Deutschlands älteste Miss Germany: ''Hitler war kein guter Klavierspieler''
Die Männer lagen ihr zu Füßen – auch Hitler lud sie zu einem Empfang in die Reichskanzlei. Die 96-jährige Daisy d’Ora ist die älteste noch lebende Miss Germany und lebt heute in einem Münchner Altersheim.
Fotos können grausam sein. Ein Lächeln, Blitzlicht, dann bist du ein Schönheitsideal, sie drucken dein Foto tausendfach und du lächelst dein Leben lang, ob du willst oder nicht. An jenem Maiabend 1931 wurde Daisy d’Ora nicht nur Miss Germany – sie wurde eine deutsche Ikone. G.W. Pabst rief sie, Remarque beschwatzte sie, die Comedian Harmonists besangen sie, Hitler spielte für sie Klavier.
Es war damals wohl etwas anderes als heute. Auch in der vergangenen Nacht wurde wieder eine Miss Germany gekürt, aber wen interessiert das heute schon.
Was müssen das für Zeiten gewesen sein. Als Daisy von Freyberg wurde sie geboren, als Daisy d’Ora berühmt. Heute heißt die 96-Jährige Daisy Schlitter, ist die älteste noch lebende Miss Germany und lebt in einem Münchner Altenheim. Auf dem Sofa in der Lobby lehnt sie sich auf ein Kissen, ein Bein auf ihre Gehhilfe gelegt. Ein Haarreif thront auf ihrem schneeweißen Haar. Die Baronesse ist eine Adelige aus einer längst untergegangenen Welt. Zwischen tiefen Falten blitzt aus ihren leuchtend blauen Augen etwas von dem jungen Mädchen hervor, dem damals ganz Berlin zu Füßen lag.
Über ihr Leben möchte sie nicht sprechen. „Zu lang, zu kompliziert.“ Sie ziert sich, will überredet werden, wie damals, als sie ein Star wurde. Wenn, dann müsse solch eine Geschichte „colourful“ erzählt werden, mahnt die weitgereiste Baronesse, und beginnt.
Der erste Mann, von dem sich Daisy überreden ließ, war Georg Wilhelm Pabst. Der große G.W. Pabst, der berühmte Stummfilmregisseur, der mit Diven wie Greta Garbo, Louise Brooks oder Maria Callas arbeitete. Es war 1928, das Publikum forderte deutsche Geschichten, die jungen Medien brauchten deutsche Figuren. Auf einem Foto sah Pabst die 15-jährige Daisy mit ihren blonden Zöpfen und bot ihr bald darauf eine Rolle an.
200 Reichsmark pro Drehtag verdiente sie. Ihre Mutter, eine verarmte Gräfin aus Estland, bekam gerade 300 Mark Witwenrente im Monat. „Eine Adelige zum Film – welch ein Niedergang!“ Daisy schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. Heute sind Filmschauspieler Stars, damals haftete ihnen etwas Anrüchiges an. „Hätte ich zehn uneheliche Kinder gehabt, das wäre für meine Familie nur halb so schlimm gewesen.“ Die von Freybergs waren ein altes Adelsgeschlecht, das sich nachsagen ließ, es stamme von Aphrodite ab, der Göttin der Liebe und Schönheit. Nie hätten sie diese Blamage geduldet. Ein Künstlername musste her: Sie war adelig, ihr Haar war golden, also taufte Pabst sie Daisy d’Ora. Ihre erste Rolle hatte sie in „Die Büchse der Pandora“. Heute gilt das Werk neben „Metropolis“ und „Nosferatu“ als Klassiker der Stummfilmzeit, damals löste der frivole Film einen Skandal aus. Binnen 24 Stunden musste Daisy die Mädchenschule in Potsdam verlassen, die Familie kochte vor Wut. In den Kantinen der Filmateliers aß Daisy damals mit Marlene Dietrich, sie machte Werbung für Elida Kosmetik und Regatta-Zigaretten, ihre Plakate hingen den ganzen Kurfürstendamm entlang. Die Comedian Harmonists sangen verzückt: „Hallo, was machst du heut’, Daisy?“ Daisy wohnte in einer kleinen Wohnung mit ihrer Mutter. Morgens um sieben holte sie ein Auto zum Dreh ab und brachte sie abends zurück. In den Pausen las sie Goethe und Schopenhauer. Sie träumte davon, Kunst zu studieren, bevor man sie aus der Schule warf.
Der zweite Mann, der Daisy überreden konnte, war der spätere Botschafter Oskar Schlitter. Er lud sie ins Pelzer ein, damals eines der teuersten Restaurants Berlins. „Wissen Sie, ich bin es gar nicht gewohnt, so gut zu essen“, sagte Daisy. „Dann lade ich Sie noch einmal ein“, sagte Schlitter. Das Paar blieb lange beim „Sie“, schließlich verlobte man sich. Unterdessen drehte sich der Wind in Berlin, die Nazis kamen an die Macht. Die blonde, blauäugige Daisy wurde für Hans F. K. Günthers Buch der Rassenkunde vermessen, ob sie arisch-nordischen Maßen entsprach. Sie konnte es nicht fassen: Ausgerechnet sie, aus einem alten Adelsgeschlecht kommend, sollte das Schönheitsideal der Nazis verkörpern.
