich und mich“. August der Starke hätte die Tassen, so einfältig einfarbig, gewiss für Halbfabrikate gehalten. Und dennoch, selbst auf Erfolgstassen und Sushischalen lässt sich keine Manufaktur mehr gründen. Auch nicht auf die Russen, die die alten Barock-Service kaufen, je barocker, desto besser.

Das Badezimmer ist da ein ganz anderer Ansatzpunkt. In seinem Badezimmer befindet sich der Mensch nur selten mit 24 Personen auf einmal; hier ist er so allein wie in Wirklichkeit auch und doch zugleich Weltmittelpunkt. Was also liegt näher, als sein Badezimmer mit Meissener Porzellan unsterblich zu machen? Das einzig Vergängliche darin wären fortan wir selbst. Kurtzke hat die Wand am Fahrstuhl in der Albrechtsburg schon mal mit Porzellan täfeln lassen. Unpoliert, fugenlos verlegbar, hundert Prozent wasserdicht! Es gibt kein besseres Material. Natürlich kommt das Kaolin, besonders weiß, aus Meissens eigenem Bergwerk, dem kleinsten Bergwerk Europas. Zwei Bergleute! Und der Boden vorm Fahrstuhl ist probeweise aus tiefbraunem Böttgersteinzeug. „1708 erfunden, wartet es seitdem, unternehmerisch entdeckt zu werden“, sagt Kurtzke. Terrakotta sei Unsinn dagegen. Den Italienern hat er das auch schon mitgeteilt, und die sehen das ein. Ja, die ganze Welt soll es erfahren, weshalb schon im nächsten April die „Villa Meissen“ öffnen soll, und zwar in Mailand, der Welthauptstadt der Inneneinrichtung, pünktlich zum Beginn der Möbelmesse. Natürlich nicht auf, sondern neben der Messe, gebührend nachbarlos.

Zehn Uhr. Die Taiwanesen kommen. Der Präsident der Opulent State Life Corporation, Herr Chin Kuo Luan, seine Geschäftsführerin Frau Chiu Hua Chin, der Präsidentensohn Ryan Luan, verantwortlich für einige Fachgeschäfte in und um Taipeh, sowie ihre Assistenten treten achtlos auf das Böttgersteinzeug am Fahrstuhl, achten nicht auf das unpolierte, fugenlos verlegbare, einhundert Prozent wasserdichte Porzellan an der Wand und bleiben erst dicht vor einer Vase für 75 000 Euro stehen. Die gehört zur neuen Fine-Art-Exklusivkollektion. Kurtzke breitet wieder die Arme und vergisst auch eine artige Neigung des Oberkörpers nicht.

Asien hat einen Anteil von 30 Prozent am Meissener Umsatz; Japan und Taiwan sind die besten Kunden. In Japan ist Meissen die bekannteste Nobelmarke überhaupt. Dabei stierten die Europäer noch in ihre biergefüllten Steingutbecher, als die Asiaten längst Tee aus feinstwandigen Tassen tranken.

Chin Kuo Luan, Chiu Hua Chin und Ryan Luan gehören zu den ersten Menschen überhaupt, die Kurtzkes nagelneue Kollektion sehen dürfen, deren Kernstück wiederum die unglaubliche Vase ist. Herr Chin Kuo Luan wird sie bald mit schönheitsverwöhntem Blick einfach in die Hand nehmen und umdrehen. Doch Frau Chiu Hua Chin schaut nicht hin, sie ist gerade abgelenkt von einer kleinen Dose, auf der ein Barock-Hase sitzt. Die Dame in der roten Strickjacke lächelt: „Und nächstes Jahr haben wir das Jahr des Hasen!“

Erst Ende 2008 hatte Kurtzke die defizitäre Manufaktur übernommen, der 300. Geburtstag stand bevor. Die Panik vibriert noch immer in seiner Stimme, wenn er sagt: „Und wir hatten keine Innovation!“ Nervös betrat der Sanierer die Archive seines neuen Betriebs und wurde von Blick zu Blick ruhiger. Er sah in eine Schatzkammer. Welch unendliche, in die Hunderttausende gehende Bestände an Formen und Mustern und Farben. Ja, nicht nur das europäische Porzellan, auch die Farben, um auf Porzellan zu malen, wurden in Meißen erfunden. Kurtzke brauchte nur noch mit dem Finger nach links und rechts zu zeigen. Etwa auf eine 1728 geschaffene Tischuhr.