Der dritte Mann, der Daisy d’Ora überreden konnte, war Adolf Hitler. Er lud zu einem Empfang in die Reichskanzlei. Sie habe sich nicht getraut, Nein zu sagen, sagt Daisy. Hitler spielte auf einem Flügel für die Damen der hohen Gesellschaft. Er war kein guter Klavierspieler. Daisy tat das, was sie so oft für die Männer tat: „Ich musste dasitzen und lächeln.“
Daisy heiratete schließlich den Diplomaten Schlitter. „Ich war erleichtert, dass Hitler da nicht mehr an der Macht war“, sagt sie, obwohl sie von den dreißiger Jahren spricht. Zeiten vermischen sich in der Erinnerung, an vieles hat sie seit Jahren nicht mehr gedacht. Sie erzählt in Zirkeln, sagt oft zwei, drei Mal dasselbe, bevor sie wieder den Faden aufnimmt. Wenn Daisy sich erinnern will, dann presst sie fest beide Augen zu, als wolle sie die schwindenden Bilder festhalten. Es sei zehn Jahre zu spät, um ihre Geschichte zu erzählen, sagt sie, und dann erzählt sie weiter.
Im Laufe der Jahrzehnte folgte Daisy ihrem Mann nach New York, London, Madrid, Athen. Nur während des Krieges leitete sie ganz allein ein Gut in der Nähe von Regensburg. In dem zugehörigen Schloss richtete sie nach Kriegsende ein Kinderheim ein.
1970 erleidet ihr Mann mit 66 Jahren einen Herzinfarkt und stirbt in ihren Armen. Nach dem Tod ihres Mannes lebte sie über dreißig Jahre in dem Schloss, bei den Heimkindern. Ihre Tochter starb mit 50 an Krebs, von ihrem Sohn hat sie sich entfremdet. Was bleibt, sind Erinnerungen.
Der vierte Mann, von dem sich Daisy überreden ließ, war der Schriftsteller Erich Maria Remarque. Es war ein Abend im Mai 1931. Ein befreundeter Baron hatte Daisy zum Abendessen ins Berliner Luxushotel Eden eingeladen. Ein Laufsteg war aufgebaut, ein Mann ging von Tisch zu Tisch und fragte die Damen, ob sie bei einer Misswahl mitmachen wollten. „Sind Sie verrückt, wie kommen Sie darauf?“, sagte Daisy, als er sie ansprach. Von Miss Germany hatte die damals gerade 18-Jährige noch nie etwas gehört.
An jenem Abend aß Remarque allein am Nebentisch. Er bat Daisy zu sich und sagte: „Wissen Sie, wenn Sie da gewinnen – und daran habe ich keinen Zweifel – kriegen Sie tausend Mark.“ Bevor sie sich versah, lief sie mit ihrem hellblauen, geblümten Seidenkleid und hochgesteckten blonden Haaren über den Laufsteg und lächelte. Das Publikum klatschte, und plötzlich war sie Miss Germany. Statt einer Krone bekam sie einen Tausendmarkschein in die Hand gedrückt.
Im Sommer 1931 lud man sie zur Miss-Universe-Wahl nach Texas ein. Das Publikum wählte Daisy zur Siegerin, die Veranstalter kürten Miss Belgium. Eine Deutsche als Miss Universum, das ging nicht, auch 13 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg nicht. Fast 70 Jahre später sollte sie wieder eine Bühne betreten, 1999 lud man sie ein, die Ausstellung „Miss Germany – eine schöne Geschichte“ in Köln zu eröffnen. Doch Daisy hatte keine Lust mehr. „Das ist doch nüscht mein Leben, das ist doch nüscht mein Niveau!“, ruft Daisy, der hin und wieder das Berlinerisch ihrer Kindheit durchrutscht. „Ich wurde da überall nur hineingezogen“, sagt sie heute. Von Pabst, von Remarque, den Nazis. Draußen vor dem Heim, in dem sie seit einigen Wochen lebt, geht grauer Nieselregen nieder. „Es ging doch nie um Schönheit. Da hieß es: Die ist mein Typ, die ist nicht mein Typ – so war das.“ Ihr Aussehen sei ihr selbst nie wichtig gewesen. Ihr Lebenswerk, das seien nicht Filme und Schönheitskronen, sondern das Gut, das Heim, die Kinder. Dort war sie endlich sie selbst, baute etwas mit eigenen Händen auf, lächelte für sich und die Kinder, nicht für andere.
Mit der Lupe, die sie um den Hals trägt, betrachtet Daisy ein altes Bild von sich: 15 Jahre, ein scheues Lächeln. „Diese Unbefangenheit, diese selbstverständliche Hinnahme der Dinge“, seufzt sie, und legt das Bild weg.
Dann, am Ende, die Bitte, ein Foto zu machen. „Die Leute wollen wissen, wie sie heute aussieht, hm.“ Sie stützt sich auf ihr Gehwägelchen, kneift skeptisch ein Auge zu und schüttelt schließlich den Kopf. „Nein, man soll mich in Erinnerung behalten, wie ich damals war.“
Aber Daisy lässt sich überreden.
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