Überm Zifferblatt sitzen zwei filigran gezeichnete weise Chinesen, und darunter halten zwei Wache. Warum die Uhr nicht wiederauflegen, zehn Stück, als Jubiläumsedition? Kurtzke nennt solche nur in Meissen wiederholbaren Einmaligkeiten „Ikonen“. Und dazu präsentierte er im letzten Herbst im Ballsaal des Berliner Adlon Stücke aus dem weltweit bekannten Schwanendesign. Und eine unglaubliche Teekanne, besetzt mit weißen Schneeballblüten, durchzogen von warm goldenen Zweigen. Jeder Porzellansammler kennt den Namen Johann Joachim Kaendler, der dieses Dekor schon 1739 erfand.

Aber den Taiwanesen sind noch ganz andere Namen geläufig: „Ah, die Vase hat gewiss Herr Andreas gemacht!“ Oder: „Die Wandschale muss von Herrn Mehner sein.“ Manchmal folgen Bemerkungen wie: „Aber sein Stil hat sich doch etwas verändert!“ Die Rede ist von gegenwärtigen Mitarbeitern der Manufaktur, den Porzellanmalern. Es gibt die Fischmaler, die Hasenmaler, die Obst- und die Blumenmaler, wobei die Blumenmaler schon wieder in die Rosenmaler, die Mohnmaler und immer so weiter zerfallen. In Asien selbst ist die Manufakturtradition der Porzellanherstellung längst verloren gegangen.

Aber der Beruf des Porzellanmanufakturmalers ist riskant. Nicht nur, dass es bloß einen Ort auf der Welt gibt, wo man ihn in dieser Form erlernen kann. Es gibt auch nur einen Ort, an dem man ihn in dieser Form ausüben kann. Am Ende der DDR beschäftigte die Manufaktur 1800 Mitarbeiter. Meissens langjähriger Direktor hatte sich noch im Frühjahr 1989 in den Westen abgesetzt. Um den Mund des Betriebsrats Peter Kohl, seit 1975 in der Manufaktur, steht ein leises, böses Lächeln: Wer zu früh geht, den bestraft das Leben!

Vielleicht ist Meissen die einzige DDR-Firma, die fast schwebend über die Wende gekommen ist. Sie hatte statt Ostkunden vor allem Westkunden, und: „Wir hätten noch viel mehr verkaufen können.“ Da der Nachfolger des republikflüchtigen Direktors noch keine Gelegenheit gehabt hatte, viel falsch zu machen, überstand er die Vertrauensfrage.

Bis zur großen Tassenkrise nach 2000 ging alles gut. Aber auch jetzt hatte der Direktor nicht vor, kurz vor der eigenen Rente den Leuten mit unfreundlichen Entlassungen im Gedächtnis zu bleiben. Das überließ er seinem Nachfolger, also Kurtzke. Und vererbte ihm den Tassenberg. So traf es die Meissener in diesem Sommer, 20 Jahre nach der deutschen Einheit, im 300. Jahr der Manufaktur zum ersten Mal wirklich hart. Entlassungen in allen Bereichen von der Verwaltung bis zu den Porzellanmalern. Und der Aufsichtsrat fasste den Polterabend-Entschluss, einstimmig. Das ist angewandter Kapitalismus. Der Meißener Oberbürgermeister, der als mitbeschließendes Aufsichtsratsmitglied selbst Weg-mit-den-Tassen! gerufen hat, forderte nun öffentlich Aufklärung. Man nennt das auch Politik. Die Zeitungen berichteten von einer „Nacht- und Nebelaktion“ der Zerstörung. Man nennt das auch Journalismus. Hätte Kurtzke das Geschirr lieber als Quasi-Castor-Transport heimlich wegschaffen lassen sollen? Oder es nach Haiti verschenken? Etwas in uns wird immer solidarisch sein mit den alten Tassen, in denen so viel Arbeit steckt. Aber noch alle Tassen im Schrank zu haben, bedeutet für Kurtzke vor allem: niemals zu viele!

Auch der Betriebsrat Peter Kohl hat die neue Kollektion noch nicht gesehen, als die Taiwanesen da sind. Sie ist so exklusiv, dass es nicht einmal einen Katalog gibt. Oder doch, es gibt einen, aber der ist selbst ein Kunstwerk und nicht käuflich. Er wird nur den besten Kunden persönlich überreicht, solchen wie Chin Kuo Luan, Chiu Hua Chin und Ryan Luan.

Meissener Porzellan soll Studien zufolge sogar schon Gold als Kapitalanlage überflügelt haben. Die Uhr Chronos 300, die vor einem Jahr 100 000 Euro kostete, besitzt bereits jetzt einen Wiederverkaufswert von 130 000 Euro. Sie schlägt für ihn, weiß Kurtzke. Der Patriarch der Taiwanesen hat die Vase längst als legitime Nachfolgerin der Uhr identifiziert und steht berührt vor einem kleinen chinesischen Pagodenjungen, dessen Urbild vor fast 300 Jahren in Sachsen entstand. Auch das ist Globalisierung. Das verlorene Eigene kehrt zurück. Aus der Fremde.

Kerstin Decker

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